Philipp May: Trotz internationaler Aufrufe zur Zurückhaltung, hat die türkische Armee ihre Offensive gegen syrische Kurden in Afrin fortgesetzt, auch mit deutschen Leopard-Panzern. Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge, wurden bisher mindestens 100 Menschen getötet, etwa ein Viertel von ihnen Zivilisten. Am Telefon ist jetzt der Außenpolitik-Experte und stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich. Guten Morgen!
Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr May.
May: Herr Mützenich, töten deutsche Waffen westliche Verbündete in Nordsyrien?
Mützenich: Das ist nicht ganz auszuschließen, dass hier offensichtlich Leopard-Panzer im Einsatz sind. Zumindest deuten die Fotos darauf hin. Ich bin auch nur auf das angewiesen, was die Bundesregierung jetzt verlautbart hat, dass man das noch nicht mit abschließender Sicherheit sagen kann.
Das Dilemma der Rüstungslieferungen
May: Müssen wir uns darauf einstellen, dass die irakisch-kurdischen Peschmerga ihren syrisch-kurdischen Waffenbrüdern zur Hilfe eilen? Dann würden sie sich mit deutschen Panzerabwehrraketen gegen die deutschen Panzer der Türkei verteidigen.
Mützenich: In diesem Dilemma haben wir von Anfang an gesteckt und niemand bei uns im Deutschen Bundestag – wir haben nicht unmittelbar über die Rüstungslieferungen entschieden – war das klar. Aber dieses Dilemma war auch dadurch gegeben, dass sich der IS ja massiv vorangekämpft hat in den kurdischen Gebieten und am Ende eine solche Abwägung erfolgen musste. Aber ich finde, das nachträglich jetzt wieder vorzuwerfen, auch etwas falsch und teilweise auch in der Berichterstattung zynisch.
May: Jetzt könnte Deutschland aber natürlich auch Nachschub an die Türken und die Kurden verkaufen.
Mützenich: Das wäre möglicherweise durchaus in der Tat zu diskutieren. Aber ich habe zum Beispiel auch bereits mich vor 14 Tagen dazu geäußert, dass ich eine solche Entscheidung für falsch halten würde.
"Es stellt sich die Frage, wie wir mit NATO-Partnern umgehen"
May: Ich frage das deswegen, weil wir seit gestern wissen, dass die Genehmigungen für Rüstungsexporte in der letzten Legislaturperiode ja stark angestiegen sind, also seitdem die SPD das Wirtschaftsministerium übernommen hat – von einem Volumen von 20 auf 25 Milliarden Euro.
Mützenich: In der Tat, das ist zu kritisieren, insbesondere weil wir ja auch andere Ansprüche gehabt haben. Umso mehr bin ich froh, dass wir bei den Sondierungsgesprächen uns endlich mit der Union darauf verständigt haben, die Rüstungsexport-Richtlinien zu schärfen und insbesondere unmittelbar an alle Länder, die im Jemen-Krieg beteiligt sind, keine Kriegswaffen liefern.
May: Jetzt hat das ja nun nichts mit dem Jemen-Krieg zu tun. Müssen wir auch einen Lieferungsstopp an die Türkei noch mal ganz klar in den Koalitionsvertrag reinschreiben?
Mützenich: Ich denke, dass wir in den Rüstungsexport-Richtlinien auf jeden Fall uns mit dieser Frage beschäftigen müssen. Insbesondere stellt sich ja die Frage, wie wir mit NATO-Partnern umgehen, weil in der Vergangenheit diese Lieferungen in der Regel genehmigt wurden. Aber mit der Verschlechterung des deutsch-türkischen Verhältnisses gab es auch Ablehnungen von offensichtlichen Wünschen der türkischen Regierung in den letzten Monaten.
Leopard-Aufrüstung "noch mal genau abwägen"
May: Jetzt hat Ihr Parteikollege und Außenminister Sigmar Gabriel seinem türkischen Amtskollegen Chavusoglu offenbar eine Aufrüstung der Leopard-Panzer durch die deutsche Rüstungsfirma Rheinmetall in Aussicht gestellt. Das berichtet zumindest der "Spiegel". Ist das jetzt alles wieder hinfällig?
Mützenich: Meine Stellungnahme habe ich Ihnen eben gesagt. Vor 14 Tagen habe ich gesagt, das muss man auf jeden Fall noch mal genau abwägen, und ich bleibe bei dieser Position. Ich glaube, dass wäre zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Signal.
May: Also keine Waffenlieferungen mehr an die Türkei? Das glaubt auch Sigmar Gabriel, Ihr Parteikollege. Haben Sie mit dem schon gesprochen?
Mützenich: Am Ende muss die Bundesregierung entscheiden. Aber ich würde mich nicht alleine auf Herrn Gabriel beziehen, sondern die Bundeskanzlerin ist diejenige, die auch mit Präsident Erdogan - das ist nun mal die Ebene - darüber reden muss, was zurzeit in den kurdischen Gebieten passiert. Das ist nicht nur alleine Angelegenheit der sozialdemokratischen Kabinettskollegen.
"Möglichkeiten, auf die Türkei einzuwirken, stärker nutzen"
May: Wie fanden Sie denn die Reaktion der Bundesregierung, vor allem die des SPD-Außenministers Sigmar Gabriel? Die war ja tendenziell eher kleinlaut.
Mützenich: Nicht kleinlaut, aber ich glaube anders, als möglicherweise einige europäische Partner, und genau da würde ich mir wünschen, dass wir eine stärkere Abstimmung mit europäischen Partnern hätten, um überhaupt noch die letzten Möglichkeiten, auf die Türkei einzuwirken, auch stärker zu nutzen.
May: Wie kann man denn auf die Türkei einwirken? Sie haben Besorgnis ausgedrückt, die Bundesregierung. Das wird Erdogan ja wahrscheinlich nicht so beeindrucken.
Mützenich: Nein, nicht beeindrucken. Aber ich glaube, wir müssen sehr deutlich machen – und das hat sich ja auch gezeigt in den Monaten, wo wir gesagt haben, wir versuchen, eine andere Türkei-Politik innerhalb der Europäischen Union zu vollziehen -, zum Beispiel die Visa-Liberalisierung und insbesondere auch die Erweiterung der Zollunion mit konkreten Fortschritten in der Türkei zu verknüpfen. Das wäre meine Empfehlung, dies auch weiter konsequent durchzuhalten.
"In der Türkei haben sich neue Kräfte etabliert"
May: Jetzt versucht ja die Bundesregierung gerade wieder eine Annäherung an die Türkei und die Türkei auch. Ist das alles hinfällig?
Mützenich: Es ist auf jeden Fall wieder auf der Kippe und wir sehen, in der Türkei haben sich nach dem Militärputsch auch neue Kräfte etabliert, nicht nur in der Regierung, sondern im Militär selbst, die, glaube ich, eine klare Grundlage haben, sich von den Werten, aber insbesondere möglicherweise auch von den internationalen Institutionen, aber auch der NATO langfristig abzuwenden.
May: Was heißt das für das Verhältnis der Türkei auch zur NATO? Kann dieses Land, wenn es weiter im Prinzip solche Alleingänge gegen alle NATO-Partner startet, noch länger NATO-Mitglied sein?
Mützenich: Das muss insbesondere die Türkei beantworten. Es gibt ja keine Ausschlussklausel in der NATO selbst. Aber ich finde, das gehört mit auf die Tagesordnung, weil das, was die Türkei zurzeit tut, auch einen internationalen Konflikt befördern würde. Insbesondere, glaube ich, ist ja dieser Einmarsch auch vor dem Hintergrund gegeben, dass die Türkei in der Nachkriegsordnung Syriens ein Wort mitreden will, und ich glaube, das gehört mit auf die Tagesordnung innerhalb der NATO.
"Kurden sind wieder der Verlierer in dieser Situation"
May: Aber die Dummen, das sind jetzt die Kurden?
Mützenich: In der Tat. Die Kurden sind wieder der Verlierer in dieser Situation. Aber ich würde das auch nicht alleine nur gegenüber der Türkei formulieren, sondern die USA und Russland, aber auch der Iran spielen ein zynisches Spiel in der Situation einer Bildung einer Nachkriegsordnung im Nahen und Mittleren Osten.
May: Aber de facto haben die Kurden zunächst die Drecksarbeit gemacht für die westlichen Verbündeten, nämlich tatsächlich in der Feldschlacht den IS zurückgedrängt, und jetzt kriegen sie keine Unterstützung vom Westen, weil der sich nicht mit der Türkei anlegen möchte.
Mützenich: Zumindest bekommen die Kurden hier keine politische Unterstützung. Es gab aber auch immer wieder von unserer Seite aus Besuche, auch Kontakte, gerade auch mit diesen Kräften, die ja versucht haben, in Syrien und unter Nutzung auch der syrischen Integrität ein eigenes Gebiet letztlich zu sichern. Wir haben aber auch Berichte, dass es hier Vertreibung gegeben hat von Arabern, aber auch auf der anderen Seite von Kurden, die sich gegen dieses Gebiet gestellt haben. Das ist nicht nur eine einseitige Frage.
"Die Türkei nutzt diese Situation aus"
May: Teilen Sie durchaus die Einschätzung von der Türkei und von Staatspräsident Erdogan, dass die YPG eigentlich tatsächlich nur der verlängerte Arm der PKK ist, die ja auch in Deutschland als Terrororganisation eingestuft wird?
!Mützenich:!! Nein, das tue ich nicht. Ich weiß zwar, dass es eine ideologische Kooperation und auch immer wieder ideologische Anleitungen gibt, aber meines Erachtens ist der Unterschied insbesondere dadurch gegeben, dass man sich zurzeit auf das Gebiet Syrien bezieht, und alles das, was ich erlebt und gelesen habe, zeigt nicht immer, dass es eine kurdische Einheit in den Gebieten gibt verschiedener Staaten im Nahen und Mittleren Osten.
May: Wenn wir jetzt auf die Gesamtsituation schauen, den Einmarsch der Türkei, das Schweigen des Westens, muss man dann tatsächlich konstatieren, eigentlich kann sich die Türkei alles erlauben, weil die brauchen wir und die Amerikaner, im Gegensatz zur YPG?
Mützenich: Zurzeit ist es so, dass die Türkei diese Situation ausnutzt, maßlos auch ausnutzt, teilweise auch in einer unverschämten Sprache. Auf der anderen Seite müssen wir uns darüber klar werden, dass wie gesagt – und darüber haben wir ja gerade gesprochen – auch innerhalb der NATO über dieses Feld gesprochen werden muss, aber auch Konsequenzen aufgezeigt werden.
"Universelle Menschenrechte mit durchsetzen"
May: Sigmar Gabriel, der geschäftsführende Außenminister, betont ja immer, dass wir in Deutschland lernen müssen, dass wir außenpolitisch nicht nur Menschenrechte hochhalten können, sondern auch Interessen durchsetzen müssen. Ist das jetzt hier so ein Fall?
Mützenich: Ich würde das nicht in den Gegensatz stellen. Ich glaube, Menschenrechte sind anleitend für die internationale Politik, auch in diesem Zusammenhang, auch für andere Fragen. Von daher, glaube ich, hat der Bundesaußenminister das gar nicht in einen Gegensatz gestellt, sondern die Interessen Deutschlands beziehen sich auch darauf, universelle Menschenrechte mit durchzusetzen.
Mützenich: … sagt Rolf Mützenich, Außenpolitik-Experte und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Herr Mützenich, vielen Dank für das Gespräch.
Mützenich: Vielen Dank, Herr May, für die Einladung.
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