Die Siebzigerjahre sind ein seltsames Jahrzehnt, das zu deuten nicht ganz einfach ist. Es war die Zeit nach dem großen Aufbruch, die Zeit der Suche nach Alternativen, wie man leben und arbeiten könne, mit allen Absurditäten, die das auch mit sich brachte und sicher waren sie eine Zeit des Lesens, denn dies alles musste theoretisch abgesichert werden. Von der Utopie der Allgemeinbegriffe hat Michael Rutschky bereits 1980 gesprochen. Wie ernst die Begriffe genommen wurden, schildert Ulrich Raulff anhand der Diskussionen in der Germanistengruppe Poetik und Hermeneutik".
"'Ohne diesen Begriff nicht geklärt zu haben, kann man nicht weiterleben.' In diesem Satz hat Manfred Frank neulich das eigentümliche Klima der Diskussionen von "Poetik und Hermeneutik" zusammengefasst. Diese Leute glaubten tatsächlich noch an den Wert von Begriffen und ihre Bedeutung für das Leben. In ihren Diskussionen ging es noch um mindestens alles. Man musste aber nicht zu der Gruppe um Hans Robert Jauß gehören, um ähnliche Erfahrungen zu machen. Es gab diesen heiligen Ernst, dieses Verlangen nach Klarheit auch unter den Jüngeren. Zehn Jahre später, als schon die postmoderne Unverbindlichkeit angesagt war, hätten alle verständnislos gelacht: Was für Pedanten. Wie tödlich ernst die alles genommen haben. Genau das hatten wir getan, die Begriffe ernstgenommen. Dem Leben hat es nicht geschadet."
Das Ernstnehmen. Darin sieht Ulrich Raulff, im Gegensatz zu anderen Interpreten, die in der Politisierung der Universitäten ihren Niedergang erkennen wollen, eher ein Aufschwung, vielleicht ein letztes Aufbäumen der Alma Mater, in der für ihre Mitglieder sich noch alles zu entscheiden hatte. Natürlich war der Neomarxismus, besonders in Marburg, wo Raulff studiert hat, die Zeitströmung, der sich kaum jemand entziehen konnte. Auch er hat im roten Buchladen gearbeitet. Sein Ausweg, seine Befreiung waren die französischen Strukturalisten, die zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Rheinseite noch wenig Gegenliebe fanden.
Momentaufnahmen der Akademiker
"Die jungen Leser der Strukturalisten und ihrer literarischen Gewährsleute wie Artaud, Bataille, Blanchot und Klossowski konnten den Erlkönig nicht erkennen, den die Älteren zu sehen meinten, wenn sie ihnen Irrationalismus vorhielten. Sie konnten nicht verstehen, wie ein intelligenter Mann wie Jean Améry auf die Idee kommen konnte, man müsse die Freiheit gegen Foucault verteidigen. Eine 'nachgerade terroristische Offensive gegen die klassische Vernunft', meinte Améry bei jenem zu erkennen. Uns dagegen hatte die Lektüre der Strukturalisten Wege zu freiem Denken gewiesen, denen sich unsere neomarxistischen Kommilitonen mit Fleiß versperrten."
Ulrich Raulff war als Übersetzer und Herausgeber an diesen Auseinandersetzungen beteiligt und gern hätte man mehr über sie erfahren. Hatte man sich, gefangen im Lagerdenken, jenseits der Polemik wirklich so wenig zu sagen? Bei Raulff verbleibt es weitgehend bei der Schilderung der Begegnung mit Denkern der verschiedenen Provenienzen. Es sind seine Siebzigerjahre, die er beschreibt, in Momentaufnahmen der Akademiker, wie sie lehrten und sprachen.
"Bei Taubes war an Schlaf nicht zu denken. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, ein weltlicher Kleriker, im Alter dick geworden und von weichlichen Gesichtszügen, schien er wie von Schwefelluft umgeben. Als Judaist und Eschatologe leistet er sich einen intellektuellen Luxus, der jeden anderen Denker seiner Zeit Kopf und Kragen gekostet hätte. Genüsslich las und zitierte er Theoretiker und Philosophen, die allen andern als Tabu galten. Carl Schmitt zum Beispiel durfte man damals nicht erwähnen, ohne hinzusetzten, dass er der Kronjurist des Dritten Reiches gewesen war. Solchen zwanghaften rhetorischen Konventionen zu folgen, wäre Taubes nicht in den Sinn gekommen."
Punk-Erlebnis mit der Volkspolizei
Es gibt eine ganze Reihe solcher schönen Miniaturen, die das akademische Klima der Siebzigerjahre wiedererstehen lassen. Sie sind besser formuliert und beobachtet als die Geschichten, die sich ehemalige Kommilitonen beim Wiedersehen erzählen, aber weit darüber hinaus gehen sie nicht. Raulffs Reich sind die Universitäten und Bibliotheken. Wenn er diesen Schutzraum verlässt, dann trifft er den Zeitgeist nicht so präzise. Sein Punk-Erlebnis zum Beispiel ereignet sich bei einer Kontrolle durch die Volkspolizei, anhand eines kleinen Fotos.
"Eine Freundin hatte es mir zum Abschied von Marburg geschenkt. Es zeigte sie mit nacktem Oberkörper, im Vordergrund lag hell und rund ihre eine Brust, irgendwie im Halbdunkel unscharf ihr Gesicht. Auf die Rückseite hatte sie geschrieben 'Ich bin Jutta'. Das kleine Bild war nicht leicht zu lesen, es dauerte eine Weile, bis man sich durchbuchstabiert hatte und begriff, welchen Teil von Jutta man sah. Auch der Beamte brauchte lange und als er endlich begriff, war ihm gleichzeitig klar, dass er zu lange auf das Bild gestarrt hatte. Er errötete, egal ob aus Scham oder aus Zorn; wir wussten, was uns erwartete. Die Stunden in der Baracke waren ein einziger Triumph. Wir hatten der Welt gezeigt, wie Punk geht."
Nun ja, für einen, der auszog, ein Intellektueller zu werden, lag Punk wohl eher am Wegesrand. Eine umfassende Studie der Siebzigerjahre hat Raulff sicher nicht schreiben wollen. Es ist eher der erste Teil der Memoiren eines Lesers. Doch wenn er etwas mehr von der Unruhe innerhalb dieses verwirrten Suchens nach Klarheit hinübergerettet hätte, das wäre schon schön gewesen.
Ulrich Raulff: "Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens"
Klett-Cotta, gebunden, 170 Seiten, 17,95 Euro.
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