Christine Heuer: Im ukrainischen Machtkampf hat sich gestern viel bewegt. Die Regierung Asarow ist zurückgetreten, die jüngsten repressiven Gesetze, die die Stimmung in Kiew ja zuletzt angeheizt hatten, wurden vom Parlament wieder abgeschafft, heute soll eine Amnestie für inhaftierte Regierungsgegner folgen. Die Opposition um Vitali Klitschko will ihren Protest trotzdem fortsetzen.
In Kiew begrüße ich den CDU-Außenpolitiker Elmar Brok, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss im Europäischen Parlament. Guten Morgen, Herr Brok.
Elmar Brok: Guten Morgen!
Heuer: Die Regierung hat deutliche Zugeständnisse gemacht. Jetzt kommt heute offenbar noch die Amnestie dazu. Ist das der Durchbruch für eine Lösung im ukrainischen Machtkampf?
Brok: Das kann man noch nicht sagen, denn der Präsident hat das Gesetz zur Auflösung der undemokratischen Gesetze bisher nicht unterzeichnet. Er macht neue Forderungen, er will auch mit der Amnestie verbinden, dass praktisch der Maidan geräumt wird, die Demonstrationen beendet werden. Aber das sind bei Weitem noch nicht die Ziele, die erreicht werden sollen. Denn die Ziele sind, dass es wirklich zu einer Veränderung in diesem Lande kommt, in dem doch eine neue Verfassung durchgesetzt wird, dass der Bevölkerungswille zum Ausdruck kommt - wie etwa auch die Frage nicht mehr der Orientierung nach Russland, sondern die Menschen sehen in Europa doch den Lichtblick für dauerhafte Demokratie und Freiheit angesichts der Morde, der Entführungen, die dort in den letzten Wochen stattgefunden haben.
Heuer: Nun fordert die Opposition ja ganz klar Janukowitschs Rücktritt. Heißt das, es wird kein Ende der Proteste geben, solange Janukowitsch Präsident ist?
Brok: Ich glaube, dass Janukowitsch hier noch eine kleine Chance hat. Wenn er die Gesetze beschließt, seine Auflagen nicht so sind, dass letztlich der Prozess dadurch gestoppt wird, wenn er nicht weiter auf Zeit arbeitet und wenn er in diesen Verfassungsprozess jetzt sehr schnell einsteigt, um hier eine Möglichkeit zu schaffen, dass die Bevölkerung sprechen kann, beispielsweise in Parlamentswahlen, dann hat er noch eine Chance mit dieser Verfassung. Das wäre ja die Wiedereinführung der parlamentarischen Verfassung, weg vom Präsidialsystem von 2004. Das würde auch beinhalten, dass im Laufe dieses Jahres, Ende dieses Jahres Präsidentschaftswahlen stattzufinden hätten.
Janukowitsch ist auf Dauer geschädigt
Heuer: Und spätestens dann, glauben Sie, wäre Janukowitsch nicht mehr Präsident der Ukraine?
Brok: Es wird schwierig für ihn sein, noch Wahlen zu gewinnen, wenn er sie nicht wieder dramatisch fälschen sollte. Denn er hat mit solchen Massenprotesten nicht gerechnet und man muss sehen, dass sein Weg zu Russland und die inneren staatlichen Druckmaßnahmen, die Gewaltmaßnahmen, die er durchgeführt hat, ihm, glaube ich, auf Dauer geschädigt haben.
Heuer: Janukowitsch, Herr Brok, wenn ich Ihnen so zuhöre, hat so oder so keine Chance mehr aus Ihrer Perspektive. Warum sollte er dann noch weiter einlenken?
Brok: Er hat jetzt vielleicht noch einen Ausweg, dass für ihn es auf Dauer besser geht. Aber wenn er es mit Gewalt versucht wie in Weißrussland - manche sagen, das sei inzwischen schlimmer als in Weißrussland -, dann wird er selbst keine Perspektive haben. Der Freiheitswille der großen Mehrheit der Bevölkerung ist so groß, dass man das nur eine bestimmte Zeit unterdrücken kann, und dann ist er endgültig weg, mit all den Konsequenzen, die damit verbunden wären. Und das ist auch die Frage der Verantwortung eines solchen Mannes: Ist er so daran interessiert, die Macht zu bewahren, den Staat weiter auszurauben für seine Familiengeschäfte, die Zusammenarbeit mit den Oligarchen hier, hat das Vorrang für ihn, oder sind noch Reste von Verantwortungsgefühl vorhanden.
Menschen kämpfen für die Freiheit ihres Landes
Heuer: Wie geschlossen ist eigentlich die Opposition? Sie führen ja dieser Tage viele Gespräche in Kiew. Was ist Ihr Eindruck?
Brok: Ich muss sagen, dass die Opposition bisher eng zusammen geblieben ist, dass insbesondere Jazenjuk und Klitschko eine führende Rolle spielen, aber sie haben es natürlich auch schwer. Sie versuchen jetzt seit zwei Monaten, friedlich eine Änderung zu erreichen, und das ist natürlich für die Menschen auf Dauer zu wenig, wenn nichts dabei herauskommt, weil Janukowitsch alles abblockt. Und dann wird es schwer sein, die Ruhe zu bewahren. Und diese vielen Tausend Menschen, die immer wieder demonstrieren, die nachts bei Minus 20 Grad in dieser letzten Nacht, als ich um zwölf Uhr noch auf diesem Platz dort war, natürlich kämpfen für die Freiheit ihres Landes und ihre persönliche Freiheit, noch zum Einlenken zu bringen, zu einem vernünftigen Prozess zu bewegen, geht nur, wenn hier Erfolge vorzuweisen sind, und die sind noch nicht gesichert.
Heuer: Man hatte in den letzten Tagen manchmal den Eindruck, dass Arsenij Jazenjuk, der andere große Oppositionsführer, etwas weniger entschieden auftritt als Vitali Klitschko. Halten Sie es für möglich, dass er das Angebot, eine Regierung unter Janukowitsch zu führen, vielleicht am Ende doch noch annimmt?
Brok: Er wird es nur annehmen - und ich habe mit ihm darüber gesprochen, allein und zusammen mit Klitschko -, wenn die wesentlichen Bedingungen erfüllt sind. Er wird sich nicht zu einer Marionette von Janukowitsch machen lassen. Das hat er ausdrücklich abgelehnt, unter diesen obwaltenden Umständen die Regierung zu übernehmen. Ich glaube, da müsste noch einiges an Bedingungen erfüllt sein, bevor er das tun wird, und er wird es auch nur tun, wenn dies in Zusammenarbeit und Zustimmung von Klitschko passiert.
"Putin ist sicherlicht nicht der glanzvolle Demokrat"
Heuer: Also friedlich sozusagen auch innerhalb der Opposition. Die Rolle Russlands, Herr Brok, haben Sie jetzt schon mehrfach angesprochen. Da müssen wir noch hingucken. Selbst wenn Kiew einlenkt, wird Russland es auch tun? Wir haben ja gestern Gespräche Putins in Brüssel erlebt.
Brok: Putin hat sicherlich das große Interesse, ein Stückchen sein eigenes Reich wieder zu errichten. Wenn man historisch sieht, was die Ukraine und Russland im Zusammenhang bedeuten, dann sieht man, welchen Druck Putin aus Machtgründen, aus historischen Gründen versucht, auszuüben. Und da muss deutlich gemacht werden, dass der Einsatz von Handelsdruck-Maßnahmen, von Energiepreisen heute nicht akzeptabel ist. Putin muss begreifen, dass es nicht mehr um Einfluss-Sphären geht. Wir müssen alle begreifen, dass die Völker Europas im 21. Jahrhundert selbst entscheiden müssen, in welche Richtung sie gehen wollen. Deswegen muss es klar sein, dass hier wieder ein System errichtet wird, dass der Bevölkerungswille zum Ausdruck kommt.
Heuer: Sie sagen, das ist nicht akzeptabel, wie Putin sich verhält. Aber seine Instrumente funktionieren doch ganz gut?
Brok: Ja. Putin ist sicherlich nicht der glanzvolle Demokrat, für den ihn mal ein deutscher Bundeskanzler gehalten hat, und hier sieht er sich in einer historischen Mission. Diese historische Mission würde bedeuten, dass die Unabhängigkeit, die die Ukraine nach so vielen Jahrhunderten für sich wieder erkämpft hat, doch wieder gefährdet ist. Er möchte Kiew unter russische Kontrolle bekommen. Diese Zollunion, die er anstrebt, hat keinen anderen Zweck, als hier dieses machtpolitisch und auch aus historischen Gründen zu erreichen, und da müssen wir deutlich sagen, das geht nicht so weiter, und es kann auch nicht sein, dass Brüssel und Moskau über das Schicksal der Ukraine verhandeln. Die Ukrainer selbst müssen das Recht haben, ihren Weg zu begehen.
Heuer: Aber wer sollte Putin von Ihrer Perspektive überzeugen? Wie will man ihn zum Einlenken bringen? Wie soll das gehen?
Brok: Ich hoffe, dass gestern deutliche Worte auch in dieser Frage gesprochen worden sind beim EU-Russland-Gipfel. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass Europa endlich eine einheitliche Russland-Politik entwickeln muss. Da sind zu viele Fragen noch offen, sicherheitspolitische Maßnahmen, aber auch beispielsweise Energiepolitik, dass die europäischen Länder alle ihren Wettlauf nach Moskau immer wieder haben. Und ich glaube, wir können die Interessen Europas und der europäischen Völker nur gewährleisten, wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer begreifen, eine einheitliche Russland-Politik durchzuführen.
"Solidarisch der Ukraine helfen"
Heuer: Was kann Europa in dieser Situation jetzt in Kiew tun? Nicht nur Sie und viele Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament sind ja gerade in der ukrainischen Hauptstadt, auch die Außenbeauftragte Catherine Ashton verhandelt. Mit welchem Ziel, mit welchem konkreten Ziel?
Brok: Einmal geht es darum, dass jetzt Gewalt vermieden wird und dass ein Prozess gestaltet werden kann, in dem diese freie Entscheidung weiterhin möglich bleiben soll und es nicht einseitig in die russische Richtung fortgesetzt wird. Wir müssen auch deutlich machen, dass Kompromissbereitschaft auf allen Seiten vorhanden ist und dass es einen solchen friedlichen Prozess gibt. Deswegen finden diese Gespräche entsprechend statt. Wir müssen auch deutlich machen, dass Europa die Tür offen hält, dass der Vertrag, der von Janukowitsch ja selbst ausgehandelt worden ist, unterschrieben werden kann und dass wir dann solidarisch auch der Ukraine helfen müssen, mit ihren schweren, von zum Teil Janukowitsch zustande gebrachten wirtschaftlichen Problemen fertig zu werden, und dass wir möglicherweise dann auch Maßnahmen ergreifen müssen, dass Russland nicht diese Politik durchführen kann.
Heuer: Und die Sanktionen, die gegen Kiew angedroht werden, die sollten auf dem Tisch bleiben Ihrer Meinung nach?
Brok: Ja, die sollten auf dem Tisch bleiben. Wenn das hier alles schiefläuft, können wir, glaube ich, aufgrund unserer Wertvorstellungen es nicht hinnehmen, dass diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, die Scharfschützen eingesetzt haben, die Menschen entführen, zusammenschlagen, töten, liegen lassen, in Gefängnisse sperren, dass die nicht so einfach davonkommen. Menschen, die solche Gesetze wie am 16. Januar beschlossen haben und sie ausführen, die sollten nicht die Einreisemöglichkeit in die Europäische Union haben und wir sollten - das ist, glaube ich bei einigen dann wirkungsvoll - auch ihre Bankkonten in Europa schließen. Aber so weit ist es noch nicht. Hier ist die Bereitschaft zum Kompromiss und zum Gespräch vorhanden und wir hoffen, dass hier doch noch etwas gelingt.
Heuer: Elmar Brok, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments, im Interview mit dem Deutschlandfunk. Er ist zurzeit in Kiew, verhandelt dort. Herr Brok, vielen Dank für das Gespräch, einen erfolgreichen Tag.
Brok: Ich danke Ihnen auch.
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