Archiv

Türkei vor dem Referendum
Wirtschaft in Wartestellung

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verspricht: Nach einem "Ja" beim Referendum wird es der Wirtschaft besser gehen. Experten zweifeln daran - nicht zuletzt, weil die türkische Industrie von Impor­ten abhängig ist. Aktuell bewerten sie die wirtschaftliche Lage als kritisch: Die Landeswährung hat seit 2016 knapp ein Drittel an Wert verloren.

Von Reinhard Baumgarten |
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht in Ankara.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verspricht, dass es nach einem Ja für seine Allmachtswünsche wirt­schaftlich bergauf gehen werde. (AFP / ADEM ALTAN)
    Die EU-Staaten sind die wichtigsten Wirtschafts- und Handelspartner der Türkei. Etwa die Hälfte aller Im- und Exporte wickelt die Türkei mit der EU ab. Für den Wahlkämpfer Recep Tayyip Erdoğan scheint das nicht zu zählen, wenn er deklariert:
    "Wir haben es mit einem Kontinent zu tun, der in jeder Hinsicht immer weiter verfault. Und weil ihnen das auch bewusst ist, versuchen sie es zu vertuschen, indem sie Fremdenhass, Türken- und Islamfeindlichkeit schüren."
    Die türkische Wirtschaft ist offiziellen Zahlen zufolge im vergangenen Jahr um durchschnittlich 2,9 Prozent gewachsen. Die Quote drohte niedriger auszufallen, aber Ankara wählte eine von Fachleuten in Zweifel gezogene neue Berechnungsmethode.
    Wirtschaftslage derzeit kritisch
    Präsident Erdoğan weiß, dass er von vielen Wählern am Erfolg seiner Wirtschaftspolitik gemessen wird. Die regierungsnahe Presse lobt die Erfolge. Der Wirtschaftsexperte Necep Bağaoğlu von der Germany Trade Invest GmbH beurteilt die Lage der Wirtschaft anders:
    "Ich würde mal sagen, kritisch. Desaströs wäre etwas übertrieben."
    Die Arbeitslosigkeit ist binnen Jahresfrist um 3 Prozent auf jetzt 12,7 Prozent gestiegen. Die Inflation ist auf 11,3 Prozent geklettert. Die Landeswährung hat seit Sommer vergangenen Jahres um knapp ein Drittel an Wert verloren.
    "Einerseits will die Regierung die Wirtschaft und die lahmende Konjunktur ankurbeln durch niedrigere Zinsen, durch Mehrausgaben des Staates und so weiter. Andererseits führt der Wechselkursrutsch - also die Abwertung der türkischen Lira - zu einer Kostensteigerung bei den Importen."
    Bei den Importen geht es nicht nur um Konsum- und Gebrauchsgüter, betont Necep Bağaoğlu. Die türkische Industrie ist zur Fertigung eigener Produkte stark von Importen abhängig.
    "Man ist sehr stolz, dass die Auto-Exporte unheimlich hoch sind und voranschreiten. Wenn man aber bedenkt, dass da immer noch mindestens 60 Prozent importierte Anteile drin sind - das sind Technologieprodukte wie Motor oder Getriebe, die nicht in der Türkei hergestellt werden - dann sieht man, wo das Problem liegt."
    Sprung vom Billiglohnland zum Industriestandort
    Die Wertschöpfung aus eigener Kraft ist im internationalen Vergleich mit knapp elf Prozent eher gering. Gleichzeitig empfiehlt sich die Türkei aufgrund der in den vergangenen Jahren gestiegenen Einkommen nicht mehr als Billiglohnland. Die Türkei müsse den Sprung vom Billiglohnland zum Industriestandort schaffen, meint Wirtschaftsexperte Bağaoğlu:
    "Dazu braucht man ein gutes Bildungssystem und man braucht Forschung, Und da ist die Türkei sehr schwach. Das Bildungssystem ist nicht gut, nicht Praxis orientiert, und die Forschungsaufwendungen sind viel zu niedrig."
    Hinzu kommen die Säuberungen und Entlassungen an den Schulen und Universitäten des Landes, die das Bildungsniveau weiter nach unten zu drücken drohen. Kritik und Mahnungen aus Europa weist Präsident Erdoğan brüsk zurück:
    "Wir sprechen uns nach dem 16. April."
    Nach dem Referendum würden Rechnungen beglichen und die EU müsse für viele Unverschämtheiten bezahlen. Bis dahin und wahrscheinlich auf darüber hinaus:
    "Ist die ganze Wirtschaft, sind viele Investoren in Wartestellung momentan."
    Rechtsunsicherheit und politische Instabilität schaden der Wirtschaft – egal wo. Unternehmer wollen wissen, woran sie sind.
    Erdoğan verspricht wirtschaftlichen Aufschwung
    "Wir haben in den letzten Wochen und Monaten staatliche Übernahmen von Firmen und so weiter gehabt. Das sind natürlich keine guten Beispiele, die ausländische Firmen dazu ermutigen, in die Türkei zu kommen. Zumal es viel Konkurrenz gibt. Es gibt ja viele andere Länder, wo man investieren kann. Das ist ja nicht nur die Türkei", sagt Bağaoğlu.
    Präsident Erdoğan verspricht, dass es nach einem Ja für seine Allmachtswünsche wirtschaftlich bergauf gehen werde. Spötter kommentieren dieses Versprechen mit den Worten, wer die Absätze an seinen Schuhen vorne trage, der habe immer das Gefühl, dass es bergauf gehe.