Templin sagte weiter: "Mich verstört das Maß an egoistischem Wegducken, an Blindheit, was wir hier in Deutschland haben, wenn es darum geht, was diese neue Situation für uns alle bedeutet." In Polen sei die Bereitschaft viel größer, die Ukraine aktiv zu unterstützen. "Wir brauchen eine ganz enge Partnerschaft mit Polen", forderte er.
Zur aktuellen Regierungskrise in Warschau sagte er, Neuwahlen würden Polen entscheidend lähmen. "Das würde eine ernsthafte - und ich würde sogar sagen bedrohliche - Zuspitzung der Situation bedeuten."
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Liminski: Amerika und Europa erhöhen in der Ukraine-Krise den Druck auf Russland. Zunächst nur verbal, man droht mit weiteren Sanktionen, sollte Moskau seine Truppen nicht von der ukrainischen Grenze abziehen.
Der ukrainische Präsident Poroschenko hat eine Waffenruhe in der Ostukraine angeordnet, gleichzeitig mehr Autonomie und Wahlen für die Bevölkerung in dieser Region angeboten. Die prorussischen Separatisten lehnen dieses Angebot allerdings ab und gleichzeitig konzentriert Russland, wie eben gehört, wieder Truppen an der Grenze. Kampfpause oder Waffenstillstand?
Ausgerechnet in dieser Situation schliddert der ukrainische Nachbar Polen in eine politische Krise, die möglicherweise Auswirkungen auf das Geschehen der Region haben kann. Und darüber will ich jetzt sprechen mit Wolfgang Templin, er war bis vor einem halben Jahr vier Jahre Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau. Guten Morgen, Herr Templin!
Wolfgang Templin: Guten Morgen!
Liminski: Herr Templin, in Polen kann es zu Neuwahlen kommen. Lähmt das das Land in einer Situation, in der es wegen der Krise in der Region Führung braucht?
Templin: Wenn es zu Neuwahlen käme, würde das eine ernsthafte und, ich würde sagen, sogar bedrohliche Zuspitzung der Situation in Polen bedeuten. Es würde Polen in einem Moment entscheidend lähmen und schwächen, in dem die Rolle unseres östlichen Nachbarn von entscheidender Bedeutung ist.
"Tödlicher Grad an Gegnerschaft"
Liminski: Nun bleiben Regierungen bis zur Wahl ja immer im Amt. Funktionierende oder amtierende Regierungen sind das eine, eine glaubwürdige und mitreißende Regierung das andere. Wäre da in dieser Situation eine Allparteienregierung zeitweise denkbar in Polen?
Templin: Beim Zustand der politischen Situation in Polen, beim verbissenen, nahezu tödlichen Grad an Gegnerschaft, den die Parteien dort gegeneinander entwickelt haben, schließe ich eine solche Möglichkeit aus, die in anderen Ländern vielleicht möglich wäre.
Liminski: Wird es denn wegen der Ukraine-Krise zu erhöhten Verteidigungsausgaben kommen, egal, wer demnächst in Warschau regiert?
Templin: In Polen sind sich alle politischen Kräfte, ungeachtet ihrer wirklich heftigen Gegnerschaft, der Herausforderung, die durch die Situation in der Ukraine entstanden ist, bewusst. Ich gehe davon aus, es würde unter jeder möglichen neuen Regierung zu einer solchen Erhöhung der Verteidigungsausgaben kommen.
Liminski: In der Ukraine-Frage ist, wenn ich das richtig höre, Polen also relativ geschlossen. Liegt das nun am Russland-Bild der Polen oder an der Kenntnis des Nachbarn?
Templin: Das liegt an der langen Vertrautheit Polens mit der Entwicklung, mit der Situation in Russland. Beim Nachbarn muss man unterscheiden Russland als Gesellschaft beziehungsweise das russische System. Und es geht um die Vertrautheit der Polen mit dem russischen System. Und da ist man frei von allen Illusionen. Was die jetzige Entwicklung betrifft, mögliche kommende Herausforderungen und Gefahren, ich gehe von einer ganz großen Ernüchterung in Polen aus und von einer Bereitschaft, von einer Entschlossenheit, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen.
"Russland will seine alten Einflusszonen wieder erobern"
Liminski: Die Kenntnis des Nachbarn, also Ukraine und natürlich auch Russlands, führt das zu einem anderen Bild in Polen zu der Gefahrenlage?
Templin: Ja, vor allem deswegen, weil man die Expansionslust des gegenwärtigen russischen Systems erkennt, weil man in Polen aufgrund der historischen und aktuellen Erfahrung ganz genau weiß: Es ist damit zu rechnen, dass Russland, das russische System nicht bei der gegenwärtigen Situation stehen bleiben will, nur die Ukraine zu destabilisieren, sondern seine alten Einflusszonen wieder zu erobern. Das heißt nicht, in Polen einzumarschieren, sondern einen Grad von Dominanz herzustellen, wie er früher existierte. Und dem will man sich auf keinen Fall unterordnen oder stellen.
Liminski: Was würde denn Ihrer Meinung nach passieren, wenn Russland zum Beispiel in der Ostukraine einmarschieren würde?
Templin: Das würde eine Situation hervorrufen, die ganz Europa, also auch die EU zu Konsequenzen zwänge, die man sich momentan überhaupt nicht vorstellen will. Aber eine solche Situation würde dann eintreffen.
Liminski: Sie sind, Herr Templin, seit einem halben Jahr wieder in Deutschland, haben sozusagen die Ukraine-Krise in Polen und in Deutschland im Bild, auf dem Schirm. Was sind denn sozusagen die markantesten Unterschiede im öffentlichen Meinungsbild?
Templin: Mich frappiert, mich verstört das Maß an egoistischem Wegducken, an Blindheit, was wir hier in Deutschland haben, wenn es darum geht, was diese neue Situation für uns alle bedeutet. In Polen ist der Realismus viel größer, ist die Bereitschaft, aktiv tätig zu werden, die Ukraine zu unterstützen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, viel stärker. Ich würde mir wünschen, dass das Bewusstsein dafür, wir alle sind hier gefordert, wir brauchen eine ganz enge Partnerschaft mit Polen, Deutschland hat eine entscheidende Verantwortung dafür, dass dieses Bewusstsein viel stärker wäre und die Bereitschaft, dementsprechend zu handeln!
"Neue Bedrohungs- und Instabilitätssituation"
Liminski: Bei dem Stichwort Blindheit will ich noch mal nachhaken: Meinen Sie damit Blindheit gegenüber den russischen Intentionen?
Templin: Ich meine Blindheit gegenüber den russischen Intentionen und vor allem Blindheit gegenüber einer neuen Situation, völlig unvergleichbar mit dem Maß an Stabilität und Akzeptanz der friedlichen Realität, die wir in den vergangenen Jahrzehnten hatten. Russland, das heißt, das russische System unter Putin stellt mit seiner Politik in den vergangenen Monaten eine so neue Bedrohungs- und Instabilitätssituation her, wie wir sie nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar nicht hatten.
Liminski: Ist das auch Common Sense in Polen, sieht man das in Polen auch so mit Blick auf Deutschland? Dass die Deutschen hier blind sind gegenüber diesen Gefahren?
Templin: In Polen ist das Bewusstsein und das Bedauern darüber präsent. Man hofft darauf, dass in Deutschland das Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung wächst. Das Bemühen darum ist vorhanden, es gibt Gespräche, es gibt Kontakte. Und ich kann mir nur vorstellen, dass es bei uns auf der deutschen Seite ankommt, dass es so wirkt, dass die bisher vorhandenen, aber unzureichenden, ich würde fast sagen: halbherzigen Bemühungen um wechselseitige Kooperation, um ein positives Wahrnehmen des polnischen Partners ungeachtet jeder erneuten politischen Krise dort vorhanden ist, dass man das aufgreift und dass Deutschland und Polen gemeinsam hier nicht nur als wie vorher Partner und Reformmotor, sondern Partner in der Krise reagieren können.
Liminski: Krise in Polen und Krise in der Ukraine, Auswirkungen, unterschiedliche Einschätzungen. Das war Wolfgang Templin, bis vor einem halben Jahr Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau. Besten Dank für das Gespräch, Herr Templin!
Templin: Ich bedanke mich auch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.