Als ich fortgehe, nehme ich nicht nur ohne zu fragen Geld aus dem Arbeitszimmer meines Vaters, sondern auch ein kleines goldenes Feuerzeug und ein Klappmesser mit einer scharfen Schneide. Außerdem nehme ich noch eine starke Taschenlampe aus der Schreibtischschublade. Und seine Sonnenbrille brauche ich, um mein Alter zu kaschieren. Eine dunkelblaue Rebo-Sonnenbrille. Ich überlege, ob ich auch die geliebte Sea-Oyster-Rolex meines Vaters mitnehmen soll, entscheide mich aber dagegen. Die Schönheit der Uhr als Maschine verlockt mich, aber ein so kost- spieliges Ding kann unnötige Aufmerksamkeit erregen. Vom praktischen Standpunkt genügt die Plastik-Casio mit Stoppuhr und Wecker, die ich ständig am Arm trage.
Auch das Mobiltelefon seines Papas packt der fünfzehnjährige Kafka Tamura ein, klar braucht man das heute, wenn man sich bei Nacht und Nebel fortstiehlt. Kafka lebt allein mit seinem Vater, einem berühmten Bildhauer, die Mutter hat mitsamt einer kleinen Tochter die Familie verlassen, als Kafka vier Jahre alt war, und ist seither spurlos verschwunden. Jetzt will auch Kafka fort, weg vom kalten, ungeliebten Vater, raus aus dem düsteren Haus, er hat die Schnauze voll. Ist er also ein Holden Caulfield, der den "Fänger im Roggen" nachspielt? Zunächst sieht es so aus, doch dann legt sich ein schwerer Schatten über dieses arrivierte Muster. Kafka flieht hauptsächlich vor einem uralten Verhängnis, das ihm sein Vater prophezeit hat: "Eines Tages wirst du mich töten und mit Mutter und Schwester schlafen!" Das ist die Verfluchung des Ödipus: Mit einem einzigen Ruck hebt Haruki Murakami die Erzählung und den Helden aus der Salinger-Atmosphäre vom Teenie-Frust in seinen ureigenen Stil, in dem sich Mythos, Leben, Liebe, Tod und Verdammnis zu einem Märchen voller Wunder fügen – und das auf der beinharten Oberfläche der modernen Welt, wo Hochgeschwindigkeitszüge fahren, Rockmusik aus Radios dudelt und die Handys klingeln.
Auf der nächstbesten Station seiner Flucht checkt Kafka in einem billigen Hotel ein – und geht, muskulöser Fitness-Freak, der er ist, erst einmal in ein Sportstudio. – Parallel dazu begibt sich noch jemand anders auf Wanderschaft: der alte Nakata. Dieser ist nach einem mysteriösen Unfall während des Zweiten Weltkriegs von Kindesbeinen an ein im Wortsinn "unbeschriebenes Blatt". Er kann weder lesen noch schreiben, nicht klar denken, hat keine Erinnerung an früher. Aber er kann mit Katzen sprechen. Und so erfährt er von einer weiteren drohenden Katastrophe, die nur abzuwenden ist, wenn ein bestimmter Mann getötet und ein sonderbarer Stein mit geheimnisvollen Kräften gefunden wird. Wie heißt dieser Mann? Er nennt sich Johnny Walker und sieht genauso aus wie auf der Whiskyflasche. Wo befindet sich der Stein? Natürlich dort, wo Kafka gerade ist.
Nakata ist zeit seines Lebens nie aus Tokio herausgekommen, doch mit Hilfe des jungen Hoshino, Truckerfahrer, Baseball-Fan und Frauenheld, macht er sich auf die Suche. Dieser Hoshino verkörpert das rationale Prinzip des Romans. Er tippt sich noch an die Stirn, wenn alle anderen Romanfiguren plus wir Leser längst vor Murakamis magischem Realismus die Waffen gestreckt haben und betört akzeptieren, was er sich an mirakulösen Wendungen einfallen lässt. Es regnet Fische und Blutegel vom Himmel, der Stein wandert wundersam in den Besitz Nakatas: "Da kriegst du doch die Motten", sagt Hoshino.
Den ganzen Vormittag erzählte der junge Mann dem Stein von seinen Beziehungen zu Frauen, wobei er ihn unablässig streichelte. Er gewöhnte sich so daran, dass er kaum noch damit aufhören konnte. Als es von einer Schule in der Nähe zur Mittags- pause läutete, ging Hoshino in die Küche und machte sich Udon. Er hackte Frühlingszwiebeln und schlug noch ein Ei hinein. Als er gegen zwei Uhr aus dem Fenster schaute, saß eine fette schwarze Katze auf dem Balkongeländer und spähte ins Zimmer. Hoshino öffnete das Fenster und sprach aus Langeweile die Katze an: "Hallo Katze, schönes Wetter heute, was?" "Ganz recht, Herr Hoshino", erwiderte die Katze. "Mich trifft der Schlag", sagte Hoshino und schüttelte den Kopf.
Viele Kritiker haben sich ebenso gewundert und gefragt, wie der Autor es eigentlich fertig bringt, dass man ihm solch eine typische Szene nicht nur wie selbstverständlich abkauft, sondern sich gar nicht von der Lektüre lösen mag. Die Sprache ist es nicht. Murakami schreibt nicht besonders schön, wenig ausgefeilt, selten poetisch, manchmal derb plakativ bis zum Klischee. Und doch folgt man ihm willig auf seinen buchstäblich zauberhaften Wegen, wo alles möglich zu sein scheint, die Trennlinien zwischen Realität und Traum, zwischen Mystik und Moderne verschwimmen und sich in einem neuen, eigentümlich zarten, humanen Kosmos verbinden. Wohl ereignet sich alles in der normalen Welt, wie wir sie kennen, doch ist es immer nur ein kleiner Schritt, der zu einem vollkommen anders gearteten Reich hinüberführt. Der Ausreißer Kafka erlebt diese Übergänge ständig. Seine Odyssee endet rasch – in einer Bibliothek, wo er die vornehme Frau Saeki trifft, eine schöne Dame mittleren Alters. Ist es seine Mutter? Zumindest wird Kafka mit ihr schlafen, in einem Zimmer, in dem jenes Bild hängt, das dem Roman seinen Namen gibt: "Kafka am Strand."
Und auch ein Lied heißt so, das Frau Saeki als junges Mädchen komponiert hat. Mit jedem Motiv ergeben sich neue Fragen und Bezüge, öffnen sich Türen zu rätselhaften Räumen, doch man betritt sie mit dem Helden ohne die spezifische, tödliche Angst, die aus den Labyrinthen des Pragers Franz Kafka ertönt. Der junge japanische Kafka lernt die Erfahrungen der Liebe und des Todes auf sanfte Weise kennen. Die Menschen, die er trifft, sind kluge Sendboten zwischen den Welten, sie lehren ihn einen neuen Blick auf sein Dasein. Diese Pädagogik erinnert deutlich an Thomas Manns Figur Hans Castorp. Murakamis Kafka ist halb so alt, dafür bestimmt doppelt so kräftig, und er wird mit der Verwirrung seiner Gefühle weitaus besser zu Rande kommen als sein hanseatisches Pendant.
Die intellektuelle Überforderung erspart Murakami seinem Jüngling. Wie heißt es bei Thomas Mann oben auf dem Berg, tief im Schnee: "Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Diese Einsicht formuliert Murakami schlichter, mit schließlich doch fernöstlicher Weisheit: "Geh zurück und lebe weiter" – sagt eine Traumgestalt zu Kafka, als er seinen Hades betritt, in einem dunklen Zauberwald. Dass er sich nicht umdrehen darf, wenn er geht, versteht sich von selbst. Und er wird abgeholt von einem Landcruiser, in dem ein Surfer sitzt und das Radio Schlager spielt. Auf dem T-Shirt des Sportlers steht: "No fear!" Da atmet man tief durch, nach über 600 Seiten. Irgendwie beglückt. Irgendwie friedlicher und versöhnt mit diesem komischen Leben, das wir alle führen.
Haruki Murakami
Kafka am Strand
Dumont, 637 S., EUR 22,90