Der militante Islamismus tritt am 6. Oktober 1981 auf die Weltbühne. Bei einer Militärparade in Kairo stoppt ein Lastwagen vor der Tribüne, mehrere Attentäter springen heraus und feuern mit Sturmgewehren. Vor laufenden Kameras wird der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat von Kugeln durchsiebt. Die Attentäter sind Islamisten der Gruppe Al-Dschihad. Sie hoffen, mit der Ermordung des Präsidenten eine islamische Volksrevolution auszulösen. Vergebens.
Bereits zwei Jahre zuvor war mit der Islamischen Revolution im Iran Ayatollah Khomeini an die Macht gekommen; er rief die Islamische Republik aus. Zwei Phänomene drängten hier an die Oberfläche: einerseits die islamisch begründete Gewalt als Kampfmittel und andererseits ein Staat, der alle Lebensbereiche mit der islamischen Tradition durchdringen will. Der Islamismus jedoch ist deutlich älter. Der Jenaer Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker sieht die Wurzeln im 18. Jahrhundert. Doch an den Anfang seiner klar strukturierten und auch für Laien gut lesbaren Monografie stellt er eine Begriffsklärung, da er keine allgemein anerkannte Definition des Islamismus vorgefunden habe.
"Ich habe mich selber stattdessen entschlossen, eine vielleicht etwas blasse Definition zu wählen, als Bestrebungen, verschiedene Bereiche - wie etwa Politik, Gesellschaft und Kultur und Staat - umzugestalten, im Sinne von Werten, die als islamisch angesehen werden."
Die Ursache des Islamismus sieht Seidensticker vor allem in der nicht überwundenen Kränkung, die die Muslime hinnehmen mussten, als ihr einstmals so rasant gewachsenes Herrschaftsgebiet schrumpfte und an Einfluss verlor.
"Der Anfang ist das Gewahrwerden von Fremdbestimmung auf politischem Gebiet, konkret gesagt: koloniale Dominanz der Briten und auch in etwas geringerem Ausmaß auch der Franzosen. Es kommen dann in der Folgezeit noch weitere Momente hinzu, die Kernpunkte liegen bei ökonomischen und sozialen Missständen, die eng verbunden sind mit politischen Problemen in den Ländern."
Der Islam als politische Richtschnur
Gestärkt wurde der Islamismus durch die Gründung Israels 1948 und die bittere Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg 1967. Der Islam erschien immer mehr Muslimen auch als politische Richtschnur, denn die korrupten Regimes waren mit ihren sozialistischen und panarabischen Experimenten daran gescheitert, den Menschen Wohlstand und eine Perspektive zu bieten. Doch die säkularen Ideologien des 20. Jahrhunderts prägten das organisatorische Erscheinungsbild des Islamismus.
"Ich denke, die Entstehung des Islamismus fällt ja teilweise auch in die Zeit der Blüte in den 20er Jahren von faschistischen Massenparteien beispielsweise. Die Muslimbruderschaft hat ja durchaus so Züge, die in diese Richtung hineingehen. Bei uns erfolgte dann die Abkehr aufgrund von einschneidenden Erfahrungen. Und diese negativen Erfahrungen hat man in der islamischen Welt teilweise noch nicht gemacht; bisher hat man das alles aus der Opposition vorbringen können - und aus der Opposition ist es gut, Utopien zu fordern."
Wahabismus, Salafismus - Seidensticker erläutert die verschiedenen islamistischen Strömungen und Traditionen. Dabei wird klar, dass fanatisches Sektierertum kein Phänomen erst des 20. oder 21. Jahrhunderts ist, dass der politische Islam immer wieder zur Legitimation, aber auch zur Delegitimierung weltlicher Macht herangezogen wurde - besonders gut zu beobachten in Saudi-Arabien. Durch saudisches Geld und Mission in der islamischen Welt erfuhr die ultrakonservative sittenstrenge wahabitische Lehre weite Verbreitung. Aus dem Wahabismus entstand der Salafismus - eine ebenso rückwärtsgewandte Glaubensschule. Ziel ist der reine, islamische Staat. Aber, so Seidensticker:
"Also, er findet definitiv in der Moderne statt und bezieht sich in vieler Hinsicht auf die Moderne. Also, es sind Verknüpfungen von modernen Elementen und modernen Herausforderungen einerseits mit Antworten, die - tatsächlich oder auch nur vermeintlich - in früherer Zeit bereist gegeben wurden."
Soziale und politische Missstände als Quelle
Islamistische Organisationen gibt es als Kaderpartei oder als Massenorganisation; manche sind betont unpolitisch, andere drängen an die Macht; manche arbeiten im Untergrund, andere sitzen im Parlament. Der Autor versteht es, dem für westliche Beobachter scheinbar irrationalen Handeln der Islamisten ein rationales Kalkül entgegenzustellen. Immer sieht er soziale und politische Missstände als Quelle, wenn Muslime sich auf die große Vergangenheit berufen und sie auf die Zukunft projizieren. Er urteilt darüber so wenig wie er rechtfertigt. Ob der Dschihad, der Heilige Krieg, nun offensiv zur Verbreitung des Islams geführt werden soll, oder defensiv, zur Verteidigung der Muslime, sei durchaus strittig.
"Die Begründung von Gewalttaten mit der islamischen Tradition oder dem, was dazu erklärt wird, hat offenkundig oft eine Alibifunktion. Die tieferen Beweggründe sind profan: Ansprüche auf Macht, Teilhabe an Ressourcen und Anerkennung."
Gelassen bis fatalistisch reagiert Seidensticker auf die gegenwärtigen Gewaltphänomene des Islamismus: Einerseits sei die islamisch begründete Gewalt nicht neu und ihre gesteigerte Wahrnehmung im Westen eher ein Medienphänomen. Andererseits seien gewaltbereite Islamisten immer noch die extreme Ausnahme. Und, an die Adresse des sich so zivilisiert gebenden Europa gerichtet:
"Ich denke, wir sollten uns auch darüber klar sein, dass die Aufklärung auch bei uns hierzulande nicht vom Himmel gefallen ist. Dem Ganzen gingen konfessionelle Kriege, die sehr lange gedauert haben, voraus. Und die Bereitschaft der Menschen, die Dinge auch mal grundsätzlich anders zu sehen, wird, glaube ich, nur von schmerzhaften Erfahrungen dann so groß sein können, dass man dort auf einmal umdenkt."
Seidensticker hat ein Buch geschrieben, das man in einem Zug durchlesen, aber auch als Nachschlagewerk benutzen kann. In kurzen biografischen Skizzen stellt er Vordenker des Islamismus. Auch die wichtigsten Organisationen und Parteien beschreibt er, etwa die Hamas, Al-Kaida oder die türkische AKP. Dabei differenziert Seidensticker nur so weit, wie er verständlich bleibt. Ein gutes Buch über ein aktuelles Phänomen, das uns vermutlich noch Jahrzehnte begleiten wird.
Tilman Seidensticker: "Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen", C.H. Beck Verlag, 127 Seiten, 8,95 Euro, ISBN: 978-3-406-66069-6.