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Tom Segev: Elvis in Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft.

Seit gut einem Jahrzehnt stellt eine neue Generation israelischer Historiker bisherige Vorstellungen über die Anfänge und das Selbstverständnis des jüdischen Staates in Frage. Diese so genannten "neuen Historiker" schreiben nicht über den Erfolg der zionistischen Bewegung, sondern über ihren Preis, über ihre Versäumnisse. Diese Analysen zur Phase der Staatsgründung, zu Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und zu den Wurzeln des Nahost-Konflikts stellen das in Israel vorherrschende Selbstbild - das der Friedenstaube umringt von mörderischen Nachbarn - infrage. Und sie befeuern eine erbittert geführte öffentliche Debatte, zu der auch der israelische Historiker und Kolumnist Tom Segev beiträgt. Unter anderem mit seinem neuen Essay "Elvis in Jerusalem".

Jasper Barenberg |
    Israel streitet um seine Geschichte. Streitet vor allem über das, was eine Gruppe kritischer Forscher die Mythen der zionistischen Geschichtsschreibung nennt. Doch längst steht mehr zur Diskussion als Daten und Fakten. Längst kreist die Debatte um Wesen und Geltung des Zionismus selbst. Und die, die sie antreiben, wollen nicht nur die Deutung der Vergangenheit verändern, sondern auch Gegenwart und Zukunft der israelischen Gesellschaft. An der historischen Leistung des Zionismus lässt Tom Segev in seinem Diskussionsbeitrag keinen Zweifel.

    Der Staat Israel ist, trotz aller Mängel, eine der großen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts. (…) Heute genießen israelische Kinder etwas, was ihren Eltern und Großeltern häufig nicht vergönnt war: Ihre Großeltern leben noch und wohnen sogar ganz in der Nähe. Dass diese scheinbar simple Tatsache heute schon vielen banal vorkommt, ist eine der größten Errungenschaften des Staates.

    Und doch zählt Segev selbst zu den "neuen Historikern", ist sein Essay über die geistigen Grundlagen der israelischen Gesellschaft durchdrungen von dem Gedanken, der Zionismus habe seine Bedeutung als einigende Ideologie eingebüßt. Den Zionismus als politische Bewegung sieht er am Ziel: Für seine mehrheitlich jüdischen Bürger habe Israel eine normale Existenz geschaffen. Im Schatten dieser Normalität aber befinde sich das Land heute an der Schwelle zu einer "post-zionistischen" Phase. In den Augen Segevs das Ergebnis dramatischer gesellschaftlicher Veränderungen seit der Staatsgründung 1948. Und so lässt er die Geschichte Israels Revue passieren: Von seinen sozialistischen Anfängen bis zum modernen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Staat. Zeichnet anhand einer Vielzahl von Diskursen und Debatten nach, wie die nationale Identität aufgeweicht, wie die Bindekraft des Zionismus mehr und mehr abgeschwächt wurde. Es geht ihm vor allem um...

    … die Kämpfe, die Risse, die Kompromisse und die Rückschläge, mit denen die zionistische Bewegung im Laufe der Jahre fertig werden musste.

    Nie habe der Zionismus das gesamte jüdische Volk vertreten. Seine Anziehungskraft habe sich zudem als viel geringer erwiesen, als erwartet. Denn die meisten Juden kamen nicht als überzeugte Zionisten, sondern als Flüchtlinge nach Palästina. Zunächst habe daher weniger die zionistische Überzeugung, als vielmehr die Bedrohung des jungen Staates von außen Zusammenhalt gestiftet.

    Der permanente Kriegszustand war der Brennstoff, der das Land vorantrieb, und zugleich der Mörtel, der die israelische Bevölkerung zu einer einzigartigen, kampfbereiten und unverwüstlichen Gesellschaft formte, die durch die Bande des zionistischen Patriotismus zusammengehalten wurde. Der Kriegszustand (…) war das zentrale Element des israelischen Selbstbewusstseins und der israelischen Politik.

    Keine Entwicklung hat Segev zufolge jedoch das Selbstverständnis Israels und seiner Bürger nachhaltiger verändert als die über Jahrzehnte wachsende Nähe zu den USA. Und die untergrub, was den Zionismus im Kern auszeichnete: ein ausgeprägtes Wir-Gefühl.

    Die Quintessenz ist einfach auf den Punkt zu bringen: beständig zunehmende Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, und zwar in jedem Lebensbereich. Die Amerikanisierung hat die gesellschaftliche Solidarität geschwächt und, im Gegensatz zum ursprünglichen Ansatz des israelischen Zionismus, das Individuum zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens gemacht. (…) Israelis waren zu Individuen geworden, "ich" statt "wir".

    Die Spuren dieser Entwicklung verfolgt Segev in der Massenkultur ebenso wie in Politik, Wirtschaft und Rechtsprechung. Ihren Einfluss bewertet er weitgehend positiv. Denn neben McDonald’s und Einkaufszentren hätten auch Pragmatismus und Toleranz Einzug gehalten. Und schließlich auch der Wunsch nach einer friedlichen Koexistenz mit den Palästinensern.

    Aus diesem amerikanischen Geist erwuchsen die Abkommen von Camp David zwischen Ägypten und Israel, später das Gefühl vieler Menschen, dass die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens lange genug gedauert habe.

    Den Weg dorthin sieht Segev nicht zuletzt von den "neuen Historikern" geebnet. Sie wiesen auf Makel in der eigenen Vergangenheit, auf die folgenreichen Schattenseiten der Staatsgründung. Und sensibilisierten dadurch etwa für die lange vernachlässigte Gleichstellung zwischen den jüdischen und den nicht-jüdischen Bürgern Israels.

    Die post-zionistische Herausforderung bedeutet, nach Wegen zu suchen, wie sich das Zusammenleben aller Israelis unter Berücksichtigung der beiden großen Einflüsse im Land – Amerika und Judentum – ermöglichen lässt. Die öffentliche Diskussion darüber hat gerade erst begonnen. Gegenwärtig geht es vor allem um die Frage, wie Israel ein jüdischer und zugleich ein demokratischer Staat sein kann.

    In den Augen Tom Segevs ist es noch ein weiter Weg vom jüdisch-zionistischen Charakter Israels bis zur vollen Verwirklichung einer liberalen, multi-ethnischen Demokratie. Die heutige israelische Gesellschaft skizziert er als eine zutiefst gespaltene: zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen Konservativen und Linken, Alteingesessenen und Neueinwanderern. Den Verlust einer verbindenden zionistischen Ideologie aber feiert er als Chance für ein größeres Maß an Offenheit und Kompromissbereitschaft in einer künftigen post-zionistischen Gesellschaft. Für die nahe Zukunft bleibt Segev allerdings skeptisch. Denn die Reaktion der Israelis auf die Eskalation der gegenseitigen Gewalt seit Ausbruch der zweiten Intifada wertet er als "Rückfall in die Mentalität eines belagerten Stammes".

    In der Zwischenzeit hat der palästinensische Terror Israel zurück in den Schoß des Zionismus gebombt.

    Tom Segevs schmaler Band ist der anregende Versuch der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft im Umbruch. Keine systematische Analyse der Amerikanisierung Israels. Dafür aber eine eingängig geschriebene Zeitdiagnose, die eine Vielzahl geistiger Strömungen aufgreift und deren gesellschaftliche Wirkungen diskutiert. Auf manches Detail hätte man verzichten können. Allzu sehr leidet die Klarheit der Argumentation unter der Last der vielen Themen und Aspekte. Und doch dokumentiert der Essay den Übergang von einer auf Konsens ausgerichteten Gesellschaft zu einer, die den Konflikt aushält. Von einem monolithischen historischen Bewusstsein zu einem pluralistischen. Den Übergang schließlich von der dominanten Stimme des Zionismus zu einer Vielzahl der Stimmen und Überlieferungen. Die Beschreibung dieses Wandels mag unvollständig und vorläufig sein. Der Wandel selbst aber verdient große Aufmerksamkeit.

    Tom Segevs: Elvis Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft. Erschienen ist der Band im Siedler Verlag, Berlin. 192 Seiten kosten 18 Euro.