Archiv

Tschaikowskys "Jewgeni Onegin"
Unerwiderte Gefühle

Intendant Barrie Kosky inszeniert an der Komischen Oper in Berlin einen „Jewgeni Onegin", der den Hörer in einen weitverzweigten musikalischen Seelenkosmos hineinzieht. Die Dramatik in Tschaikowskys Musik wird nicht nur von den fabelhaften Sängern, sondern auch vom Orchester der Komischen Oper gelungen interpretiert.

Von Julia Spinola |
    Die Premiere von "Jewgeni Onegin" in der Komischen Oper Berlin
    Die Premiere von "Jewgeni Onegin" in der Komischen Oper Berlin (dpa/picture alliance/Claudia Esch-Kenkel)
    Tschaikowskys Oper beginnt, als lausche man mitten hinein in einen Gedankenfluss, der schon lange vorher in Bewegung war: mit einem flüchtigen, von Seufzern durchsetzten Gedanken der Streicher. Schon die ersten Töne ziehen den Hörer in einen weitverzweigten musikalischen Seelenkosmos hinein – dahin, wo das Herz Tatjanas schlägt und mit ihm das des Komponisten. Eine Pointe von Tschaikowskys "Lyrischen Szenen" liegt in der Verweigerung opernhafter Äußerlichkeit. Barrie Kosky ist klug genug, das zu erkennen. Alle Regiemätzchen und virtuosen Knalleffekte hat sich der sonst so bilderstürmerische Regisseur jetzt in dieser atmosphärischen Inszenierung versagt. Umso stärker geht sie unter die Haut.
    Kosky verblüfft mit diesem "Onegin" als Meister einer einfühlsamen und brillant psychologisierenden Personenregie, wie wir sie etwa aus den großen Zeiten von Peter Stein an der Berliner Schaubühne kennen. An Steins legendäre Inszenierung der "Sommergäste" von Maxim Gorki fühlt man sich auch durch das Bühnenbild von Rebecca Ringst erinnert: Eine wilde, ungebändigte Wiese wuchert bis an den Orchestergraben heran. Im Hintergrund erhebt sich ein kleiner Wald, dessen Dickicht auch für die innere Natur der Menschen steht. An diesem Ort lässt es sich ebenso gut heimlich küssen, wie töten. Das Duell zwischen Lenski und Onegin findet hier statt: Beide Freunde wanken volltrunken in den Wald hinein, aber nur der blutbespritzte Onegin kommt wieder heraus. Und auch das ungezügelte Dorfvolk stürmt aus diesem Wald immer wieder grölend herbei – zum Beispiel an Tatjanas Namenstag im zweiten Akt, wo mit Fackeln in der Hand ein derber Walzer getanzt wird.
    Fabelhafte Sängerdarsteller, gekonnte Körpersprache
    Die strahlenden Ballett- und Festmusiken– das macht Koskys Regie wieder einmal überdeutlich – scheinen in dieser Oper überhaupt nur erfunden worden zu sein, um die Grenzen zu markieren, an denen die intimen Innenwelten Tatjanas und auch Lenskis immer wieder brutal abprallen. Und so lässt Kosky alle drei Akte in der freien Natur spielen: das ländliche Leben der ersten beiden Akte ohnehin, aber auch die Ballszene des dritten im Haus von Tatjanas Ehemann Fürst Gremin. Perserteppich, Sofa und Ballsaalfassade stehen dann wie provisorische Zivilisationsrequisiten auf dem Rasen. Sie bieten dem Ansturm der inneren Natur keinen wirklichen Schutz. Alles wird rasch wieder abgebaut, wenn Onegin erscheint, und die beiden Liebenden finden sich schließlich auf der leeren Wiese wieder. Tatjana flüchtet in den Wald. Onegin bricht zusammen.
    Kosky kann sich auf fabelhafte Sängerdarsteller verlassen. Günter Papendell wächst als Onegin mit vollem, melodiösem Baritontimbre über sich hinaus. Aleš Briscein bringt Schmelz und Emphase für die Partie des Lenksi mit. Und die beiden Schwestern verzaubern als tschechowhaft fragile, endlich einmal wirklich mädchenhafte Gestalten: überschwänglich herumtollend die Olga von Karolina Gumos, verlegen in sich gekehrt die fulminante Tatjana von Asmik Grigorian. Unentwegt nestelt sie an ihrem Sommerkleid herum und hält sich verkrampft an ihrem Buch fest. Immer wieder steht sie dabei in einem Lichtkegel, der sie gefangen hält und von den anderen isoliert, zugleich aber ihre Unsicherheiten auch entblößend exponiert. Die ganze Zerrissenheit dieses allzu empfindsamen Wesens lässt die Sängerin in eine gekonnt ungelenke Körpersprache fließen. Aber was für eine Stimme setzt sie dagegen! Kraftvoll, schlank und makellos strömt das dunkle Timbre ihres dramatischen Soprans.
    Henrik Nánási betont am Pult des Orchesters der Komischen Oper die seelenmalerische Dramatik in Tschaikowskys Musik. Schroff und trocken wie eine späte Verdi-Partitur klingt das streckenweise, zugespitzt und wohltuend unsentimental – sogar bisweilen fast ein Spur zu robust. Insgesamt gelingt dem Haus ein "Onegin", der einen so schnell nicht loslässt.