Siniawski: Pop ist politisch - das ist nicht erst jetzt erst so, das zeigte sich auch in der Musikgeschichte und einer Region, die wir in Westeuropa eher weniger auf dem Schirm haben. Der sogenannte "Turbofolk" war auf dem Balkan eine Art "Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens" - und prägt die Region noch heute. "Turbofolk - Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens", so heißt ein aktuelles Buch der Journalistin Sonja Vogel. Willkommen zum Corsogespräch.
Sonja Vogel: Hallo.
Siniawski: Diese drei Frauen, die wir gehört haben, spielen in ihrem Buch eine zentrale Rolle: Da ist Lepa Brena in den 80ern, ein Star der neu komponierten Volksmusik, die sich leicht am Pop des Westens orientiert. In den 90ern dann der eigentliche Turbofolk, mit härteren elektronischen Beats und Synthesizern und seiner Protagonistin Ceca. Und seit 2000 ist Jelena Karleuša die Protagonistin einer neuen Form des Turbofolk, mit tanzbarer Musik zwischen Elektro und Dance. Warum lässt sich diese Entwicklung an diesen drei Frauen exemplarisch ablesen?
Vogel: Also ich würde sagen, dass jede dieser drei Frauen eigentlich für ein Jahrzehnt steht, was auf dem Weg sozusagen von diesem prosperierenden sozialistischen Jugoslawien in den 70ern und 80ern, über den Abstieg und die Bürgerkriege, den Staatenzerfall, die Sanktionen und die Wirtschaftskrise in den 90er-Jahren und dann 2000 mit einer demokratischen Wende sich auszeichnen. Also jede dieser zehn Jahre hat eine Frau.
"Tragische, sehr brutale Liebesgeschichten"
Siniawski: Und die Frauen spielen eine wichtige Rolle - Sie sagen es. Aber paradoxerweise war ihre Rolle in den Texten und Videos - gerade beim Turbofolk der 90er - eine eher unterwürfige: Sie sprechen vom "femininen Masochismus". Woran machen Sie das fest?
Vogel: Also ich glaube, diese Rolle und auch, wie Frauen repräsentiert werden - einerseits ästhetisch in den Musikvideos und was diese Popstars, diese weiblichen auch selber darstellen - und auch wie sie dargestellt werden, die Frauen dargestellt werden in den Texten - hat sich sehr verändert. Was Sie jetzt ansprechen: Dieser "female masochism", das ist etwas, was sich in den 90er-Jahren herausgebildet hat vor dem Kontext einer Veränderung auch der Geschlechterverhältnisse vor dem Hintergrund der Kriege und der Wirtschaftssanktionen, wo Frauen wieder sehr in dieses Familiäre und auch in so ein objektifiziertes Geschlechterbild gedrängt wurden. Und das zeigt sich in den Texten, vor allem von Ceca, die DER Popstar der 90er-Jahre ist, darin, dass Liebesgeschichten erzählt werden aus der Perspektive der Frauen. Aber sehr tragische, sehr brutale Liebesgeschichten, in denen der Mann eigentlich die Frauen quält, ihnen fremdgeht und die Frauen sich aber trotzdem nicht aus diesen Beziehungen befreien und eigentlich über dieses Schicksalhafte klagend, leidend singen.
"Frauen in Minirock und Jogginghose"
Siniawski: Ja und Sie sprechen von einer Dichotomie der Rollen. Also die Frauen sind immer die in Stilettos, superhübsch und geschminkt und so weiter. Die Männer sind eher so die Harten, mit dicken Autos und teuren Uhren und so. Wie kommt das? War das politische Chaos sozusagen die Triebfeder dafür?
Vogel: Naja, ich glaube, das ist diese Geschlechterdichotomie. Das kann man ja auch durchaus im westlichen Pop, sage ich mal, zum Beispiel im …
Siniawski: Oder Rap.
Vogel: … Genau, im Gangsta-Rap sehen. Und auch diese sehr extrem sexualisierten Weiblichkeitsbilder, sehr - andererseits auch sexualisiert - aber sehr auf Macht ausgerichtet und auf gesellschaftlichen Reichtum ausgerichteten Männerbilder, die bilden sich im Rap genauso ab. Im Turbofolk ist, glaube ich, so ein bisschen der Unterschied, dass das in den 80er-Jahren anders war. Also die Musik, die diesem Turbofolk vorgängig war, hatte eigentlich ein eher verspieltes Bild von Geschlechtern, wo viele Dinge ausprobiert wurden, Frauen sowohl im Minirock als auch irgendwie in Jogginghose gezeigt wurden.
Und im Turbofolk, also genau vor diesem Hintergrund der Kriege und der Wirtschaftssanktionen ist im Prinzip diese Gesellschaft viel kleiner geworden. Und diese Verkleinerung der Gesellschaft und auch der kulturellen Alternativen hat sich auch in diesen Geschlechterbildern sehr plastisch gezeigt. Und das bedeutet eben, dass diese Dichotomie ganz extrem geworden ist.
"Vermählung von Popkultur und Nationalismus"
Siniawski: Wie groß war eigentlich die Verquickung zwischen diesen Popsängerinnen und der Politik?
Vogel: Das ist tatsächlich relativ schwer zu sagen. Also es ist so: Also warum dieser Ruf des Turbofolks als sehr serbisch-nationalistisch, wo der herkommt, das liegt vor allem an der Zeit natürlich. Der Turbofolk ist in den 90er-Jahren, die eben eine sehr nationalistische Zeit war, groß geworden. Aber dieser Megastar Ceca war verheiratet oder ist heute die Witwe eines serbischen Kriegsverbrechers, nämlich Željko "Arkan" Ražnatović.
Und die haben auch tatsächlich '95 geheiratet, kurz vor dem Massaker von Srebrenica. Und das war natürlich eine sehr symbolische Hochzeit zwischen dieser … Eine serbische Märchenhochzeit im Prinzip, die auch inszeniert wurde für das Staatsfernsehen, wo eben dieser serbische Popstar sich mit einem Kriegsverbrecher verbündet hat. Und das ist quasi symbolisch, würde ich sagen, die Vermählung gewesen von Popkultur und Nationalismus.
Siniawski: Und auch vielleicht Rechtfertigung für gewisse Machthaber. Im späteren Kapitel beschreiben Sie die Demokratisierung Serbiens und den gleichzeitigen Wandel des Turbofolks zum westlichen Popmainstream, mit sogar queeren Einflüssen und selbstbewussten Frauen, die ohne die Machomänner auskommen, wie Sängerin Jelena Karleuša. Dieser Wandel las sich - für mich - ein bisschen abrupt und ein bisschen schwer nachvollziehbar nach all dieser Vorgeschichte. Ist dieser neue Turbofolk wirklich Mainstream?
"Der Kontext macht diese Musik politisch"
Vogel: Also ich würde sagen: Der Bruch war gar nicht so abrupt. Der Unterschied ist eher, dass sich sozusagen ein neuer Star oder ein neuer Typ von Frauen hinzugesellt hat. Also Ceca, dieser Popstar, der mit den 90ern verbunden wird, ist zwar immer noch ein großer Star, aber es gibt jetzt sehr viele jüngere Frauen, die eigentlich von der Ästhetik sich zum Teil von diesen sehr plastischen, sehr sexualisierten Turbofolk-Bildern emanzipiert haben und das quasi noch mehr ins Absurde gedreht haben. Also ein bisschen wie Lady Gaga. Und die auch tatsächlich rhetorisch Bezug nehmen auf queere Ästhetik und queere Traditionen. Ob das jetzt der Mainstream ist, das lasse ich mal dahingestellt. Das kann ich so genau auch gar nicht sagen. Aber diese Musik ist definitiv noch im Musikfernsehen in Post-Jugoslawien überall zu hören und zu sehen.
Siniawski: Ja? Obwohl da sicherlich auch dieser Musikgeschmack, dieser globalisierte Musikgeschmack, der US-dominiert ist, sicherlich auch sehr präsent ist. Also wer hört heute noch Turbofolk? Und sind da vielleicht auch manche "Revisionisten" dabei, die eben vielleicht die harten Beats der 90er feiern eben dieses Bild von damals?
Siniawski: Ja. Und das sind vielleicht auch die Leute, die tatsächlich heute noch Ceca hören. Aber ich würde sagen, dass diese Musik nicht unbedingt politisch ist. Der Kontext macht diese Musik politisch. Und für mich ist es tatsächlich so, dass dieser - ich nenne es jetzt "neuen Turbofolk" … Ich glaube, viele Leute würden diese neue Variante, die eher westliche Variante des Turbofolks, überhaupt nicht mehr als Turbofolk ausmachen. Und das ist auch so ein Ausdruck dessen, was Sie eben gesagt haben, nämlich, dass sich das eher an den westlichen Vorbildern, an Rihanna und Lady Gaga orientiert. Aber es gibt sehr wohl noch viele Elemente, also musikalische Elemente aus der südosteuropäischen Folklore, die da weiter auftauchen.
"Sie werden schwer jemanden finden, der sich dazu bekennt, ein Turbofolk-Fan zu sein. Trotzdem hören das alle."
Siniawski: "Turbofolk ist ein Platzhalter für viele Debatten, die unter autoritärer Herrschaft nicht geführt wurden: über Geschlecht, Nation, Kultur, über Krieg und Krise ", schreiben Sie. Ist der Turbofolk ist immer noch ein Politikum? Oder ist er das nicht mehr?
Vogel: Also ich glaube, der Turbofolk ist ein Politikum, ja. Aber er ist es vor allem deshalb, weil er als so eine Art Black Box funktioniert. Also sehr viele Dinge, die sich in der Gesellschaft abgebildet haben und die auch als traumatisch erlebt wurden, wie zum Beispiel ein Verlust von einer kulturellen Identität, die sehr viel offener war und die jugoslawisch geprägt war und die dann immer weiter geschrumpft wurde durch diese Kriege und die Nationalisierung. Das sind Dinge, die sich in der Rede von dieser Musik eigentlich abbilden. Also die Grenzen von Geschmäckern, die Grenzen von kulturellen und nationalen Identitäten. Und das ist, würde ich sagen, auch das, was diese Rede vom Turbofolk bis heute eigentlich so emotional macht. Sie werden schwer jemanden finden, der sich dazu bekennt, ein Turbofolk-Fan zu sein. Trotzdem hören das alle.
Siniawski: Sonja Vogel über den Turbofolk als Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens - das Buch mit eben diesem Titel ist im Ventil Verlag erschienen. Vielen Dank für das Gespräch.
Vogel: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sonja Vogel: "Turbofolk - Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens"
Ventil Verlag, 144 Seiten, EUR 14,00
Ventil Verlag, 144 Seiten, EUR 14,00