Tolga Yilmaz aus Istanbul hat heute einen Jahrestag – allerdings einen, den er nicht feiert: Vor genau einem Jahr hat der 35-Jährige sich scheiden lassen:
"Wir kannten uns lange, bevor wir geheiratet haben. Das erste Jahr nach der Hochzeit war auch noch schön, aber dann kamen die Probleme."
Tolga Yilmaz liegt damit voll im Trend: Um 40 Prozent hat sich die Scheidungsrate in der Türkei seit dem Jahr 2005 erhöht. Der Grund sei die wachsende Zahl berufstätiger Frauen, behaupten konservative Türken. Falsch, kontern ihre Gegner: Schuld sei die vor allem in religiösen Kreisen nach wie vor verbreitete Praxis, Ehen für ihre Kinder durch die Eltern arrangieren zu lassen. Tolga Yilmaz hat seine ganz eigene Erklärung:
"Unsere Mütter waren noch bereit, alles hinzunehmen. Aber heute sind die Mädchen nicht mehr so. Sie sehen alles mögliche im Fernsehen und träumen dann von einem solchen Leben!"
Das Fernsehen als Ehekiller? Genau so ist es, schimpfen die Konservativen im Land und kritisieren vor allem die zahlreichen türkischen Serien, die die Nation allabendlich vor dem Bildschirm versammeln.
Ihre Inhalte sind die gleichen wie vielerorts auf der Welt: Liebeskummer, One-Night-Stands, Ehebruch. Für den Theologieprofessor Abdülkerim Bahadir, ist klar, dass es genau diese Filme sind, die Schuld am Verfall der Gesellschaft tragen. In einem Zeitungsinterview betonte er:
"Wenn die Schauspieler in den Serien unmoralisch oder illegal handeln, dann wird das als ganz normal dargestellt. Die Zuschauer aber nehmen sie als Vorbild und sagen: Wenn der das macht, dann darf ich das auch. Deswegen sind solche Fernsehserien schlecht für die Menschen und sie zerstören die türkischen Familienstrukturen!"
Genau diese Familienstrukturen aber gelten gerade in einem muslimisch geprägten Land wie der Türkei als heilig. Nicht durch Zufall regelt die islamische Scharia neben allen anderen Aspekten des Lebens auch die Familienangelegenheiten der Gläubigen bis ins kleinste Detail. Denn das Wohlergehen der muslimischen Gemeinschaft, so predigen es auch türkische Imame, hängt nicht zuletzt vom Wohlergehen der einzelnen Familie ab. Selbst dort, wo längst nicht mehr fünf Mal am Tag gebetet wird, hat dieses Denken die Kultur über Jahrhunderte hinweg geprägt. Auch in säkularen Kreisen lag die Scheidungsrate in der Türkei daher traditionell weit unter jener in Europa.
"Scheidungen sind im Islam halal, also erlaubt. Aber in den Augen Gottes sind sie von allem Erlaubten doch das Verwerflichste!",
erklärt Mehmet Erdogan von der theologischen Fakultät der Istanbuler Marmara Universität. Auch er betrachtet die aktuelle Entwicklung in seinem Land mit Sorge:
"In der modernen Sichtweise gilt eine Person als völlig unabhängig von ihrem Partner. Ganz so, als wären Eheleute nicht zwei Hälften desselben Apfels, sondern zwei ganz unterschiedliche Äpfel an einem Baum. Aber schon unser Prophet sagte: Frauen sind eure andere Hälfte. Unverheiratete Menschen gelten uns deswegen als unvollständig."
Und so überrascht es nicht weiter, dass Religiöse wie Mehmet Erdogan auch die wachsende Zahl von Singles in Städten wie Istanbul und Ankara mit Sorge erfüllt. Noch liegt das durchschnittliche Heiratsalter für türkische Männer bei gut 26, für Frauen bei 23 Jahren. Tendenz allerdings steigend!
Mit staatlich finanzierten Ehevorbereitungskursen versucht das AKP-geführte Familienministerium gegenzusteuern: Heiratswillige Paare lernen dort, über Probleme zu sprechen, wie man Beziehungen pflegt und sogar, welche Rolle die Sexualität in der Ehe spielt. Das Ja-Wort geben sie sich dann als zertifizierte Ehepartner. Ähnlich gibt es Kurse für diejenigen, die kurz vor der Scheidung stehen. Immer öfter aber hilft auch das nicht mehr. Dann sind selbst strenge Muslime wie Theologe Mehmet Erdogan nicht grundsätzlich gegen eine Trennung.
"Es ist wie mit den Topfdeckeln in der Küche. Wenn der Deckel nicht zum Topf gehört, wird er niemals passen. Da macht es keinen Sinn, zu insistieren. Vielleicht haben diese Menschen ihre zweite Hälfte dann einfach noch nicht gefunden. In diesem Fall ist der Islam nicht so streng wie etwa die katholische Kirche und sagt: Du darfst nicht erneut heiraten."