Gustav Kuhn und seine verbliebenen Getreuen dürften sich inzwischen so einsam fühlen wie Dinosaurier am Ende der Kreidezeit. Wahrscheinlich sind sie ehrlich überrascht, dass es mit ihnen nun zu Ende gehen soll. Denn jetzt distanzieren sich, wenn auch noch vorsichtig, die ersten Politiker. Die Tiroler Kulturlandesrätin Beate Palfrader hat gerade angekündigt, die Intendanz der Erler Festspiele öffentlich auszuschreiben. Das kommt zwar ein bisschen spät, aber immerhin scheint sie erkannt zu haben, dass es so nicht weitergehen kann. Hat der Dirigent und Festspielchef Gustav Kuhn oder hat er nicht? Hat er Frauen bedrängt, Sänger auf Proben drangsaliert und Orchestermusiker mit Knebelverträgen geknechtet?
Vorwürfe gegen die Festivalleitung
Die Festspiele weisen sämtliche Vorwürfe mit Abscheu und Entsetzen zurück, klar. In der Tat scheinen viele der Vertragsdetails legal zu sein, und eine schlechte Arbeitsatmosphäre ist eher nicht gerichtsrelevant. Wer je ein paar Tage in Erl oder in Kuhns Refugium bei Lucca, der Accademia di Montegral verbracht hat, der kennt die dort herrschende Atmosphäre eines barocken Hofstaats, an dem die Höflinge um Serenissimus kreisen, inklusive Mätressenwirtschaft. Im Zentrum ein alternder Maestro, der sein Verhalten vollkommen in Ordnung findet. Inzwischen steht der Zeitgeist aber gegen die alte Machokultur, denn auch in der Politik sind neue, jüngere Kräfte nachgewachsen, die einen anderen Stil bevorzugen und die Altherrenkartelle bröckeln lassen. Aber man möge sich nicht täuschen. Die alten Verbindungen funktionieren noch und neue werden aufgebaut. Ein Zeichen für die fortbestehenden Machtverhältnisse ist, dass es auch jetzt noch schwierig zu sein scheint, Künstler zu finden, die ihre handfesten Vorwürfe gegen Kuhn und die Festspiele gerichtsfest öffentlich machen. Wer will schon als Querulant gelten, wenn jeder einzelne Vertrag neue ausgehandelt werden muss? Auf diesem Markt reicht mitunter bereits ein warnender Anruf bei befreundeten Intendanten- oder Dirigentenkollegen, um eine vielversprechende Karriere dauerhaft zu behindern, also hält man besser den Mund und fügt sich in bestehende Verhältnisse.
Gagendumping als Prinzip
Denn das System Kuhn in Erl konnte nur funktionieren, weil sich die "Geiz ist geil"-Mentalität so tief in unseren Kulturbetrieb eingefressen hat. Die Gagen im mittleren Bereich sinken seit Jahren und doch gibt es immer wieder gut ausgebildete Künstler, die billig und mehr oder weniger willig mitmachen. Vor allem in Osteuropa finden sich zahlreiche Künstler, die über tausende Kilometer mit dem Bus reisen und sittenwidrige Arbeitsbedingungen akzeptieren, weil die gezahlten Hungerlöhne für sie immer noch beträchtlich sind. Unser kultureller Reichtum beruht auf der Armut der anderen, da sollten wir uns nichts vormachen. Das System Kuhn ist ein Symptom, das nicht nur Österreich betrifft. Man muss schon sehr viel Hoffnung mitbringen, um zu glauben, dass jetzt tatsächlich die Ursachen geändert würden. Denn dann müssten sich Politiker dazu bekennen, dass ihnen die Kultur mehr wert ist als ein Handgeld und müssten endlich genauer hinschauen, wie Kunst produziert wird. In dieser Hinsicht hat sich der Zeitgeist jedenfalls noch nicht gewandelt.