Dirk Müller: Die Luftangriffe der Türkei, die Kurden und der zerschlagene Friedensprozess - unser Thema nun mit Nahost-Experte Michael Lüders. Guten Tag nach Berlin!
Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Müller!
Müller:: Herr Lüders, hat die PKK das alles jetzt provoziert?
Lüders: Nein, das hat sie nicht. Bei aller berechtigten Kritik an der PKK muss man sagen, dass die kurdische Seite an dem Friedensprozess festgehalten hat, wie er mit der Türkei vereinbart war, und es hat ja auch eine enorme Kräfteverlagerung gegeben auf kurdischer Seite hin zur HDP und weg von der PKK. Die HDP ist eine im türkischen Parlament mit 13 Prozent der Stimmen vertretene Partei, die nicht allein kurdische Interessen vertritt, sondern auch viele säkular eingestellte Türken anspricht. Es hat hier also eine Kehrtwende gegeben, einen sehr positiv zu beurteilenden Prozess, der jetzt allerdings an sein Ende gekommen sein dürfte.
Eiszeit aus politischem Kalkül
Müller:: Herr Lüders, wenn wir vor einer Woche dieses Gespräch geführt hätten zum Thema Kurden, zum Thema PKK, ich hätte Sie gefragt, ist die PKK noch eine Terrororganisation, wie hätten Sie geantwortet?
Lüders: Sie hat in der Vergangenheit selbstverständlich terroristische Gewalt angewendet, aber man muss das Ganze natürlich auch in der richtigen Perspektive betrachten. Der Aufstand der Kurden im Südosten der Türkei begann Mitte der 1980er-Jahre, hat seither etwa 60.000 Tote zur Folge gehabt, die PKK hat mit den Mitteln des Terrors agiert, gar keine Frage, aber auch die türkische Regierung hat eine Politik der verbrannten Erde in den Dörfern des Südostens betrieben, in dem ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden, in dem Hunderte über Nacht verschwunden sind, nie wieder aufgetaucht sind. Also es gab hier terroristische Gewalt und Gegengewalt auf beiden Seiten, bis sich dann am Ende die Erkenntnis durchsetzte, dass dieser Prozess so nicht funktionieren kann, mit den Mitteln der Gewalt ist er nicht zu lösen, aber auf die Einsicht, auf die vernünftige Umgangsweise zwischen der Regierung Erdogan und der PKK, verkörpert durch den inhaftierten Führer Öcalan, ist jetzt eine neue Eiszeit gefolgt aus innenpolitischem Kalkül.
Müller: Da kommen wir gleich noch zu. Noch einmal aber zu der Frage, also wenn wir das vor einer Woche vor den Angriffen geführt hätten, das Interview, wenn wir über den Ist-Zustand geredet hätten, ist die PKK noch eine Terrororganisation?
Lüders: Die PKK hat einen Wandel vollzogen von einer Terrororganisation in der Vergangenheit hin zu einer politischen Partei, die sie mehr und mehr geworden ist, und wir wollen nicht vergessen, dass ja auch die Bundesregierung einen sehr pragmatischen Umgang mit der PKK pflegt. Offiziell gilt die PKK in Deutschland, in der Europäischen Union als Terrororganisation, aber, wie wir wissen, liefert die Bundesregierung Waffen an die Kurden im Norden des Irak, die sogenannten Peschmerga. Die eigentlichen Kämpfer gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak sind aber vor allem Kämpfer der PKK, die also indirekte Waffen auch aus Berlin erhalten.
Müller: Und Sie haben das eben auch erwähnt, ein Jahrzehnte alter Konflikt zwischen den Türken und den Kurden beziehungsweise zwischen der türkischen Regierung und der PKK. 60.000 Menschen sollen dem zum Opfer gefallen sein. Jetzt kommt ausgerechnet der Politiker - damals Ministerpräsident - Erdogan und hat gesagt, das Ganze hat keinen Sinn mehr, wir müssen aufeinander zugehen, die Mütter dürfen nicht mehr länger ihre Söhne verlieren, und ausgerechnet dieser Ministerpräsident, der jetzt Staatspräsident ist, bricht das Ganze jetzt wieder entzwei. Warum?
Erdogan und seine Entourage weitgehend beratungsresistent
Lüders: Ja, das ist eine tragische Entwicklung, denn eigentlich war ja die Türkei wirtschaftlich und politisch gut aufgestellt, aber der Allmachtsanspruch des mehr und mehr sultanisch auftretenden Präsidenten Erdogans und seiner Entourage, die sich weitestgehend als beratungsresistent erweisen, hat zur Folge, dass die Türkei jetzt in eine unabsehbare politische und wirtschaftliche Krise rutscht. Der entscheidende Grund ist, dass die AK-Partei bei den letzten Wahlen im Juni die absolute Mehrheit der Stimmen verloren hat.
Müller: Also die Regierungspartei AKP, sagen wir häufig. Sie sagen AK.
Lüders: Ist beides das Gleiche. Jedenfalls diese Regierungspartei hat ihre Mehrheit verloren, und Erdogan ist nicht geneigt, eine Regierungskoalition mit der HDP, der kurdisch dominierten Partei, zu bilden, er will vielmehr Neuwahlen durchführen lassen im November. Und sein Kalkül ist es, die HDP in die Nähe einer Terrororganisation, der PKK, zu rücken, um auf diese Art und Weise ihre führenden Vertreter unter entsprechende Terrorverfolgung zu stellen, sodass sie nicht mehr antreten können zu den Wahlen. Er will die Ultranationalisten in der Türkei hinter sich vereinen in der Hoffnung, dass dann die AK-Partei wieder die absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist schwer zu sagen, aber es wird hier eine neue Front aufgemacht in einer ohnehin sehr instabilen Region. Als sei die Bedrohung durch den Islamischen Staat nicht schon schlimm genug, sind die Kurden, obwohl sie die wichtigsten Kämpfer sind gegen den Islamischen Staat, nunmehr in der Bredouille, sie müssen jetzt einen Zweifrontenkrieg führen gegen die Angriffe der türkischen Armee und gegen den Islamischen Staat.
Müller: Herr Lüders, bleiben wir bitte nochmal bei der Begründung. Also kann das wirklich alles sein? Kann das wirklich alles sein, dass Erdogan im parlamentarischen System mit seiner Regierungspartei die Mehrheit verliert und dann umschaltet von parlamentarischen Gepflogenheiten, von freien Wahlen – wie frei sie auch immer waren – dann plötzlich auf Krieg?
Lüders: Ja, das ist eine sehr schlichte Mentalität, die hinter dem Kalkül von Erdogan steht. Vergessen wir nicht, dass es in der Türkei sehr starke nationalistische Tendenzen gibt, die in jeder Annäherung an die PKK, an die Kurden, ohnehin zuwider, ein Gräuel ist. Sie wollen das um jeden Preis vermeiden, weil hier das alte atatürkische Staatsideal noch nachwirkt, demzufolge es nur Türken gibt, keine Kurden, keine Armenier, keine Juden, keine sonstigen Minderheiten, es gibt eben nur den Türken und der Türke hat nur den Türken als Freund, so das Credo Atatürks, und das wirkt bei Ultrakonservativen in der türkischen Gesellschaft bis heute fort.
Müller: Aber Erdogan hat das ja gesagt, es gibt auch Kurden, und sie müssen auch partizipieren.
Schande westlicher Politik: grünes Licht für den Kurswechsel
Lüders: Das hat er gesagt, in der Tat, aber er nimmt eben Rücksicht auf die Stimmung im Land. Er muss sich überlegen, wie kann er jetzt politisch voranschreiten. Er kann jetzt, wenn er ein historisch visionärer Staatsmann wäre wie Charles de Gaulle, der Algerien in Unabhängigkeit entlassen hatte, dann hätte er den Mut, mit den Kurden einen historischen Frieden zu schließen und endgültig dieses Problem beiseite zu schaffen. Es geht ja den Kurden in der Türkei längst nicht mehr um Unabhängigkeit, sondern um Autonomie. Alleine deswegen, weil die meisten Kurden nicht mehr im Südosten der Türkei leben, sondern in Istanbul. Aber es gibt eben auch diese starken nationalistischen Kräfte, und denen ist Erdogan erlegen. Und zur Schande westlicher Politik muss man sagen, dass sowohl die NATO, wie auch die EU, und vor allem Washington, der Regierung Erdogan mehr oder weniger grünes Licht gegeben hat für diesen Kurswechsel, sodass hier eine enorme Krise, eine schwere Krise sich abzeichnet, in diesem ohnehin schon sehr schwierigen Umfeld.
Müller: Wir hatten genau das auch eben versucht ja zu thematisieren. Also aus Washington gibt es klares grünes Licht dafür, also für die Aktion in erster Linie wohl gerichtet auf die Bombardements gegen die IS-Stellungen, damit verbunden eben aber auch die Luftangriffe auf die PKK. Ist das aus westlicher Sicht, auch aus amerikanischer Sicht, erst recht aus türkischer Sicht, Verrat an den besten Verbündeten, die man im Norden Iraks und in Syrien hat?
US-Haltung so fatal wie Sturz Saddam Husseins und Syrienpolitik
Lüders: Ja, so kann man das in der Tat sehen, denn die Kurden tragen, wie erwähnt, die Hauptlast des Kampfes gegen den Vormarsch des Islamischen Staates, sowohl im Irak, wie auch in Syrien. Sie werden einerseits bewaffnet, unter anderem auch von der Bundesregierung, um den Kampf zu führen gegen diesen Islamischen Staat, und nun also werden die Kurden zum Erzfeind erkoren von der türkischen Regierung - das kann natürlich nicht gut gehen. Und ich glaube, dass diese Entscheidung, vor allem der Amerikaner, die Regierung Erdogan hierin zu unterstützen, ein mindestens ebenso großer Fehler ist wie der Sturz Saddam Husseins 2003 war und der Entschluss, um jeden Preis Baschar al-Assad in Syrien stürzen zu wollen. Beides hat erheblich beigetragen zum Erfolg und zum Vormarsch des Islamischen Staates. Und nun haben die Kurden das Problem, dass sie einen Zweifrontenkrieg führen müssen. Den Islamischen Staat wird es freuen, und das ist eine sehr ungute Nachricht. Und es zeigt, dass der Westen keinen Plan hat, wie er mit dem Islamischen Staat umgehen will – weder militärisch, noch politisch.
Müller: Haben Sie da eine Erklärung dafür, warum Washington so weit geht, denn Washington ist in der Regel ja, wenn es um Verbündete geht, sehr pragmatisch, egal was die vorher angestellt haben, aber wenn sie jetzt dem Zweck dienen, in die richtige Richtung zu schießen, dann ist man ja in der Regel auf deren Seite und unterstützt sie auch, machen sie ja auch. Und jetzt geben sie die Idee auf?
Lüders: Ja, das ist in der Tat erstaunlich. Die Nahost-Politik Obamas hat sich als sehr konstruktiv erwiesen im Umgang mit dem Iran - hier ist ein Atomabkommen unter Dach und Fach -, aber mit Blick auf das, was im Irak und in Syrien geschehen ist in den letzten zwölf Jahren, ist man doch sehr überrascht angesichts des Mangels eines klaren Konzeptes. Im Grunde verwaltet Washington hier das selbstverschuldete Chaos in diesen beiden Ländern, und dies ist jetzt die letzte Volte in diesem Zusammenhang, und das verheißt nichts Gutes für die Region. Mit dieser Entscheidung, die Kurden in den Krieg hinein zu beziehen, und zwar als Gegner, als Feinde, hat man eine Büchse der Pandora geöffnet, und ich sehe nicht, wie man die wieder einfangen wird. Es werden die Flüchtlingsströme zunehmen, es wird das Chaos zunehmen, und es gibt keine politische Perspektive, diesen Konflikt zu beenden.
Müller: Danke nach Berlin, danke an Nahost-Experte Michael Lüders!
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