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Todestag vor 100 Jahren
Scholem Alejchem - Literat des Jiddischen

Durch das Musical "Anatevka" wurde Scholem Alejchems Roman "Tewje, der Milchmann", der das traditionelle jüdische Leben in einem osteuropäischen „Schtetl“ beschreibt, weltbekannt. Allerdings erst 50 Jahre nach dem Tod des jiddisch-sprachigen Schriftstellers am 13. Mai 1916. Doch dieser späte Erfolg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt der „Schtetl“ bereits zu Lebzeiten des Literaten durch Aufklärung, Industrialisierung und Pogrome vom Aussterben bedroht war.

Von Matthias Bertsch |
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Kiew erinnert an den in der Ukraine geborenen jiddischen Schriftsteller.
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Kiew. (imago/Sergienko)
    "Do ligt a jid, a poschuter,
    geschriben jidisch - dajtsch far wajber -
    un far'n prossten folk hot er
    gewen a humorisst, a schrajber."
    "Hier liegt ein schlichter Jude, der
    für jene schrieb, die Jiddisch lesen,
    den Menschen seines Volks ist er
    ein Autor, Humorist, gewesen."
    Auf dem Mount-Karmel-Friedhof im New Yorker Stadtteil Queens befindet sich das Grab von Scholem Alejchem. Die Inschrift – jiddisch in hebräischen Lettern - erinnert an den wohl berühmtesten Schriftsteller der jiddischsprachigen Literatur.
    "Doss ganze leben ojssgelacht,
    geschlogen mit der welt kapóress.
    Di ganze welt hot gut gemacht,
    un er - oi weh - gewen ojf zóress!"
    "Sein Leben hat er Narretei
    und Spott mit aller Welt getrieben.
    Der Welt erging es wohl dabei,
    doch seine Sorgen sind geblieben."
    Heute ist Scholem Alejchem vor allem durch das Musical "Fiddler on the roof" bekannt, das in Deutschland unter dem Titel "Anatevka" aufgeführt wurde. Das Musical basiert auf dem Roman "Tewje, der Milchmann", in dem Scholem Alejchem – mit stark autobiographischen Anteilen - die Situation eines mittellosen Juden in der Ukraine im ausgehenden 19. Jahrhundert beschreibt, der durch Glück zu etwas Geld gekommen ist und es schließlich wieder verliert. Mit der Realität vieler Juden in Osteuropa, die von Armut und Pogromen geprägt war, hat das Musical wenig zu tun, sagt der Verleger und Alejchem-Übersetzer, Andrej Jendrusch.
    "Für Scholem Alejchem ist es eigentlich auch kein sonderlich heiteres Thema, also im Gegensatz zu 'Anatevka', wo man ja so ein bisschen das Gefühl hat, ja, soziales Elend, menschliche Tragödie mit Gesang und Tanz, was haben wir gelacht, für Scholem Alejchem ist es wirklich eigentlich die Frage, wie verhalte ich mich, wenn ich also von Schicksalsschlägen heimgesucht werde, in meinem Verhältnis zu Gott."
    Scholem Alejchem, 1859 in einem kleinen Dorf in der Ukraine geboren, wuchs in der Welt der jüdischen Schtetl auf, in der sich fast alles um Gott und die Bewahrung der Tradition drehte. Zugleich faszinierte ihn die weltliche Literatur, doch wenn er als Schriftsteller Erfolg haben wollte, musste er sich der Sprache des Schtetl anpassen.
    "Die Menschen, von denen er umgeben war, und die Leute in Osteuropa, die sprachen nun mal Jiddisch, die hatten mit Hebräisch wenig zu schaffen, mit Russisch eigentlich auch nicht allzu viel, ihre Muttersprache war das Jiddische, und dann sagte er sich, na gut, also wenn es denn so ist, dass ich sozusagen mein Publikum bloß über das Jiddische erreiche, dann möchte ich aber auch neue Standards setzen im Jiddischen, dann möchte ich sozusagen tatsächlich auch der Literat des Jiddischen sein."
    Gemeinsam mit Mendele Moicher Sforim und Jizchok Leib Perez, den beiden anderen Klassikern der jiddischen Literatur, erhob Scholem Alejchem Jiddisch aus dem Stand eines Jargon, der seine Wurzeln im Mittelhochdeutsch hatte, in den einer Schrift- und Literatursprache, die von rund 20 Millionen Juden verstanden wurde. Seine Stärke war die genaue Schilderung des Alltags im Schtetl, den er in Romanen, Erzählungen, Dramen, Kindergeschichten und Zeitungsartikeln beschrieb. Doch rückblickend wird deutlich, dass diese Welt keine Zukunft hatte.
    "Nicht bloß, weil es einen Hitler gab, und einen Stalin dann später gab, sondern auch, weil es aufgrund des Fortschritts selber sozusagen verschwinden würde, also diese ländlichen Strukturen und diese symbiotischen kleinen Gemeinschaften und Selbstverwaltungszentren sind dann einfach hier wie dort durch das Industrieproletariat also verschwunden, das heißt, die gab es dann nicht mehr. Das war eine Zeitfrage, und er sah sozusagen auch, wie die Zeit also gegen ihn lief."
    Wie viele andere osteuropäische Juden brachten wirtschaftliche Not und Pogrome Scholem Alejchem dazu, seine Heimat zu verlassen und sich – nach einer langen Odyssee – in New York niederzulassen. Dort starb er am 13. Mai 1916, an seiner Beerdigung nahmen 100.000 Menschen teil. Aber weder die vielen Ehrungen, die Alejchem posthum erfahren hat, noch der Erfolg von "Anatevka" können darüber hinwegtäuschen, dass es die Grundlage für seine Literatur, eine Welt, in der Jiddisch gesprochen wird, nicht mehr gibt. Und so heißt es auf seinem Grabstein:
    "Un dáwke demolt, wen der ojlem hot
    gelacht, geklatscht un fleg sich frehen,
    hot er gekrenkt - doss wejss nor got,
    bassúd, as kejner sol nit sehen."
    "Das Publikum konnt fröhlich sein,
    es klatschte sich die Hände wund,
    derweil hat er, weiß Gott allein,
    fein still gelitten wie ein Hund."