Der Geheimdienstexperte spricht von einer Sammelwut eines aus dem Ruder gelaufenen Nachrichtendienstes. Ursprünglich hätten die türkischen Agenten des "Millî İstihbarat Teşkilâtı" (MIT; "Nationaler Nachrichtendienst") die Kurden im Auge gehabt: "Aber jetzt haben wir natürlich ganz andere politische Verhältnisse in der Türkei".
Schmidt-Eenboom warf der Bundesregierung vor, zu wenig dagegen zu unternehmen. Er regte an, "einschlägig bekannte nachrichtendienstliche Hauptamtliche des MIT unter Beobachtung stellen", um Deutschtürken vor Bespitzelungen zu schützen.
Auch die Kooperation des BND und des MIT müsse man kritisch betrachten: Die Türkei habe 2014 begonnen die Zusammenarbeit zu unterlaufen, "als sie auf Nachfragen des BND, welcher Dschihadist ist bei euch gelandet, wo ist der über die syrische Grenze gegangen, nicht mehr geantwortet" habe.
Das Interview in voller Länge:
Stephanie Rohde: Der türkische Präsident Erdogan geht seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei vermehrt gegen politische Gegner vor, und zwar nicht nur in der Türkei, sondern offenbar auch in Deutschland. Und dabei soll ihm der türkische Geheimdienst MIT helfen, und zwar mit Tausenden Agenten und Informanten auf deutschem Boden. Diese Meldung, die könnte die Bundesregierung in Bedrängnis bringen.
Am Telefon ist jetzt der Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, der in den 90er-Jahren auch selbst vom BND überwacht worden ist. Guten Abend, Herr Schmidt-Eenboom.
Erich Schmidt-Eenboom: Guten Abend.
Rund 6000 Informanten in Deutschland
Rohde: Rund 6000 türkische Geheimdienstler sollen im Einsatz sein in Deutschland. Überrascht Sie diese Zahl?
Schmidt-Eenboom: Doch deutlich.
Rohde: Warum?
Schmidt-Eenboom: Wir wissen, dass der MIT über Jahrzehnte hinweg nachrichtendienstliche Strukturen in Westeuropa aufgebaut hat, insgesamt etwa 800 hauptamtliche nachrichtendienstliche Mitarbeiter. Aber die Zahl von 6000 Informanten ist ungemein hoch. Kein anderer Nachrichtendienst ist in der Bundesrepublik so präsent wie der MIT, nicht einmal die Central Intelligence Agency.
Rohde: Welche Belege gibt es denn dafür, dass es tatsächlich 6000 sind?
Schmidt-Eenboom: Das sind Schätzungen sowohl des Bundesamts wie verschiedener Landesämter für Verfassungsschutz, die eigentlich ein gutes Auge auf diese Szene haben, aber in der operativen Überwachung natürlich Schwierigkeiten haben, weil im Augenblick der IS und rechtsextreme Strukturen Vorrang in der operativen Bearbeitung haben.
Rohde: Das heißt, Sie schließen aus, dass das Zahlen sind, die zum Beispiel politisch lanciert wurden jetzt, um Stimmung zu machen gegen die Türkei?
Schmidt-Eenboom: Das möchte ich mal ausschließen, weil es gab schon mehrfach Berichte auch zehn Jahre zurück, dass es eine massive Unterwanderung der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik gibt, nachrichtendienstliche Positionen in Reisebüros, bei Turkish Airlines, bei Banken, in Moscheevereinen und dergleichen.
"Sammelwut eines aus dem Ruder gelaufenen Nachrichtendienstes"
Rohde: Sie sagen jetzt eine massive Unterwanderung, die es da gegeben hat. Auf 500 Deutschtürken kommt ein Agent. Ist das verhältnismäßig Ihrer Meinung nach?
Schmidt-Eenboom: Nein, das ist überhaupt nicht verhältnismäßig. Das ist eine Sammelwut eines aus dem Ruder gelaufenen Nachrichtendienstes, der natürlich in der Vergangenheit schwerpunktmäßig die Kurden in der Bundesrepublik im Auge hatte, insbesondere dann, wenn sie vermeintlich oder tatsächlich mit der PKK zusammengearbeitet haben. Aber jetzt haben wir natürlich ganz andere politische Verhältnisse. Ins Visier rücken auch die Anhänger der Gülen-Bewegung und zudem alle Angehörigen einer demokratischen Opposition gegen Erdogan, und wir stellen ja fest, dass sich schon die Meldungen häufen, dass es Repressionen von Mitangehörigen oder Mitverdächtigen gibt gegenüber der demokratischen Opposition und ihren Medien.
Rohde: Die Bundesregierung weiß ja spätestens seit dem vergangenen Sommer, dass diese türkischen Agenten, wie Sie ja auch sagen, gegen Kurden, gegen Aleviten, gegen Gülen-Anhänger in Deutschland vorgehen. Das geht aus einer Verschlusssache hervor. Seit 2013 wurden in Deutschland nach Angaben des Justizministeriums sechs Verfahren gegen mutmaßliche MIT-Mitglieder geführt. Was tut die Bundesregierung noch, dass Deutschtürken vor der Bespitzelung und der Bedrohung sicher sind?
Schmidt-Eenboom: Sie tut im Augenblick zu wenig. Der Bundesgerichtshof hat vor einigen Jahren geurteilt, dass es eine Schutzpflicht der Bundesrepublik für in Deutschland lebende Ausländer gibt, was den Schutz von nachrichtendienstlichen Nachstellungen und Repressalien betrifft. Aber die Kapazitäten unserer Sicherheitsbehörden sind natürlich viel zu gering und im Augenblick versucht der Bundesinnenminister die Verantwortung auf die Polizeikräfte der Länder abzuschieben, was überhaupt nicht geht. Der Verfassungsschutz muss auf diesem Sektor deutlich aktiver werden.
Rohde: Was sollten die konkret machen? Was können die konkret machen?
Schmidt-Eenboom: Man kann einschlägig bekannte nachrichtendienstliche Hauptamtliche des MIT unter Beobachtung stellen. Man kann Gegenoperationen im nachrichtendienstlichen Bereich fahren. Aber man kann vor allem auf der großen politischen Ebene etwas leisten, denn in der vom Bundeskabinett bereits gebilligten Novelle zum BND-Gesetz steht ja drin, dass es keine partnerliche Zusammenarbeit mit Staaten geben kann, in denen die Einhaltung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien nicht gewährleistet ist, und die heutige Türkei fällt in diese Kategorie. Dann müsste man also konsequenterweise den BND-Residenten aus Ankara abziehen und die hauptamtlichen Mitarbeiter als Persona non grata aus der Bundesrepublik ausweisen.
"Es gibt eine begrenzte Kooperation"
Rohde: Aber können wir denn ausschließen, dass der BND und der MIT auch sich vielleicht gegenseitig dulden, weil sie sich beide Vorteile davon versprechen?
Schmidt-Eenboom: Es gibt eine begrenzte Kooperation, aber die haben die Türken 2014 begonnen zu unterlaufen, als sie auf Nachfragen des BND, welcher Dschihadist ist bei euch gelandet, wo ist der über die syrische Grenze gegangen, nicht mehr geantwortet haben. Das heißt, die türkischen Nachrichtendienste waren 2014 näher am IS als am Bundesnachrichtendienst, und das muss man sich nicht bieten lassen.
Rohde: Jetzt gibt es ja dieses Schreiben von dem MIT, was bekannt geworden ist. Da steht drin, dass der BND auf die deutsche Regierung einwirken soll, dass die Anhänger der Gülen-Bewegung ausgeliefert werden an die Türkei. Das zeigt doch, dass der MIT da eine gewisse Anspruchshaltung hat dem BND gegenüber, dass das vielleicht in der Vergangenheit auch ganz gut funktioniert hat, und sie hoffen, dass es auch weiter funktioniert, oder?
Schmidt-Eenboom: Er hatte immer eine große Anspruchshaltung gegenüber BND und Verfassungsschutz, was Informationen über PKK-Angehörige in der Bundesrepublik Deutschland betraf, aber dann waren immer deutsche Datenschutz-Regelungen im Wege. Man hat den Türken dann nur sehr begrenzt Auskunft gegeben, weil man sehr genau wusste, dass das für die PKK-Mitglieder schwere Nachteile bedeuten kann. Der größte Nachteil war ja wohl, dass im Januar 2013 drei Kurdinnen der PKK in Paris ermordet worden sind, und das hat das nachrichtendienstliche Zusammenarbeitsverhältnis schon mal erheblich eingetrübt.
Machtbestrebungen des türkischen Nachrichtendienstes Grenzen setzen
Rohde: Was fordern Sie jetzt von der Bundesregierung, was sie tut? Was muss sie aufklären?
Schmidt-Eenboom: Sie muss den Verfassungsschutz ganz aktiv auf diese Repressionsmaßnahmen des MIT ansetzen. Sie muss auf internationaler Ebene mit den Türken das nachrichtendienstliche Kooperationsverhältnis brechen. Und sie muss auf europäischer Ebene eine konzertierte Aktion einleiten, um diesen Machtbestrebungen des türkischen Nachrichtendienstes Grenzen zu setzen.
Rohde: Das sagt der Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom. Vielen Dank für das Gespräch.
Schmidt-Eenboom: Bitte!
Rohde: Und dieses Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.