In allen Kolonien rumort es, und die einstige Großmacht Frankreich entlässt - mit großen politischen Debatten und zum Teil auch militärischen Auseinandersetzungen - eine Kolonie nach der anderen in die Unabhängigkeit.
Traute Müller ist am Tag der Unabhängigkeit Tunesiens gerade mal 21 Jahre alt. Die Deutsche heuert 1954 bei einer französischen Familie in Tunis als Au-pair-Mädchen an. Damals hießen Au-Pair-Mädchen übrigens noch Gouvernanten. Und weil ihre französische Familie sieben Kinder hat und deren Mutter Professorin an der Universität in Tunis ist, bekommt die junge Frau den Job.
"1954 bin ich nach Tunesien gekommen. Und zwar hatte ich da einen Posten bei einer Familie, der war zunächst directeur de finance und später Finanzminister, als alles schnell umgeschaltet wurde, als dann alle Tunesier kamen, er hatte sieben Kinder, und die sollten Deutsch lernen. Die hatten ein Haus in Tunis, und da wohnten wir noch 1955 als der Bourguiba angekommen ist. Das war Wahnsinn, das können Sie sich nicht vorstellen. "
Traute Müller erlebt die Umwälzungen des französischen Protektorats Tunesien hautnah. Von einem Tag auf den anderen endet die 75-jährige Ära der Franzosen in Tunesien. Ohne Kampf und ohne Revolution. Ohne Blutvergießen und ohne Köpferollen. Zu verdanken ist dies einem einzigen Mann. Habib Bourguiba. Bourguiba ist tunesischer Nationalist. Zehn Jahre sitzt er für seine politischen Ideen in Frankreich im Gefängnis. Bis 1955. Dann verhandelt er mit der französischen Regierung. Er will die Unabhängigkeit. Frankreich stimmt zu und bewilligt eine teilweise Autonomie. 1955 kam Bourguiba schließlich aus dem Exil am Hafen von Tunis an. Ein Mann des Volkes und schon bald künftiger Premierminister des neuentstandenen Staates. Am Hafen in La Goulette steht das Empfangskomitee.
"Der ist in la Goulette angekommen, dann hatten sie ihm ein weißes Pferd dorthin gebracht, und der ist aufs Pferd gestiegen, und deshalb hat man auch alles, ich weiß nicht ob es hinterher abgebaut wurde unter Ben Ali, überall gab es denn Bourguiba auf dem Pferd, als Denkmal. Und dann kam er in la Goulette an, wurde auf das Pferd gehievt, und dann ritt er bis nach Tunis durch die ganze Stadt- Und ein Menschenauflauf. Vor ihm und hinter ihm und alle klopften. "Ach ja Bourguiba, ach ja Bourguiba, und alles kam einem so unscheinbar vor. Er ist ja ziemlich klein von Statur, das war so ein kleines Männchen auf dem Pferd, aber irgendwie unheimlich glücklich, und die Franzosen haben gesagt, man darf nicht rausgucken, man muss alle Fenster zumachen, man weiß nicht, was das jetzt wird. Natürlich das war ein ganzer Umbruch."
Tunesien beginnt mit Habib Bourguiba, viele sagen auch Tunesien ist Bourguiba. Dabei weiß es heute keiner genau, wann der unscheinbare, aber charismatische Mann geboren wurde. Vielleicht im Jahr 1900. Vielleicht aber auch 1903. Sein ganzes Leben widmet der kleine, untersetzte Tunesier dem Kampf gegen die Franzosen.
"Er hat ja in Paris an der Sorbonne Jura studiert. Und da hat er gewohnt bei einer Französin, die er später geheiratet hat, das war eigentlich seine Vermieterin, eine sehr intelligente und sehr gute Frau, wir haben sie später mal kennengelernt. Er hat in Paris studiert, er war ja ein armer Schlucker."
Bourguiba ist Nationalist. Durch und durch. In arabischen nationalistischen Zirkeln schmiedet er seinen Plan, feilt an seinem Traum: einem freien und unabhängigen Tunesien. Mit acht Jahren muss er mitansehen, wie zwei Tunesier von französischen Soldaten öffentlich guillotiniert werden. Das brandmarkt den Kämpfer sein Leben lang. 1932 gründet er mit seinen Genossen die militante Zeitung "L'Action Tunisienne, 1934 seine eigene Partei: die Neo-Destour. 1946 zieht er nach Kairo um, wo gerade die Arabische Liga gegründet wurde, und dort eröffnet er die ständige Vertretung für den Maghreb.
Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Überall. Frankreich sieht, wie sein Kolonialreich nach und nach zerfällt. Überall brodelt es. Überall schießen nationalistische Befreiungsarmeen aus dem Boden. Der französische Präsident Mendes France weiß, dass er den Trend nicht umkehren, sondern nur aufhalten kann. Als er mit Bourguiba 1955 in Verhandlungen tritt, ist klar: es ist eine Frage der Zeit, bis die Unabhängigkeit des Protektorats kommt. Am 20. März 1956 kündigt Pierre Mendes France das Ende des Protektorats an. Die Franzosen verlassen das Land.
"Und dann kam die große Umwälzung, wo also diese Leute, bei denen ich gearbeitet habe, als erstes weg, die mussten alle raus, ein Posten als Finanzminister, den hat sofort ein Tunesier übernommen, was auch sehr klar war, denn die waren auch nicht immer sehr fair mit den Tunesiern, die konnten studieren, die kamen vom college el Zadiki, ein sehr renommiertes College, da waren auch viele Tunesier, die ganze Intelligence, die gingen auch nach Frankreich zum Studieren, und wenn sie fertig waren, kamen sie zurück, aber Frankreich gab ihnen nicht die Examensarbeiten, so dass manche, die was studiert hatten, nur noch als Schuhputzer arbeiten konnten. Das war unfair. "
Frankreich ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die herrschende Hausmacht in Nordafrika. Bereits im Jahr 1834 annektiert es Algerien. Algerien wird damit französisch, aufgeteilt in verschiedene Departements, geführt vom französischen Innenministerium. Marokko und Tunesien dagegen werden in Protektorate umgewandelt. Im Vertrag von Marsa verliert der Bey von Tunesien im Juni 1883 seine Souveränität. Marokko dagegen wird erst im Vertrag von Fes im März 1912 in ein Protektorat überführt. Während der Sultan von Marokko und der Bey von Tunis also als Marionetten herhalten müssen, verwaltet Frankreich die Armee und die Finanzen. Es kündigt administrative, wirtschaftliche und militärische Reformen an. Es kontrolliert die Grenzen und vertritt die Protektorate nach außen. Tunesien bleibt fast 75 Jahre unter französischer Herrschaft. Französisch ist die Umgangssprache, und Tunis mit seinen Kolonialgebäuden sieht aus wie eine kleine französische Provinzstadt. Mit Habib Bourguiba wird Tunesien zum ersten Mal in seiner Geschichte frei. Nach 2000 Jahren römischer, phönizischer, ottomanischer, spanischer und französischer Herrschaft regieren nun die Tunesier das Land selbst.
"Mendes France hat dann eines Tages gesagt, Tunesien wird unabhängig, da war zunächst mal bei den Franzosen das große Zittern, die wussten ja nicht, was passiert. Die fingen auch an alles zu verkaufen, aber die Tunesier selber, die waren so euphorisch, die dachten, jetzt sind sie unabhängig, jetzt gehört uns alles. Die stürmten zum Beispiel die TGM, das ist Tunis Goulette Marsa. Die stürmten den und haben nicht bezahlt, die sagten, das gehört uns ja jetzt. Das ist dann einige Tage später so gekommen, dass man sagte, das gehört uns zwar, aber wir müssen das instand halten und auch Fahrkarten lösen. Aber zunächst einmal wurde die TGM gestürmt, die fuhren nach Tunis, obwohl die dort gar nichts zu tun hatten, und das war herrlich. Die dachten, jetzt gehört uns alles. "
Mit Bourguiba verändert sich das Land im Eiltempo. Die Colons, die französischen Siedler, die in den Kolonien seit mehreren Generationen lebten, verlassen fluchtartig das Land. Sie werden enteignet und lassen ihr gesamtes Hab und Gut zurück. Ohne eine Entschädigung.
"Und dann haben sie viel zu früh alle Franzosen, die Lokomotiven steuerten und Traktoren, die haben sie viel zu früh entlassen. Die saßen dann da, sagten jetzt muss es ein Tunesier machen, schickten dann vielleicht einen der früher Heizer war, den schickten sie da rein, und der kriegt das Ding nicht zum Bewegen. Zum Teil war das zum Kringeln, andererseits auch diese Unsicherheit, man wusste nicht, was wird nun? Wir haben auch gesagt, wer weiß, ob wir bleiben können, das wurde alles zu Schleuderpreisen, wunderschöne Sachen, Damast Stühle, wurden zu Schleuderpreisen verkauft, weiß Wunder, was nun kommen wird, und das hat sich später wieder eingerenkt."
Bourguiba mischt sich überall mit ein. Er will nicht nur das Land neu gründen, sondern auch seinen Landsleuten vorschreiben, wie sie sich verhalten, kleiden, arbeiten sollen. Bourguiba entwickelt schon früh einen totalitären Ansatz.
"Als er nachher schon am Ruder war, da hat er etwas gemacht, was uns unheimlich amüsiert hat, fast ganz Tunesien gehört hat. Und zwar: les directives du President, jeden Abend zwischen 18.10 und halb sieben da gab er die directives du President, und da hat er sich um alles gekümmert. Er hat erzählt, wie die Mädchen ihren Lippenstift auftragen sollen, oder nicht zuviel, und Miniröcke hat er angeprangert. Er war richtig der Vater der Nation. Er erzählte da so, was jeder da machen sollte."
Bourguiba zimmert an seiner Vision von einem modernen Land. Und diese Vision versucht er so schnell wie möglich umzusetzen. Mit harter Hand.
"Manches war schon richtig autoritär. Er war eine politische Persönlichkeit, er hat sich immer mit den Franzosen, als er die Bodenreform gemacht hat, das war ein bisschen schlimm, vor allem für die letzten Colons, die noch da waren, da haben sie einfach von heute auf morgen die Leute aus dem Land verwiesen. Die kamen manchmal, selbst wenn sie Babys hatten, mit einer kleinen Tasche geführt von Polizei an den Flughafen und mussten raus, und das war nicht gut. "
Während Tunesien und Marokko im Jahr 1956 friedlich in die Unabhängigkeit geführt werden können, rumort es im Nachbarland Algerien. Algerien, anders als die beiden Protektorate, war ja französisches Staatsgebiet. Seit knapp 120 Jahren von Frankreich annektiert. Es unterstand - anders als die Protektorate - dem französischen Innenministerium. Und während Frankreich seine Kolonien langsam, wenn auch widerwillig in die Unabhängigkeit entlässt, weigert es sich, dem Nachbarland Algerien die gleichen Rechte einzuräumen. Algerien ist Frankreich. Über drei Millionen Franzosen leben in dem nordafrikanischen Land gegenüber einer einheimischen Bevölkerung von fünf Millionen.
In Tunesien dagegen leben gerade mal 250.000 Franzosen. Dort sind sie in der absoluten Minderheit. In Algerien aber besitzen sie riesige Ländereien, Fabriken und landwirtschaftliche Betriebe. Sie regieren das Land, von dem sie glauben, dass es ihnen gehört. 1954 beginnt die nationale Befreiungsfront einen blutigen Krieg. Während in Algerien also in einem heftigen Unabhängigkeitskrieg versinkt, erlangen die benachbarten Protektorate friedlich ihre Autonomie. Frankreich will keine zweite Front. Aber obwohl es Tunesien im Jahr 1956 in die Unabhängigkeit entlässt, bleiben französische Militäreinheiten weiterhin im Norden des Landes stationiert. In Biserta oder Bizerte wie die Franzosen sagen, hält Frankreich einen Flottenstützpunkt als Nachschub für den Krieg in Algerien. Bourguiba nutzt zum Ende des Algerienkriegs die Gunst der Stunde, um Frankreich ganz aus Tunesien zu vertreiben.
"Bourguiba war ein ganz schlauer Politiker und dazu ein schlauer Fuchs, wenn es alles gut ging, dann war das alles prima, aber sowie sie merkten, es kam doch nicht so viel bei raus, was er alles versprochen hatte, dann machte er irgendetwas, dann machte er einmal Bizerte. Bizerte war lange Zeit noch eine Militärenklave, das französische Militär war immer noch in Bizerte, und das wollte er raushaben, wenn es ihm innenpolitisch nicht gut ging, und dann haben sie Krieg gemacht, Bizerte. "
Von Biserta schicken die französischen Soldaten den Nachschub nach Algerien. Um nicht als Verräter im algerischen Unabhängigkeitskampf dazustehen, zwingt Bourguiba die Franzosen 1961 mit militärischer Gewalt aus dem Land. In Biserta, der Kleinstadt in Nordtunesien, überrascht er die Franzosen und inszeniert im Juli 1961 einen blutigen Aufstand.
"Das war ziemlich schwierig, da haben sie Frauen und Kinder an die Front geschickt, und die Franzosen mussten sich verteidigen und haben da reingeschossen, und dann hieß es, die Franzosen schießen Frauen und Kinder tot. Lauter solche Sachen, es war auch nicht immer alles Gold was glänzt...., alles streichen, ich kann nie wieder nach Tunesien reisen (lacht)."
Bourguiba krempelt das Land um. Er duldet keinen Widerspruch auch innerhalb seiner Partei. Nach einem heftigen Machtkampf jagt er sogar seinen einstigen Gefährten Salah ben Youssef aus dem Land. Der neue Präsident ist nun unbestrittener Führer und Chef der staatstragenden Partei, der Neo-Destour. Bourguiba kümmert sich um fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens selbst. Er wird zum Vater der Nation. Zum Übervater.
"Und ab da ging es eigentlich, wenn man das bedenkt so unter der Franzosenzeit war, unheimlich schnell bergauf. Bourguiba hat zunächst einmal die islamische Gerichtsbarkeit abgeschafft, ich wollte eigentlich sagen, die Vielweiberei, aber das ist die Polygamie...streichen, für die Frau hat er alle möglichen Sozialgesetze angefangen. Und dann hat er für Sauberkeit gesorgt, das kam alles nach und nach. Etwas ganz Gutes hat er geschaffen. Les ecoles Bourguiba. Die jungen Leute, die auf der Straße waren, bettelten, die wurden alle in diese Schulen. Das war mehr Zwang, die gingen da nicht freiwillig hin, denn sie bis jetzt alleine gelebt haben und machten was sie wollten, da mussten sie lernen, einen Beruf, wie alt sie waren. Und die Schulpflicht hat er auch sofort eingeführt."
Bourguiba macht zudem etwas, was es in keinem anderen arabischen Land gab: Er gibt der Frau die gleichen Rechte wie dem Mann. Mit der Unabhängigkeit Tunesiens führt er das Gesetz zu persönlichen Freiheit ein. Gleichzeitig gründet er die Union der Frauen. Aziza Hatira ist die heutige Präsidentin der Union der tunesischen Frauen und Abgeordneten im tunesischen Parlament. Sie kämpft für die Rechte der Frau.
"Es war die Krönung der Teilnahme der Frau im Kampf für die Unabhängigkeit. Sie war Seite an Seite mit dem Mann. Es war zuerst die Befreiung des Mannes, des Menschen allgemein, und davon haben auch die Frauen profitiert sowie im Grunde die gesamte Gesellschaft insgesamt."
Bis heute ist Tunesien das arabische Land mit den fortschrittlichsten Rechten für die muslimische Frau. 25 Prozent aller Abgeordneten im Parlament sind weiblich. Kein anderes arabisches Land hat eine Frauenquote und es zudem gewagt, die Polygamie abzuschaffen. Anders als in Marokko ist der tunesische Präsident nämlich nicht auch gleichzeitig Oberhaupt der religiösen Institutionen. Bourguiba muss sich also immer mit den geistlichen Führern auseinandersetzen. Dennoch schafft er es, die Imame davon zu überzeugen, der tunesischen Frau gleiche Rechte zu geben.
"Die öffentliche Bekanntmachung des Persönlichkeitsrechts war eine sehr mutige Geste von Bourguiba. Das war die Ausnahme, und es war die bis heute einzige Gesetzgebung über die Persönlichkeitsrechte in den arabischen Ländern, die die Polygamie abschafft. Er hatte den Mut, dies öffentlich direkt nach der Unabhängigkeit zu machen."
In seinem Reformeifer kommt es unter Bourguiba aber auch zu Pannen. Der mächtige Präsident will sein Land nämlich in die Moderne katapultieren. Er will unabhängig sein von ausländischen Einflüssen, wirtschaftlich selbständig und autonom. So sozialisiert er die Wirtschaft, und anstatt Güter aus dem Ausland zu importieren, will er alles im Land selbst produzieren.
"Wenn die Tunesier anfingen und alles selber machen wollten, Independence wir machen jetzt alles selbst. Wir stellen jetzt Klopapier her, der erste Stein für diese Fabrik, haben sie kein Papier mehr eingeführt, das führt zu wahnsinnigen Engpässen. Unsere Kinder waren in der Ferienkolonie in Frankreich, und die Eltern haben ihren Kindern geschrieben, bringt uns nichts weiter mit als Klopapier aus Frankreich. "
Bourguiba übernimmt sich. Nach der Sozialisierung aller Wirtschaftsbereiche muss er 1969 die Kollektivierung der Landwirtschaft aufgrund des Widerstands in der ländlichen Bevölkerung stoppen.
"Wahnsinnige Engpässe. Gerade Weihnachten, da gab es keine Butter, und die meisten Plätzchen macht man ja mit Butter. Und dann haben wir alle Rezepte rausgesucht, die man mit Eiweiß machen konnte. Als die Colons abgezogen sind. Da waren Typen mit der Aktentasche, die hatten von Tuten und Blasen keine Ahnung, das ist nicht gegangen."
In den 70er Jahren verfliegt die anfängliche Euphorie der Tunesier. Sie sind unzufrieden mit der Einparteienherrschaft Bourguibas. Dieser will nämlich nach wie vor alles alleine machen. Im Land wächst der islamische Widerstand. Es entstehen religiöse Parteien im Untergrund, die aber gnadenlos verfolgt werden.
"Das hört sich alles skurril an, aber leider war das so. Wir mussten die Zeitungen zerschneiden, da stand sowieso nichts Vernünftiges drin. Und auch dieser Wahnsinn, dieser Personenkult, der dann anfing, grandios. Es gab keine einzige Meldung, die nicht über Bourguiba lief, es gab keine einzige Zeitung, wo er nicht abgebildet wurde, was er gemacht hatte, usw."
Ende der 70er Jahre eskaliert die Unzufriedenheit in der tunesischen Bevölkerung. Soziale Spannungen, ein Generalstreik und blutige Auseinandersetzungen führen schließlich zur Ablösung des erkrankten Ministerpräsidenten Nouira. Bourguiba opfert seinen engen Parteifreund und rechte Hand. Ein Bauernopfer. Er selbst dagegen bleibt im Amt. Denn in einem Referendum wird Bourguiba zum Präsidenten auf Lebenszeit gewählt. Und das nutzt er aus. Er ernennt und entlässt fast nach Belieben Minister und Staatssekretäre. Seine Unberechenbarkeit und Palastintrigen verunsichern zunehmend seine Parteigenossen. Und auf der Straße gewinnen die religiösen Kräfte an Gewicht. 1987 steht Tunesien schließlich vor einem Bürgerkrieg. Es geht um die Frage weltliche oder islamische Republik. In Schauprozessen werden die Führer der islamischen Fundamentalisten vorgeführt. Bourguiba ist 87 Jahre alt und krank. Der Greis ist der Aufgabe, ein Land zu führen, nicht mehr gewachsen, weigert sich aber abzutreten. Stattdessen verlangt er die Todesstrafe der Fundamentalisten. In einer Nacht- und Nebel-Aktion wird Bourguiba schließlich verhaftet, unter Hausarrest gestellt. Sein Nachfolger und amtierende Ministerpräsident heißt Zine Ben Ali. Er übernimmt die Geschäfte und wird der zweite Präsident Tunesiens. Bis heute. Inzwischen ist Ben Ali fast 20 Jahre an der Macht. Bourguiba ist heute zum mystischen Staatshelden und zum Vater der Nation mutiert. Und die Demokratie ist nach 50 Jahren Unabhängigkeit nach wie vor in weiter Ferne.
Traute Müller ist am Tag der Unabhängigkeit Tunesiens gerade mal 21 Jahre alt. Die Deutsche heuert 1954 bei einer französischen Familie in Tunis als Au-pair-Mädchen an. Damals hießen Au-Pair-Mädchen übrigens noch Gouvernanten. Und weil ihre französische Familie sieben Kinder hat und deren Mutter Professorin an der Universität in Tunis ist, bekommt die junge Frau den Job.
"1954 bin ich nach Tunesien gekommen. Und zwar hatte ich da einen Posten bei einer Familie, der war zunächst directeur de finance und später Finanzminister, als alles schnell umgeschaltet wurde, als dann alle Tunesier kamen, er hatte sieben Kinder, und die sollten Deutsch lernen. Die hatten ein Haus in Tunis, und da wohnten wir noch 1955 als der Bourguiba angekommen ist. Das war Wahnsinn, das können Sie sich nicht vorstellen. "
Traute Müller erlebt die Umwälzungen des französischen Protektorats Tunesien hautnah. Von einem Tag auf den anderen endet die 75-jährige Ära der Franzosen in Tunesien. Ohne Kampf und ohne Revolution. Ohne Blutvergießen und ohne Köpferollen. Zu verdanken ist dies einem einzigen Mann. Habib Bourguiba. Bourguiba ist tunesischer Nationalist. Zehn Jahre sitzt er für seine politischen Ideen in Frankreich im Gefängnis. Bis 1955. Dann verhandelt er mit der französischen Regierung. Er will die Unabhängigkeit. Frankreich stimmt zu und bewilligt eine teilweise Autonomie. 1955 kam Bourguiba schließlich aus dem Exil am Hafen von Tunis an. Ein Mann des Volkes und schon bald künftiger Premierminister des neuentstandenen Staates. Am Hafen in La Goulette steht das Empfangskomitee.
"Der ist in la Goulette angekommen, dann hatten sie ihm ein weißes Pferd dorthin gebracht, und der ist aufs Pferd gestiegen, und deshalb hat man auch alles, ich weiß nicht ob es hinterher abgebaut wurde unter Ben Ali, überall gab es denn Bourguiba auf dem Pferd, als Denkmal. Und dann kam er in la Goulette an, wurde auf das Pferd gehievt, und dann ritt er bis nach Tunis durch die ganze Stadt- Und ein Menschenauflauf. Vor ihm und hinter ihm und alle klopften. "Ach ja Bourguiba, ach ja Bourguiba, und alles kam einem so unscheinbar vor. Er ist ja ziemlich klein von Statur, das war so ein kleines Männchen auf dem Pferd, aber irgendwie unheimlich glücklich, und die Franzosen haben gesagt, man darf nicht rausgucken, man muss alle Fenster zumachen, man weiß nicht, was das jetzt wird. Natürlich das war ein ganzer Umbruch."
Tunesien beginnt mit Habib Bourguiba, viele sagen auch Tunesien ist Bourguiba. Dabei weiß es heute keiner genau, wann der unscheinbare, aber charismatische Mann geboren wurde. Vielleicht im Jahr 1900. Vielleicht aber auch 1903. Sein ganzes Leben widmet der kleine, untersetzte Tunesier dem Kampf gegen die Franzosen.
"Er hat ja in Paris an der Sorbonne Jura studiert. Und da hat er gewohnt bei einer Französin, die er später geheiratet hat, das war eigentlich seine Vermieterin, eine sehr intelligente und sehr gute Frau, wir haben sie später mal kennengelernt. Er hat in Paris studiert, er war ja ein armer Schlucker."
Bourguiba ist Nationalist. Durch und durch. In arabischen nationalistischen Zirkeln schmiedet er seinen Plan, feilt an seinem Traum: einem freien und unabhängigen Tunesien. Mit acht Jahren muss er mitansehen, wie zwei Tunesier von französischen Soldaten öffentlich guillotiniert werden. Das brandmarkt den Kämpfer sein Leben lang. 1932 gründet er mit seinen Genossen die militante Zeitung "L'Action Tunisienne, 1934 seine eigene Partei: die Neo-Destour. 1946 zieht er nach Kairo um, wo gerade die Arabische Liga gegründet wurde, und dort eröffnet er die ständige Vertretung für den Maghreb.
Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Überall. Frankreich sieht, wie sein Kolonialreich nach und nach zerfällt. Überall brodelt es. Überall schießen nationalistische Befreiungsarmeen aus dem Boden. Der französische Präsident Mendes France weiß, dass er den Trend nicht umkehren, sondern nur aufhalten kann. Als er mit Bourguiba 1955 in Verhandlungen tritt, ist klar: es ist eine Frage der Zeit, bis die Unabhängigkeit des Protektorats kommt. Am 20. März 1956 kündigt Pierre Mendes France das Ende des Protektorats an. Die Franzosen verlassen das Land.
"Und dann kam die große Umwälzung, wo also diese Leute, bei denen ich gearbeitet habe, als erstes weg, die mussten alle raus, ein Posten als Finanzminister, den hat sofort ein Tunesier übernommen, was auch sehr klar war, denn die waren auch nicht immer sehr fair mit den Tunesiern, die konnten studieren, die kamen vom college el Zadiki, ein sehr renommiertes College, da waren auch viele Tunesier, die ganze Intelligence, die gingen auch nach Frankreich zum Studieren, und wenn sie fertig waren, kamen sie zurück, aber Frankreich gab ihnen nicht die Examensarbeiten, so dass manche, die was studiert hatten, nur noch als Schuhputzer arbeiten konnten. Das war unfair. "
Frankreich ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die herrschende Hausmacht in Nordafrika. Bereits im Jahr 1834 annektiert es Algerien. Algerien wird damit französisch, aufgeteilt in verschiedene Departements, geführt vom französischen Innenministerium. Marokko und Tunesien dagegen werden in Protektorate umgewandelt. Im Vertrag von Marsa verliert der Bey von Tunesien im Juni 1883 seine Souveränität. Marokko dagegen wird erst im Vertrag von Fes im März 1912 in ein Protektorat überführt. Während der Sultan von Marokko und der Bey von Tunis also als Marionetten herhalten müssen, verwaltet Frankreich die Armee und die Finanzen. Es kündigt administrative, wirtschaftliche und militärische Reformen an. Es kontrolliert die Grenzen und vertritt die Protektorate nach außen. Tunesien bleibt fast 75 Jahre unter französischer Herrschaft. Französisch ist die Umgangssprache, und Tunis mit seinen Kolonialgebäuden sieht aus wie eine kleine französische Provinzstadt. Mit Habib Bourguiba wird Tunesien zum ersten Mal in seiner Geschichte frei. Nach 2000 Jahren römischer, phönizischer, ottomanischer, spanischer und französischer Herrschaft regieren nun die Tunesier das Land selbst.
"Mendes France hat dann eines Tages gesagt, Tunesien wird unabhängig, da war zunächst mal bei den Franzosen das große Zittern, die wussten ja nicht, was passiert. Die fingen auch an alles zu verkaufen, aber die Tunesier selber, die waren so euphorisch, die dachten, jetzt sind sie unabhängig, jetzt gehört uns alles. Die stürmten zum Beispiel die TGM, das ist Tunis Goulette Marsa. Die stürmten den und haben nicht bezahlt, die sagten, das gehört uns ja jetzt. Das ist dann einige Tage später so gekommen, dass man sagte, das gehört uns zwar, aber wir müssen das instand halten und auch Fahrkarten lösen. Aber zunächst einmal wurde die TGM gestürmt, die fuhren nach Tunis, obwohl die dort gar nichts zu tun hatten, und das war herrlich. Die dachten, jetzt gehört uns alles. "
Mit Bourguiba verändert sich das Land im Eiltempo. Die Colons, die französischen Siedler, die in den Kolonien seit mehreren Generationen lebten, verlassen fluchtartig das Land. Sie werden enteignet und lassen ihr gesamtes Hab und Gut zurück. Ohne eine Entschädigung.
"Und dann haben sie viel zu früh alle Franzosen, die Lokomotiven steuerten und Traktoren, die haben sie viel zu früh entlassen. Die saßen dann da, sagten jetzt muss es ein Tunesier machen, schickten dann vielleicht einen der früher Heizer war, den schickten sie da rein, und der kriegt das Ding nicht zum Bewegen. Zum Teil war das zum Kringeln, andererseits auch diese Unsicherheit, man wusste nicht, was wird nun? Wir haben auch gesagt, wer weiß, ob wir bleiben können, das wurde alles zu Schleuderpreisen, wunderschöne Sachen, Damast Stühle, wurden zu Schleuderpreisen verkauft, weiß Wunder, was nun kommen wird, und das hat sich später wieder eingerenkt."
Bourguiba mischt sich überall mit ein. Er will nicht nur das Land neu gründen, sondern auch seinen Landsleuten vorschreiben, wie sie sich verhalten, kleiden, arbeiten sollen. Bourguiba entwickelt schon früh einen totalitären Ansatz.
"Als er nachher schon am Ruder war, da hat er etwas gemacht, was uns unheimlich amüsiert hat, fast ganz Tunesien gehört hat. Und zwar: les directives du President, jeden Abend zwischen 18.10 und halb sieben da gab er die directives du President, und da hat er sich um alles gekümmert. Er hat erzählt, wie die Mädchen ihren Lippenstift auftragen sollen, oder nicht zuviel, und Miniröcke hat er angeprangert. Er war richtig der Vater der Nation. Er erzählte da so, was jeder da machen sollte."
Bourguiba zimmert an seiner Vision von einem modernen Land. Und diese Vision versucht er so schnell wie möglich umzusetzen. Mit harter Hand.
"Manches war schon richtig autoritär. Er war eine politische Persönlichkeit, er hat sich immer mit den Franzosen, als er die Bodenreform gemacht hat, das war ein bisschen schlimm, vor allem für die letzten Colons, die noch da waren, da haben sie einfach von heute auf morgen die Leute aus dem Land verwiesen. Die kamen manchmal, selbst wenn sie Babys hatten, mit einer kleinen Tasche geführt von Polizei an den Flughafen und mussten raus, und das war nicht gut. "
Während Tunesien und Marokko im Jahr 1956 friedlich in die Unabhängigkeit geführt werden können, rumort es im Nachbarland Algerien. Algerien, anders als die beiden Protektorate, war ja französisches Staatsgebiet. Seit knapp 120 Jahren von Frankreich annektiert. Es unterstand - anders als die Protektorate - dem französischen Innenministerium. Und während Frankreich seine Kolonien langsam, wenn auch widerwillig in die Unabhängigkeit entlässt, weigert es sich, dem Nachbarland Algerien die gleichen Rechte einzuräumen. Algerien ist Frankreich. Über drei Millionen Franzosen leben in dem nordafrikanischen Land gegenüber einer einheimischen Bevölkerung von fünf Millionen.
In Tunesien dagegen leben gerade mal 250.000 Franzosen. Dort sind sie in der absoluten Minderheit. In Algerien aber besitzen sie riesige Ländereien, Fabriken und landwirtschaftliche Betriebe. Sie regieren das Land, von dem sie glauben, dass es ihnen gehört. 1954 beginnt die nationale Befreiungsfront einen blutigen Krieg. Während in Algerien also in einem heftigen Unabhängigkeitskrieg versinkt, erlangen die benachbarten Protektorate friedlich ihre Autonomie. Frankreich will keine zweite Front. Aber obwohl es Tunesien im Jahr 1956 in die Unabhängigkeit entlässt, bleiben französische Militäreinheiten weiterhin im Norden des Landes stationiert. In Biserta oder Bizerte wie die Franzosen sagen, hält Frankreich einen Flottenstützpunkt als Nachschub für den Krieg in Algerien. Bourguiba nutzt zum Ende des Algerienkriegs die Gunst der Stunde, um Frankreich ganz aus Tunesien zu vertreiben.
"Bourguiba war ein ganz schlauer Politiker und dazu ein schlauer Fuchs, wenn es alles gut ging, dann war das alles prima, aber sowie sie merkten, es kam doch nicht so viel bei raus, was er alles versprochen hatte, dann machte er irgendetwas, dann machte er einmal Bizerte. Bizerte war lange Zeit noch eine Militärenklave, das französische Militär war immer noch in Bizerte, und das wollte er raushaben, wenn es ihm innenpolitisch nicht gut ging, und dann haben sie Krieg gemacht, Bizerte. "
Von Biserta schicken die französischen Soldaten den Nachschub nach Algerien. Um nicht als Verräter im algerischen Unabhängigkeitskampf dazustehen, zwingt Bourguiba die Franzosen 1961 mit militärischer Gewalt aus dem Land. In Biserta, der Kleinstadt in Nordtunesien, überrascht er die Franzosen und inszeniert im Juli 1961 einen blutigen Aufstand.
"Das war ziemlich schwierig, da haben sie Frauen und Kinder an die Front geschickt, und die Franzosen mussten sich verteidigen und haben da reingeschossen, und dann hieß es, die Franzosen schießen Frauen und Kinder tot. Lauter solche Sachen, es war auch nicht immer alles Gold was glänzt...., alles streichen, ich kann nie wieder nach Tunesien reisen (lacht)."
Bourguiba krempelt das Land um. Er duldet keinen Widerspruch auch innerhalb seiner Partei. Nach einem heftigen Machtkampf jagt er sogar seinen einstigen Gefährten Salah ben Youssef aus dem Land. Der neue Präsident ist nun unbestrittener Führer und Chef der staatstragenden Partei, der Neo-Destour. Bourguiba kümmert sich um fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens selbst. Er wird zum Vater der Nation. Zum Übervater.
"Und ab da ging es eigentlich, wenn man das bedenkt so unter der Franzosenzeit war, unheimlich schnell bergauf. Bourguiba hat zunächst einmal die islamische Gerichtsbarkeit abgeschafft, ich wollte eigentlich sagen, die Vielweiberei, aber das ist die Polygamie...streichen, für die Frau hat er alle möglichen Sozialgesetze angefangen. Und dann hat er für Sauberkeit gesorgt, das kam alles nach und nach. Etwas ganz Gutes hat er geschaffen. Les ecoles Bourguiba. Die jungen Leute, die auf der Straße waren, bettelten, die wurden alle in diese Schulen. Das war mehr Zwang, die gingen da nicht freiwillig hin, denn sie bis jetzt alleine gelebt haben und machten was sie wollten, da mussten sie lernen, einen Beruf, wie alt sie waren. Und die Schulpflicht hat er auch sofort eingeführt."
Bourguiba macht zudem etwas, was es in keinem anderen arabischen Land gab: Er gibt der Frau die gleichen Rechte wie dem Mann. Mit der Unabhängigkeit Tunesiens führt er das Gesetz zu persönlichen Freiheit ein. Gleichzeitig gründet er die Union der Frauen. Aziza Hatira ist die heutige Präsidentin der Union der tunesischen Frauen und Abgeordneten im tunesischen Parlament. Sie kämpft für die Rechte der Frau.
"Es war die Krönung der Teilnahme der Frau im Kampf für die Unabhängigkeit. Sie war Seite an Seite mit dem Mann. Es war zuerst die Befreiung des Mannes, des Menschen allgemein, und davon haben auch die Frauen profitiert sowie im Grunde die gesamte Gesellschaft insgesamt."
Bis heute ist Tunesien das arabische Land mit den fortschrittlichsten Rechten für die muslimische Frau. 25 Prozent aller Abgeordneten im Parlament sind weiblich. Kein anderes arabisches Land hat eine Frauenquote und es zudem gewagt, die Polygamie abzuschaffen. Anders als in Marokko ist der tunesische Präsident nämlich nicht auch gleichzeitig Oberhaupt der religiösen Institutionen. Bourguiba muss sich also immer mit den geistlichen Führern auseinandersetzen. Dennoch schafft er es, die Imame davon zu überzeugen, der tunesischen Frau gleiche Rechte zu geben.
"Die öffentliche Bekanntmachung des Persönlichkeitsrechts war eine sehr mutige Geste von Bourguiba. Das war die Ausnahme, und es war die bis heute einzige Gesetzgebung über die Persönlichkeitsrechte in den arabischen Ländern, die die Polygamie abschafft. Er hatte den Mut, dies öffentlich direkt nach der Unabhängigkeit zu machen."
In seinem Reformeifer kommt es unter Bourguiba aber auch zu Pannen. Der mächtige Präsident will sein Land nämlich in die Moderne katapultieren. Er will unabhängig sein von ausländischen Einflüssen, wirtschaftlich selbständig und autonom. So sozialisiert er die Wirtschaft, und anstatt Güter aus dem Ausland zu importieren, will er alles im Land selbst produzieren.
"Wenn die Tunesier anfingen und alles selber machen wollten, Independence wir machen jetzt alles selbst. Wir stellen jetzt Klopapier her, der erste Stein für diese Fabrik, haben sie kein Papier mehr eingeführt, das führt zu wahnsinnigen Engpässen. Unsere Kinder waren in der Ferienkolonie in Frankreich, und die Eltern haben ihren Kindern geschrieben, bringt uns nichts weiter mit als Klopapier aus Frankreich. "
Bourguiba übernimmt sich. Nach der Sozialisierung aller Wirtschaftsbereiche muss er 1969 die Kollektivierung der Landwirtschaft aufgrund des Widerstands in der ländlichen Bevölkerung stoppen.
"Wahnsinnige Engpässe. Gerade Weihnachten, da gab es keine Butter, und die meisten Plätzchen macht man ja mit Butter. Und dann haben wir alle Rezepte rausgesucht, die man mit Eiweiß machen konnte. Als die Colons abgezogen sind. Da waren Typen mit der Aktentasche, die hatten von Tuten und Blasen keine Ahnung, das ist nicht gegangen."
In den 70er Jahren verfliegt die anfängliche Euphorie der Tunesier. Sie sind unzufrieden mit der Einparteienherrschaft Bourguibas. Dieser will nämlich nach wie vor alles alleine machen. Im Land wächst der islamische Widerstand. Es entstehen religiöse Parteien im Untergrund, die aber gnadenlos verfolgt werden.
"Das hört sich alles skurril an, aber leider war das so. Wir mussten die Zeitungen zerschneiden, da stand sowieso nichts Vernünftiges drin. Und auch dieser Wahnsinn, dieser Personenkult, der dann anfing, grandios. Es gab keine einzige Meldung, die nicht über Bourguiba lief, es gab keine einzige Zeitung, wo er nicht abgebildet wurde, was er gemacht hatte, usw."
Ende der 70er Jahre eskaliert die Unzufriedenheit in der tunesischen Bevölkerung. Soziale Spannungen, ein Generalstreik und blutige Auseinandersetzungen führen schließlich zur Ablösung des erkrankten Ministerpräsidenten Nouira. Bourguiba opfert seinen engen Parteifreund und rechte Hand. Ein Bauernopfer. Er selbst dagegen bleibt im Amt. Denn in einem Referendum wird Bourguiba zum Präsidenten auf Lebenszeit gewählt. Und das nutzt er aus. Er ernennt und entlässt fast nach Belieben Minister und Staatssekretäre. Seine Unberechenbarkeit und Palastintrigen verunsichern zunehmend seine Parteigenossen. Und auf der Straße gewinnen die religiösen Kräfte an Gewicht. 1987 steht Tunesien schließlich vor einem Bürgerkrieg. Es geht um die Frage weltliche oder islamische Republik. In Schauprozessen werden die Führer der islamischen Fundamentalisten vorgeführt. Bourguiba ist 87 Jahre alt und krank. Der Greis ist der Aufgabe, ein Land zu führen, nicht mehr gewachsen, weigert sich aber abzutreten. Stattdessen verlangt er die Todesstrafe der Fundamentalisten. In einer Nacht- und Nebel-Aktion wird Bourguiba schließlich verhaftet, unter Hausarrest gestellt. Sein Nachfolger und amtierende Ministerpräsident heißt Zine Ben Ali. Er übernimmt die Geschäfte und wird der zweite Präsident Tunesiens. Bis heute. Inzwischen ist Ben Ali fast 20 Jahre an der Macht. Bourguiba ist heute zum mystischen Staatshelden und zum Vater der Nation mutiert. Und die Demokratie ist nach 50 Jahren Unabhängigkeit nach wie vor in weiter Ferne.