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Türkei
Nachts kommen die Schatzgräber

Aramäer, Assyrer, Armenier – sie alle fanden dort zum Christentum, wo heute die Türkische Republik liegt. Von ihnen blieben Kirchen, Klöster und Kapellen. Die steinernen Zeugnisse des frühen Christentums verfallen. Eine wissenschaftliche Initiative zum Erhalt des nicht-muslimischen Kulturerbes der Türkei versucht zu retten, was fast nicht mehr zu retten ist.

Von Susanne Güsten |
    Blick auf die Ruinen des 961 erbauten Ösk-vank-Klosters, aufgenommen 1997.
    Blick auf die Ruinen des 961 erbauten Ösk-vank-Klosters, aufgenommen 1997. (picture alliance / dpa / Phil Wood)
    Ein kurdisches Bergdorf in der Provinz Van, im äußersten Osten der Türkei. Varag hieß der Berg früher auf armenisch, und obendrauf stand ein berühmtes armenisches Kloster, das Varagavank. Von einem armenischen König um das Jahr 1000 nach Christus gegründet, diente das Kloster jahrhundertelang als Sitz des Erzbischofs von Van. Heute gibt es keine Armenier mehr in Van – sie wurden in den anatolischen Christenmassakern vor hundert Jahren vertrieben und massakriert. Doch zwischen den Hütten und Ställen dieses ärmlichen Kurdendorfes sind die gemauerten Bögen des Klosters Varagavank noch immer erkennbar. Ein älterer Kurde namens Mehmet Coban schließt ein improvisiertes Tor auf, mit dem er das Gebäude abgeriegelt hat.
    "Kilisemiz bu."
    Das ist unsere Kirche, sagt Coban und blickt stolz um sich. Die Säulen und Bögen sind intakt, viele der verblassten Fresken an Säulen und Wänden noch als Heiligenbilder erkennbar. Von den Kuppeln im Dach sind aber mehrere eingestürzt – ein Stück Wellblech zeugt von einem ungeschickten Versuch, das Kirchenschiff vor Schnee und Regen zu schützen. Einige Wände sind russgeschwärzt. Coban führt durch die Ruine:
    "Hier Vorsicht, nicht den Kopf anhauen. Als unser Stamm sich in den 1950er Jahren hier niederließ, da gab es kaum bewohnbare Häuser hier, nur die alten Häuser der Armenier, aber das reichte nicht. Unsere Leute haben also gewohnt, wo sie ein Dach über dem Kopf fanden. Zehn Familien haben sich hier in der Kirche eingerichtet und sie mit Zelten untereinander abgeteilt. Jede Familie hat in ihrem Zelt ihren eigenen Ofen gehabt – daran liegt es, dass die Steine geschwärzt sind."
    Aus sieben Kirchen soll das Kloster einst bestanden haben, nicht alle haben überlebt. Als Viehställe nutzen die kurdischen Hirten einige der Bauten, andere sind eingestürzt. Die Hauptkirche hat Mehmet Coban aber ausgemistet und nach seinen bescheidenen Möglichkeiten hergerichtet.
    "Ich habe den Dreck schubkarrenweise hier rausgeräumt. Mindestens 200 Karren voller Mist habe ich hier rausgeschaufelt, einen Meter tief lag der Dreck."
    Nicht aus Pietät macht Coban das, sondern für die Spenden der armenischen Besucher, die im Sommer manchmal aus Armenien und Amerika kommen, um die alte Heimat zu sehen. Trotz seiner Mühen verfällt das Kloster immer weiter.
    "Nachts kommen die Schatzgräber. Ich guck hin, da ist die Türe aufgebrochen, drinnen sind sie am graben. Was habt ihr da zu graben, frage ich. Wir suchen den Schatz, sagen sie. Unser kurdisches Volk hat leider keinen Grips – wenn sie einen historischen Bau sehen, denken sie gleich, dass da ein Schatz zu holen ist."
    Das Schicksal von Kloster Varagavank ist kein Einzelfall, sondern trauriger Alltag in Anatolien, wo seit der Vertreibung der Armenier 1915 und der Ausweisung der Griechen im Bevölkerungsaustausch von 1923 tausende verwaiste Kirchen und Klöster verfallen. Wie viele es sind, wissen nicht einmal die Experten von der Initiative zur Bewahrung des nicht-muslimischen Kulturerbes der Türkei, sagt die Architekturprofessorin Banu Pekol, die als Expertin für armenische Architektur mitarbeitet.
    "Das versuchen wir mit dieser Initiative gerade festzustellen. Unsere Kollegen von der Hrant-Dink-Stiftung machen die Literaturstudien. Sie durchkämmen alle verfügbaren Texte – Reiseberichte, Archive, alte Steuerunterlagen, Briefe, Postkarten – und erstellen eine Bestandsaufnahme, die bereits tausende Kirchen, Klöstern, Synagogen und andere Bauten der nicht-muslimischen Gemeinden von Anatolien verzeichnet."
    Mit diesen Bestandslisten reisen die Experten von der Initiative vor Ort. Baustatiker, Kunsthistoriker, Architekten und Restauratoren aus dem In- und Ausland gehören zu den Forschungsgruppen, die vor Ort die Kirchen aufspüren, abmessen, fotografieren und dokumentieren. Dabei entdecken sie weit mehr als geahnt, sagt Pekol.
    "Nehmen wir nur mal unseren jüngsten Besuch in der Provinz Kayseri. Auf den Listen des türkischen Kulturministeriums sind 40 armenische Kirchen und Kapellen registriert, aber wir haben bei unserer Feldstudie mehr als 140 vorgefunden. Es ist wirklich schwindelerregend, wie wenig vom Staat registriert ist und wieviel tatsächlich vorhanden ist."
    Vom türkischen Staat gibt es keine Unterstützung für die Initiative zur Erfassung des nicht-muslimischen Kulturerbes – finanziert wird das Pilotprojekt komplett von einem amerikanischen Kulturfonds. Die türkische Einstellung zum christlichen und jüdischen Kulturerbe des Landes ist auch am Zustand dieser Stätten erkennbar, sagt die Professorin.
    "Es ist schockierend zu sehen, wie diese Bauten dem Verfall und der mutwilligen Zerstörung überlassen wurden. Manche Kirchen sind zu Moscheen umfunktioniert worden und blieben dadurch zumindest erhalten. Die übrigen wurden teils als Lagerhallen genutzt, teils dem Verfall überlasssen. Manchmal ist die Zerstörung auch mutwillig – zum Beispiel haben wir neulich in Kayseri eine Kirche gesehen, da hatte ein Schafhirte die Kuppeln eingeschlagen, um sie als Kamine für das Feuer zu nutzen, mit dem er seine Tiere warm hält. Und dann ist natürlich immer alles mit Graffiti verschmiert – es ist unglaublich, wohin die Leute überall ihren Namen schmieren."
    Schwer zu glauben ist es für die Experten manchmal, dass diese verfallenen Ruinen, die sie da orten und vermessen wie jahrtausendealte Relikte, noch vor hundert Jahren lebendige Orte des Gottesdienstes waren.
    "Vor hundert Jahren war ein Drittel der Bevölkerung von Kayseri christlich und diese Bauten wurden alle noch genutzt. Wir haben von vielen dieser Kirchen und Klöster sogar Fotos, die sie intakt und in lebendigem Gebrauch zeigen. Das ist natürlich sehr nützlich für uns, aber auch immer wieder überwältigend und bewegend, wenn wir sie dann in ihrem jetzigen Zustand vorfinden - das schiere Ausmaß des Vandalismus."
    Nur vier von 81 türkischen Provinzen hat die Initiative bisher untersuchen können. Zwei weitere Provinzen waren geplant, sind aber wegen der Kämpfe zwischen kurdischen Rebellen und türkischen Sicherheitskräfte in der Südosttürkei derzeit nicht für sie erreichbar. Und völlig offen bleibt die Frage, was über die Bestandsaufnahme hinaus für dieses Kulturerbe getan werden kann – wie gerettet werden kann, was noch zu retten ist, und vor allem: wer das bezahlen und verwirklichen soll. Banu Pekol hofft auf internationalen Druck:
    "Wenn sich hier etwas bewegt, dann ist das in der Regel nur, wenn das Ausland darauf aufmerksam geworden ist. Das ist der Schlüssel zu einem Projekt wie diesem. Wir brauchen internationale Aufmerksamkeit und, ja, internationalen Druck."