Dirk-Oliver Heckmann: Wenn die Demonstranten bis 18 Uhr die Gewalt nicht einstellen, greifen die Sicherheitskräfte zu ernsthaften Maßnahmen. Das war die Ansage der Regierung Janukowitsch gestern in der Ukraine. Oppositionsführer Vitali Klitschko rief Frauen und Kinder daraufhin auf, den zentralen Protestplatz, den Maidan zu verlassen, denn eine Erstürmung dieses zentralen Platzes rückte in greifbare Nähe. Tatsächlich haben die Sicherheitskräfte damit begonnen, den Platz zu stürmen.
Meine Kollegin Christiane Kaess, die hat am späten Abend gesprochen mit Gerhard Simon, und der ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Köln.
Christiane Kaess: Herr Simon, die Bilder zeigen bürgerkriegsähnliche Szenen in der Ukraine. Rutscht das Land tatsächlich in einen Bürgerkrieg?
Gerhard Simon: Es ist die Frage, wie man Bürgerkrieg definiert, aber es ist völlig offensichtlich, dass in Kiew bürgerkriegsähnliche Zustände derzeit herrschen, und man muss davon ausgehen, dass sie sich auch auf andere Städte ausbreiten werden in den nächsten Tagen. Die Ukraine befindet sich, jedenfalls Kiew, im Ausnahmezustand. Offiziell ist der nicht ausgerufen worden, aber man braucht nicht unbedingt in der Ukraine solche Feinheiten einzuhalten.
Tatsächlich befindet sich Kiew im Ausnahmezustand. Die Stadt ist rundherum abgesperrt. Es soll verhindert werden, dass in größerem Stile aus West und Ost die Anhänger der einen und der anderen Seite in die Stadt einrücken und dort es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Viele andere Maßnahmen sind ergriffen worden. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand.
Keine Gewaltanwendung auf gleicher Augenhöhe
Kaess: Und, Herr Simon, auch die Bilder und die Medienberichte sind eindeutig: Die Polizei, die gewaltsam gegen Demonstranten losgeht, aber auch über Tote unter den Polizisten wird berichtet. Hat hier auch die Opposition die Geduld verloren und wollen jetzt beide Seiten das Problem endgültig in einem gewaltsamen Konflikt lösen?
Simon: Nein. Die Opposition hat gar nicht die Möglichkeit, mit Gewalt einen Konflikt zu lösen. Es ist doch eine asymmetrische Auseinandersetzung. Die Gewalt ist doch im wesentlichen in der Hand der Staatsmacht, der Polizei und der anderen Machteinheiten. Die Demonstranten setzen sich zur Wehr. Sie setzen sich inzwischen auch teilweise mit Gewalt zur Wehr. Aber von einer Gewaltanwendung auf gleicher Augenhöhe kann gar nicht die Rede sein.
Kaess: Gibt es einzelne Radikale unter den Demonstranten?
Simon: Das ist ein vielfältiges und kompliziertes Gemisch, was da protestiert. Einerseits gibt es die politische Opposition, die politischen Parteien mit den Parteiführern, aber dann gibt es eine ganze Reihe von Gruppen, die da auch mitmachen. Der zivilgesellschaftliche Sektor des Maidan ist unübersichtlich und auch die politischen Parteien und die politischen Parteiführer haben nicht alle in der Hand und sie sind ja nicht Vorgesetzte dieser protestierenden Gruppen. Die Gruppen haben auch unterschiedliche Interessen und es ist völlig klar, dass der Maidan nicht wie eine Armee regiert werden kann.
Kaess: Herr Simon, bis gestern hat das ganze noch eher nach Entspannung ausgesehen, auch wegen der Amnestie für Hunderte Festgenommene durch die Regierung. Warum ist das jetzt so schnell umgeschlagen?
Vorstellung von Entspannung sind "westliches Wunschkonzert"
Simon: Man hat den Eindruck, dass unter dem Deckmantel der Verhandlungen, unter zeitaufwendigen Gesprächen, die da geführt worden sind in den letzten drei Wochen, die Regierung Janukowitsch sich vorbereitet hat auf einen massiven Schlag, wie er heute erfolgt ist, denn was heute gelaufen ist, bedarf der Vorbereitung. Vieles spricht dafür, dass seit Tagen die Polizeikräfte vorbereitet worden sind, zusammengezogen worden sind, und dass auch Pläne gemacht worden sind, wie und was man erreichen will, und das ist dann auch erreicht worden.
Kaess: Die Opposition wusste nichts von diesen Plänen? Davon gehen Sie aus?
Simon: Davon gehe ich aus, dass sie das nicht wusste. Andererseits hat die Opposition und viele Beobachter in Kiew immer wieder davor gewarnt, dass jederzeit ein Gewaltausbruch erfolgen kann. Insofern kommt das überraschend vielleicht am heutigen Tag, aber nicht in der Sache selbst. Immer wieder ist davor gewarnt worden und die Vorstellung, dass im Grunde mit diesem Amnestiegesetz die Sache eigentlich schon gelaufen ist und dass nun die Entspannung auf allen Seiten folgen würde, das ist ein westliches Wunschkonzert.
Kaess: Was kommt nach der Gewalt?
Simon: Nach der Gewalt kommt zunächst einmal die Gewalt, und das ist das Allerschlimmste. Wir sehen nicht, wie die Ukraine in den nächsten Tagen und Wochen aus dieser Krisensituation herauskommen kann. Die Räumung des Maidan, wenn sie dann wirklich erfolgt, wird nicht dazu führen, dass das Problem erledigt ist. Es wird jetzt einen neuen Maidan geben, oder auf andere Weise wird die Protestbewegung wieder aufleben. Die Vorstellung, dass mit der Niederschlagung dieses Protestes sozusagen die Luft raus ist und man das Problem lösen kann, diese Vorstellung hat ganz offensichtlich Präsident Janukowitsch. Damit wird er nicht durchkommen.
Kaess: Kann hier irgendjemand vermitteln beziehungsweise so einen Druck ausüben, der was bringen könnte, wie zum Beispiel Sanktionen, die Frank-Walter Steinmeier jetzt auch noch mal angesprochen hat?
"Gezielte Sanktionen wären echte Hilfe für Opposition"
Simon: Seit Wochen fordert die Opposition und der Maidan, der Westen möge sich einmischen. Er möge zum Beispiel solche Sanktionen verhängen. Nun hat der Bundesaußenminister erklärt, ja, man müsse doch nun ernsthaft wieder darüber nachdenken. Wollen wir sehen, was realistischerweise dabei herauskommt.
Es ist gar keine Frage, dass gezielte Sanktionen, Einreisesperren, finanzielle Sanktionen gegen diejenigen, die sich massiv bereichert haben in den letzten Jahren, nicht nur ein moralisches Signal sein würden, sondern tatsächlich eine echte Hilfe für die Opposition, für diejenigen, die für eine bessere Ukraine in der Zukunft eintreten.
Heckmann: Einschätzungen waren das von Gerhard Simon. Er ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Köln. Das Interview führte meine Kollegin Christiane Kaess.
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