Die Eskalation der Gewalt und die innenpolitische Polarisierung hätten in der Türkei in den letzten anderthalb Jahren signifikant zugenommen. Dazu beigetragen haben aus Sicht von Gülistan Gürbey die nationalistisch und religiös geprägte Rhetorik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Regierungsmitgliedern. Die Politologin sieht keine Anzeichen dafür, dass es 2017 eine Deeskalation geben wird.
Die von der türkischen Regierung durchgeführten Säuberungswellen tragen aus Gürbeys Sicht zur Schwächung der staatlichen Institutionen bei. "Das von heute auf Morgen auszugleichen, ist nicht einfach." Von den Säuberungswellen seien insbesondere Kurden sowie sämtliche Regierungskritiker betroffen, die mundtot gemacht werden sollten. Auf der anderen Seite müsse die Türkei den Kampf gegen den Terror führen, was ebenfalls nicht von heute auf morgen gelingen könne.
Gürbey sieht die Türkei nicht in einer Staatskrise
Die Zunahme der Terroranschläge in der Türkei hänge einerseits damit zusammen, dass das Land an Kämpfen gegen die Terrormiliz IS in Syrien beteiligt ist. Spätestens als die Türkei ihre Militärbasis Incirlik 2015 den Amerikanern geöffnet habe, sei das Land verstärkt zur Zielscheibe des IS geworden. Der zweite Faktor, der zu mehr Anschlägen geführt habe, sei der Einmarsch der Türkei in den Norden Syriens im August 2016.
Gürbey sieht die Türkei jedoch nicht in einer Staatskrise, da die Regierung prinzipiell handlungsfähig sei: Sie agiere, wenn auch mit Restriktion, Gegengewalt und militärischen Mitteln. Trotzdem erfahre die Regierung große Unterstützung aus der Bevölkerung. "Präsident Erdogan ist beliebt", sagte Gürbey. Mit seiner Gewaltstrategie, die er innenpolitisch seit anderthalb Jahren verfolge, sei er seinem Ziel, einer "Ein-Mann-Diktatur" rasant näher gekommen. Ab Montag berät das Parlament über die neue Verfassung, die die Türkei zu einem Präsidialsystem umbauen soll. Gürbey rechnet damit, dass genug Stimmen für eine Volksabstimmung zusammenkommen werden.
In einem Punkt kann die EU die Türkei packen
Das Verhältnis zwischen Europäischer Union und Türkei hält die Politologin für ambivalent. "Spätestens seit der brutalen Niederschlagung der zivilgesellschaftlichen Proteste im Istanbuler Gezi-Park im Sommer 2013 haben wir eine Zunahme von autoritärem Regierungshandeln der Türkei." Die EU habe sich vor allem durch die Kooperation in der Flüchtlingskrise indirekt zum Handlanger der türkischen Regierung gemacht und lange Zeit auf Kritik verzichtet. Zurzeit sei der Einfluss der EU auf die Türkei massiv begrenzt. Die EU als wichtigster Handelspartner des Landes könne nur im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung Einfluss nehmen.
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