Hier, in Slowjansk, steht er noch. Die rechte Hand in der Manteltasche, schaut er in die Ferne - als würde dort etwas sehr Merkwürdiges vor sich gehen.
"Ich hätte ihn ja dynamisch dargestellt, ich liebe Bewegung. Aber meine Aufgabe war es nur, aus einer Tonfigur eine Bronzestatue zu machen. Ach, ich hätte ihm gerne wenigstens die Hand aus der Tasche genommen, die hat mir beim Gießen so viel Arbeit gemacht."
Anatolij Bowsdarenko blickt ein bisschen skeptisch hinauf zur über fünf Meter großen Lenin-Statue, an der er Tag und Nacht gearbeitet hat. Vor 38 Jahren war das. Zur 300-Jahr-Feier der Stadt Slowjansk spendierte die Führung der Sowjetrepublik Ukraine den neuen Lenin. Bowsdarenko wurde mit dem Orden der Arbeitsehre ausgezeichnet - sogar zweimal, weil er als Bronzegießer immer neue und bessere technische Lösungen entwickelte.
Er zieht die Mütze ins Gesicht und tritt zur Seite, um einem Schneeräumfahrzeug Platz zu machen. Heute ist der 76-Jährige kein Star mehr in Slowjansk in der Ostukraine, heute muss er um seinen Lenin fürchten.
"Die Zeiten haben sich geändert. Ich habe im Fernsehen gesehen, wie sie die Statuen stürzen und einfach zerhauen, in Kiew und anderswo. Und die Menge hat auch noch gejubelt. Mich erinnern diese Menschen an einen wilden Stamm. Ich bin jemand, der etwas aufbaut und kein Zerstörer. Ja, wenn diese Leute wenigstens dafür sorgen würden, dass Lebensmittel billiger werden oder der Strom, aber sie tun eben nichts anderes als zerstören."
Slowjansk war einst die Hochburg der Separatisten
So denken viele Menschen in Slowjansk. Eine Gruppe sammelt seit ein paar Tagen Unterschriften für ihren Lenin und hat schon über 2.500 zusammen. Nicht wenig in einer Stadt, in der die Menschen genug haben von Politik. Slowjansk war einst die Hochburg der Separatisten im Donezk-Becken. Bei den Kämpfen wurden einige Außenbezirke stark zerstört.
Doch während sich der ehemalige kommunistische Anführer in Slowjansk noch hält, ist Lenin in vielen anderen ukrainischen Städten aus dem Straßenbild verschwunden. Seit vor einem Jahr die Demonstrationen in Kiew begannen, wurden über 500 Lenin-Denkmäler gestürzt oder demontiert. Meistens geschah das friedlich, durch einen Stadtratsbeschluss. Mehr Aufsehen erregte es jedoch, wenn Aktivisten die Statuen gewaltsam und illegal vom Sockel stießen, so wie in Kiew, in Charkiw und in Odessa. Denis Bigunow arbeitet in der Stadtverwaltung von Slowjansk, er hat dafür Verständnis.
"Die meisten Menschen bei uns wissen über Lenin nur das, was in der Sowjetunion gelehrt wurde. Sie glauben, er sei ein sehr guter Mensch gewesen. Ich habe dagegen gelesen, dass er sehr viele unschuldige Menschen erschießen ließ. So ein Denkmal auf einem zentralen Platz ist für mich deshalb eigentlich ein Symbol, das Gewalt verherrlicht."
Die pro-westliche Regierung drückt beide Augen zu
Vor allem aber sehen westlich gerichtete Ukrainer in den Denkmälern heute Symbole für die Sowjetunion, für die Herrschaft Moskaus über die Ukraine. Nur so lässt sich der entbrannte Kulturkampf erklären. Die pro-westliche Regierung drückt deshalb auch beide Augen zu, wenn die Aktivisten gewaltsam vorgehen. In Charkiw, wo das mit achteinhalb Metern Höhe größte ukrainische Lenin-Denkmal stand, hatte die Staatsanwaltschaft zunächst Ermittlungen aufgenommen. Der Vorwurf lautete: „Vernichtung von Objekten des kulturellen Erbes". Das Gesetz sieht dafür eine Strafe bis zu fünf Jahren Gefängnis vor. Doch der Gouverneur des Bezirks, eingesetzt von Präsident Petro Poroschenko, billigte die gewaltsame Aktion im Nachhinein und unterschrieb eine entsprechende Anordnung.
Kritiker halten der Regierung vor, sie solle lieber auf rechtsstaatliche und demokratische Entscheidungen drängen. Zumindest in Slowjansk könnte das noch gelingen. Der Bronzegießer Bowsdarenko hofft auf ein Referendum über sein Denkmal, er glaubt die Mehrheit auf seiner Seite.
"Und wenn sie es nicht sein sollte, schlage ich eine Versteigerung des Denkmals vor. Aufrufpreis sollte der Materialwert sein. Wir haben hier sieben Tonnen sehr wertvoller Bronze - mit hohem Kupferanteil. Dann können sie hier von mir aus ein Blumenbeet anpflanzen."