Archiv


Ulrich Enzensberger: Parasiten

Schlägt man zum Beispiel in Meyers Lexikon den Begriff "Parasiten" nach, so findet sich dort die biologisch korrekte Beschreibung dieser "Bakterien-, Pflanzen- oder Tierarten, die ihre Nahrung anderen Lebewesen entnehmen und sich vorübergehend und dauernd an oder in deren Körper aufhalten". Der politische Kampfbegriff "Parasit" findet dort keine Erwähnung. Dabei wird er von allen denen gerne ins Feld geführt, die eine Vorstellung vom "Volkskörper" haben und denen Selektion ein Bedürfnis ist. Ulrich Enzensberger hat in der Edition "Die andere Bibliothek" eine Kulturgeschichte des Parasiten vorgelegt.

Tita Gaehme |
    Im alten Griechenland waren Parasiten hochgeehrt, da saßen sie als Vertreter des Volkes am Ehrentisch und nahmen das kultische Opfermahl ein. Als der Glaube an den Kommunionscharakter des Speiseopfers noch lebendig war", da sorgten Parasiten für die Götterehrung.

    Als der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß in den späten 60er Jahren Künstler und Intellektuelle mit Parasiten, Schmeißfliegen und Ratten verglich, da ging es um Schmähung der Opposition. Ulrich Enzensberger nähert sich einem Begriff, der im Zivilisationsverlauf abendländischer Geschichte aus dem Bereich der Kultur in die Hygiene abwanderte, um in der Zoologie und Botanik zu landen und schließlich in der Genforschung eine Schlüsselrolle zu spielen.

    So erfahren wir, wie es kommt, dass kleine krabbelnde Tierchen, ohne in der Löwenhaut zu stecken, als Inbegriff der Bedrohung gefürchtet werden. Vom "Mitesser" fühlten sich honorige Bürger verfolgt. Verächtlich sah der Reiche auf den Schmarotzer herab, ließ sich aber von ihm unterhalten, mit Brosamen fütterten Edelleute Schmeichler, die ihre Tischrunden mit Witz und Spott belebten.

    Letztlich geht es in diesem Buch um die Streitfrage, wie man die Welt organisieren kann und um den Blickwinkel: Ist es ein Geben und Nehmen zum gegenseitigen Vorteil oder profitiert der eine auf Kosten des anderen? Ist der Schmarotzer ein Feind der Gesellschaft oder gibt es ein Recht auf Faulheit? So belebt der Parasit auch heute noch Debatten über Arbeitslosigkeit, sozialen Wohlstand oder den Umgang mit Flüchtlingen.

    Die Kulturgeschichte des Parasiten ist also die Geschichte eines Niedergangs. Sie beginnt im alten Griechenland. Parasitos bedeutet im Wortsinn: der neben einem anderen Speisende. Im Alten Griechenland gab es den Ritus des Mitessens seit mythischen Zeiten. Das demokratische Athen behielt die gemeinsame öffentliche Speisung bei. Im "Prytaneion", dem Kultplatz und Zentrum der politischen Macht, erhielten Männer, die sich um das Land verdient gemacht hatten, lebenslänglich Speise und Trank gratis. Der Philosoph Sokrates beanspruchte in seiner Prozess-Verteidigung diesen Parasitenstatus statt der Todesstrafe. In frühen Komödien erschien der Parasit dann als Schmeichler und Possenreißer am herrschaftlichen Tisch, für den die Brosamen abfielen. Die Wanderbühnen trugen seinen schlechten Ruf durch Europa. Christus hatte dazu aufgefordert, zum Mahle nicht die Freunde und Verwandten, sondern die Krüppel und die Armen einzuladen. Die Protestanten deuteten den Parasiten als arbeitsscheuen Schmarotzer.

    Nachdem in dem lustig gemeinten literarischen Werk von Nicolaus Rigaltius mit dem Titel "Das Parasitenbegräbnis" 1661 der Parasit pompös beerdigt worden war, gewann er in der Naturwissenschaft neue Popularität durch die Mistel, von der behauptet wurde, dass sie als Parasitische Pflanze auf Kosten anderer lebe. Damit war ein Bild und eine Sichtweise in die Welt gesetzt, mit der das Verhalten bestimmter Tiere, Pflanzen und Menschen interpretiert wurde. Würmer, Flöhe, Läuse, Wanzen und Pilze schmarotzen von anderen Körpern, so wie Bettler, Vagabunden und Arme vom Gesellschaftskörper. Der Kampfbegriff des sozialen Parasitismus war geboren.

    In Friedrich Schillers Komödie "Der Parasit oder die Kunst sein Glück zu machen" durfte der Titelheld zum letzten Mal als Mensch auftreten. Danach mutierte er zum Unmenschen und Parasitismus zum Seuchenherd. "Vernichten wir den Kapitalismus oder er vernichtet uns." Mit zündenden Schlagworten belebte die Interpretation des sozialen Parasitismus die politische Demagogie. Von der Behauptung "Deutschland ist zum Filtrierapparat für heimatlose Juden geworden" bis zur Eugenetik und zur Idee der Rassenhygiene im ausgehenden 19 Jahrhundert war der Schritt nicht weit.

    Auch die sozialistische Bewegung polemisierte gegen die Schmarotzer der arbeitenden Bevölkerung, und die Bolschewisten begannen im 20. Jahrhundert mit der Ausmerzung von allen, die hinderlich waren. Die Nazis übersetzten Parasit kurzerhand mit "Volksschädling", Ungeziefer, das Seuchen bringt und ausgerottet gehört.

    Immer noch funktioniert das Bild der Bedrohung von außen, der man "mit elektronischen, chemischen oder mechanischen Mitteln" beizukommen glaubt. Wie aktuell der Parasit Ängste bedient, zitiert Enzensberger aus der bahnbrechenden Veröffentlichung der umfassenden Analyse des genetischen menschlichen Codes im Februar dieses Jahres. Seitdem wissen wir es: Der Feind kommt nicht von außen, er steckt in uns drin: "Endlich lasse sich ermessen, in welchem Ausmaß parasitische DNA unser Genom kolonisiert habe."

    Der Autor begleitet den Parasiten auf seinem historischen Weg durch Literatur, Diffamierung, Instrumentalisierung und Verwissenschaftlichung vorrangig mit dem Pronomen "wir". Dadurch deutet er die eigene biografische Verknüpfung mit dem Objekt seiner Darstellung an. Der Apo-Aktivist der sechziger und frühen siebziger Jahre, Mitbewohner der legendären Berliner antiautoritären "Kommune 1", lag mit im Verfolgungsvisier der Springerpresse und der CDU, die damals zum Halali blies gegen die parasitären, weil demonstrierenden und nichtarbeitenden Studenten. Der Schriftsteller Ulrich Enzensberger reiht sich in die Riege parasitärer Vorgänger ein und verbindet diese Identifizierung mit ironischer Distanziertheit im Zitieren der Quellen. Mit seiner Belesenheit tritt er nicht autoritär auf, im Gegenteil: Er entwickelt spielerisches Changieren als Stilmittel; zuerst wirkt es als Hürde, wenn man konventionell nach einem Standpunkt des Autors sucht; nachdem man diese überwunden hat, erhöht es das Lesevergnügen, weil man sich mit dem Autor in den reichen literarischen Quellen tummeln kann. So lässt sich begreifen, wie Menschen, Tiere, Pflanzen und Verhältnisse gegenseitig voneinander abhängig sind. Der Leser erkennt auf verblüffende, vergnügliche Weise sich selbst als Schmarotzer des Autors und Parasitismus als Lebenskunst.

    "Parasiten", ein Sachbuch von Ulrich Enzensberger. Der Band ist in der Reihe "Die andere Bibliothek" des Frankfurter Eichborn Verlag erschienen, umfasst 299 Seiten und kostet 27.61 Euro.