Archiv

Türkei
"Ich habe das Buch für Ausländer geschrieben"

Bereits 2011 hatte sich die türkische Journalistin Ece Temelkuran in einer Kolumne kritisch über die AKP und die Situation in ihrem Land geäußert. Am nächsten Tag war sie ihren Job los. Unter dem Titel "Euphorie und Wehmut" hat sie ihrer aufgestauten Wut und Verzweiflung jetzt Luft gemacht. Ihr Buch illustriert, wie tief die Gräben in der türkischen Gesellschaft sind und wie gering die Chancen für Ausgleich, Versöhnung und Kompromiss.

Von Susanne Güsten |
    Unterstützer der regierenden AKP schwenken die Flagge der Türkei und halten ein Bild Erdogans hoch.
    Das Buch illustriert, wie tief die Gräben in der türkischen Gesellschaft sind und wie gering die Chancen für Ausgleich, Versöhnung und Kompromiss. (Sedat Suna, dpa picture-alliance)
    Ein Aufschrei ist das Buch von Ece Temelkuran – ein Aufschrei der Wut und Verzweiflung.
    "Schon klar, ihr wollt, dass keiner weiß, was mit dem anderen passiert, und keiner sich die Sorgen des anderen zu eigen macht; dass alle, die laut sagen wollen, was passiert, die sich Sorgen machen um ihre Heimat, wütende Professoren, Gewerkschafter, Juristen und wer uns sonst noch daran hindert, "groß zu denken", ab sofort in Gefängnissen leben. Ihr wollt ihnen das Schreibzeug wegnehmen und ihnen dafür zu essen geben, auf dass sie wie Tiere stumm dahinvegetieren bis ans Ende ihrer Tage. Und wir sollen uns um all das nicht scheren, friedlich wie die Schweine vor uns hinleben mit unseren Nüssen und unseren Fernsehern. Währenddessen schneidet ihr sorglos die roten Bänder eurer neuen "Projekte" durch. Alles, was ihr wollt, sind rote Bänder, Applaus, Luftballons und Nüsse."
    Eine Abrechnung mit der Politik der Regierungspartei AKP, die Temelkuran in ihrem Buch wiederholt. Ursprünglich hat die Journalistin diese Sätze in der Zeitung "Habertürk" geschrieben, für die sie damals arbeitete, in ihrer Kolumne vom Silvestertag 2011. Am nächsten Tag war sie arbeitslos, wie sie im Buch erzählt:
    "Der Chefredakteur rief mich an, unser Gespräch dauerte 30 Sekunden. 'Du weißt, warum', sagte er, und ich antwortete: 'Ich weiß'."
    Seither hat die bekannte Journalistin keine Anstellung mehr bei den großen türkischen Medien gefunden, ist zunächst auf alternative Blätter ausgewichen und hat sich schließlich auf Romane verlegt. Mit einigem Erfolg – einer ihrer Romane erschien im vergangenen Jahr auch schon in Deutschland. Auf Dauer hat Temelkuran es aber nicht ausgehalten, zur politischen Entwicklung der Türkei zu schweigen. Unter dem Titel "Euphorie und Wehmut" hat sie ihrer aufgestauten Wut und Verzweiflung jetzt Luft gemacht. Ein Zeugnis ihrer unglücklichen Liebe zu ihrem Land sei das Buch, sagt die 42-Jährige beim Gespräch in ihrem Wohnzimmer in Istanbul:
    "Ich war 20 Jahre lang Journalistin, eine der bekanntesten Journalistinnen im Land, aber jetzt kann ich nirgendwo mehr schreiben. Ich will das nicht zu sehr ausbreiten, schließlich gibt es viele Menschen, die einen weit höheren Preis bezahlt haben als ich – immerhin bin ich nicht ins Gefängnis gesperrt worden. Aber wenn dein eigenes Land dich nicht haben will, dann kompliziert das deine Liebe zu diesem Land. Mein Buch mag deshalb emotional gefärbt sein. Ich habe dennoch versucht, die Objektivität der Journalistin und die Tiefe der Schrifstellerin zu wahren."
    Temelkuran ist nicht objektiv, aber leidenschaftlich parteilich
    Objektiv ist Temelkuran in ihrer Schilderung der Lage in der Türkei freilich nicht, ihre Darstellung ist vielmehr leidenschaft parteilich. Vor allem wenn es um die AKP geht, häuft sie Vorwürfe, Anklagen und Beschuldigungen auf, ohne die Gegenargumente oder andere Perspektiven auch nur zu erwähnen. Doch gerade in seiner Parteilichkeit und Leidenschaft eröffnet das Buch dem Leser tiefe Einblicke in die Befindlichkeit eines Poles der türkischen Gesellschaft. So war das auch gedacht, sagt Temelkuran:
    "Ich habe das Buch für Ausländer geschrieben, die sich wirklich für diese absurde und chaotische Lage der Türkei interessieren - und die sich aus Freundschaft dafür interessieren. In der Türkei ist es ja Tradition, sich um eine sogenannte Raki-Tafel zu versammeln, zusammen den Nationalschnaps zu trinken und darüber zu diskutieren, was nur aus diesem Land werden soll. Ich habe dieses Buch für Ausländer geschrieben, die sich zu uns an die Raki-Tafel setzen und unsere Sorgen teilen wollen."
    Anfänger sollten es nicht sein, die sich zu Temelkuran an die Tafel setzen und sich von Geschichte, Gegenwart und Zukunft der türkischen Gesellschaft erzählen lassen. Ein geradezu Breughel'sches Panorama von Aufständen, Repressionen, Staatsstreichen, Hinrichtungen, Rebellionen und Unterdrückung breitet Temelkuran im ersten Teil des Buches vor dem Leser aus, der ohne ein eigenes Raster der türkischen Geschichte daran verzweifeln müsste.
    Im zweiten Teil führt sie den Leser durch Istanbul und ihre Gegenwart - unter anderem mit einer Taxifahrt, bei der sie sich mit dem Fahrer anlegt, dessen laute Musik ihr auf die Nerven geht.
    "Wie alt ist unser Fahrer? Nehmen wir an, er ist 25, also Anfang der neunziger Jahre geboren. Schon in der Grundschule hat er ein militarisiertes, konservatives Bildungssystem durchlaufen. In diesem Erziehungsprozess erwartete man von ihm vor allem, sich nicht zu artikulieren. All seine Lehrer waren mit dem Putsch im Reinen, ohne einen freien Willen und nicht erpicht, über Menschenliebe und Solidarität zu sprechen. Außer für die Hausaufgaben hat er wahrscheinlich nie ein Buch in die Hand genommen. Sein Frauenbild ist geprägt von der konservativen Populärkultur. Als Heranwachsender hat er seine Zeit unter Männern in Teehäusern verbracht, Kontakte mit dem anderen Geschlecht waren nahezu verboten. Mit achtzehn wurde er zum Militär einberufen. Nach seiner Rückkehr war er mit Arbeitslosigkeit konfrontiert und landete bei einer der wenigen Tätigkeiten, die er ausüben konnte: Taxi fahren."
    Eine wichtige Einsicht in die sozialpsychologischen Wurzeln der türkischen Misere ist das. Mindestens ebenso interessant für den Leser ist aber die Konsequenz, die Temelkuran – wie viele Türken ihrer Klasse – daraus zieht. Nachsicht oder Verständnis für den unterprivilegierten jungen Mann weckt die Einsicht bei ihr nämlich nicht:
    "Möchten Sie sich auf eine Reise mit einem jungen Mann am Steuer begeben, dem man zuerst Bildungschancen vorenthält, den man brutalisiert hat und am Ende zum Schweigen zwingt? Ich nicht. Keine Diskussion, steigen wir aus!"
    Das Buch illustriert, wie tief die Gräben in der türkischen Gesellschaft sind und wie gering die Chancen für Ausgleich, Versöhnung und Kompromiss. Im dritten Teil des Buches, der Zukunft gewidmet, befasst sich die Autorin denn auch mit der Frage der Auswanderung aus der Türkei. Viele Menschen in ihrer Umgebung dächten darüber nach, berichtet sie, und rät Europa, sich in naher Zukunft auf mehr Einwanderer aus der oberen türkischen Mittelschicht einzustellen. Für sich selbst zieht Ece Temelkuran das noch nicht in Erwägung. Den türkischen Reaktionen auf ihr Buch sieht sie aber mit Beklommenheit entgegen, erzählt sie in ihrem Wohnzimmer am Bosporus:
    "Die Türkei ist derzeit ohnehin aufgewühlt, und ich bin eine Oppositionelle, man wird daher sowieso denken, dass ich über die Türkei wohl nur Schlechtes schreibe. Man wird darin den Verrat suchen. Das macht mir offen gestanden etwas Angst."
    Ece Temelkuran: "Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst."
    Verlag Hoffmann und Campe
    Übersetzung: Sabine Adatepe und Monika Demirel
    240 Seiten, 20 Euro
    ISBN: 978-3-455-50373-9