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Tödliche Morgentoilette bei Nietzsches

Friedrich Nietzsches Werke standen in der DDR lange nur in sogenannten Giftschränken, durften nur mit Sondergenehmigungen gelesen werden. Ironie der Geschichte: Jenaer Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Kieselalge Nitzschia pellucida, benannt nach dem Autor der "Fröhlichen Wissenschaft", eine giftige Morgentoilette bevorzugt.

Von Hartmut Schade |
    Sie sind nur wenige Mikrometer groß und behaupten sich doch im Kampf um Licht und Nahrung. Wo die Kieselalge Nitzschia pellucida wächst, gedeiht nichts anderes. Das ist höchst ungewöhnlich und weckte die Neugier von Georg Pohnert:

    "Man muss sich vorstellen, es gibt einen Schleim auf einen Stein und in diesem Schleim sind normalerweise Hunderte, Tausende verschiedener Arten. Und manchmal passiert es, dass man eine einzelne Art alleine vorfindet. Und da ist natürlich die Vermutung nahe, dass sich vielleicht chemische Verbindungen dazu eignen, diese Algenart zu verteidigen."

    Eine durchaus bewährte Strategie im Pflanzen- und Pilzreich. Attackierte Pflanzen setzen Giftstoffe frei, um Angreifer abzuwehren oder Nahrungskonkurrenten auszuschalten. Doch die chemische Keule von Nitzschia pellucida übertrifft an tödlicher Wirksamkeit alles bislang bekannte, sagt der Professor für Analytische Chemie an der Jenaer Universität:

    "Das Gift der Alge ist das Bromcyan. Das ist noch wesentlich giftiger als die Blausäure, die man ja vielleicht kennt, die selbst im Verruf ist, in geringsten Mengen tödlich zu wirken. Und als Naturstoff waren diese Verbindungen noch gar nicht bekannt. Das heißt, wir wussten gar nicht, dass die belebte Natur solche Toxine machen kann."

    Man könne fast die Uhr danach stellen, so pünktlich beginne Nitzschia pellucida zwei Stunden nach Sonnenaufgang mit der Giftproduktion. Auch im Labor, wenn die Forscher per Lichtschalter selbst bestimmen, wann der Tag beginnt, dauert es exakt zwei Stunden, bis die Algen sich in eine Wolke von Bromcyan hüllen und alles Leben ringsum töten:

    "Das ist ein bisschen zu vergleichen wie bei uns mit der Morgenhygiene. Wenn wir zum Beispiel Zähneputzen laufen wir auch nicht den ganzen Tag mit einer Zahnbürste im Mund herum, sondern machen das am Morgen drei Minuten. Wir reduzieren erst mal alle Bakterien auf unseren Zähnen. Wir putzen unsere Zähne, die Alge putzt die Umwelt. Macht das nur sehr kurz am Tag und danach kann sie ihre Energie in das Wachstum stecken."

    Wie Nitzschia pellucida den Giftstoff herstellt, ist noch unklar. Ebenso rätselt Georg Pohnert noch, warum sie relativ unempfindlich gegen die hochgiftige Substanz ist. Allerdings sich dauerhaft in ihre Giftwolke zu hüllen, verträgt auch die Kieselalge nicht. Nach zwei Stunden stellt sie den Bromcyan-Ausstoß ein.

    "Wir vermuten, dass das auch was mit dem Sauerstoff im Wasser zu tun hat. Nach zwei Stunden beobachtet man dann keine Biosynthese der Verbindung mehr um die Zellen herum."

    Auch wenn Georg Pohnerts Forschung reine Grundlagenforschung ist, eine Idee, wie man sich die giftige Alge nutzbar machen kann, hat er schon.

    "Es gibt große Probleme, zum Beispiel in der Schifffahrt, dass Schiffsoberflächen von kleinsten Organismen bewachsen werden. Das nennt sich Fauling und das führt dazu, dass die Schiffe auf ihrem Weg durchs Wasser mehr Energie verbrauchen, weil die Schiffsoberfläche rau wird. Wenn wir versuchen könnten, hier bei der Biofilmbildung durch zum Beispiel gezielte Anpflanzung dieser Algen etwas zu manipulieren, dann hätten wir viel gewonnen, weil wir dann nicht massive Gifteinsätze, in dem Fall menschliche Gifte, bräuchten, um die Schiffsrümpfe sauber zu halten."