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Unbegleitete Flüchtlingskinder
"Das sind hochmotivierte, tolle junge Menschen"

Sein Jugendamt kümmert sich in Rheinland-Pfalz um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Achim Hettinger, Chef der Behörde in Trier, erlebt sie als hochmotiviert. Sie könnten ein Gewinn für Deutschland sein, sagte der Behördenleiter im DLF. Es gebe aber auch Gefahren.

Achim Hettinger im Gespräch mit Doris Simon |
    Drei Flüchtlingskinder blicken eng aneinandergedrängt in die Kamera.
    Flüchtlingskinder aus Syrien am 10.09.2015 in Potsdam (Brandenburg). (picture alliance / dpa / Foto: Ralf Hirschberger)
    Die Zahlen der unbegleiteten Flüchtlingskinder sind stark gestiegen, und das stellt Jugendämter wie in Trier vor viele Probleme. So müsse man sich bei der Unterbringung mit Notunterkünften etwa in Hotels aushelfen, so Hettinger. Oft seien bis zu sechs Jugendliche in einem Zimmer untergebracht. Um Abhilfe zu schaffen, baut das Trierer Jugendamt derzeit ein Gastfamilien-System auf: Es habe sich eine Reihe von Familien gemeldet, die bereit seien, solche Flüchtlingskinder über einen Zeitraum von drei Monaten oder auch länger zu betreuen, sagte Hettinger. Diese Familien ließen sich auf andere Kulturen, andere Werthaltungen und fremde Sprachen ein.
    Feststellen, was die Kinder wollen
    Für jedes der Kinder gebe es ein sogenanntes Clearingverfahren, das drei Monate dauere, erläuterte Hettinger. In diesen Verfahren werde festgestellt, woher die Flüchtlinge kämen, auf welchen Wegen sie hergekommen seien, welche Bildung sie bisher erhalten hätten, und welche Vorstellungen sie von ihrer Zukunft hätten.
    Viele der hier ankommenden Jugendlichen seien hochmotivierte, tolle junge Menschen, betonte der Behördenchef. Man müsse dafür sorgen, dass sie schnell Deutsch lernten, eine Ausbildung erhielten und Arbeit bekämen. Dann hätten sie gute Aussichten und könnten ein Gewinn für unser Land werden, meinte Hettinger. Es gebe aber auch Gefahren für die Flüchtlingskinder, fügte er hinzu. Da sie allein hierher kämen, seien sie sehr schutzlos. Da hätten die Jugendämter eine ganz besondere Verantwortung. Derzeit ist das Trierer Jugendamt das einzige in Rheinland-Pfalz, das sich schwerpunktmäßig um die unbegleiteten Flüchtlingskinder kümmert. Demnächst wird diese Arbeit auf fünf weitere Jugendämter verteilt. Auch sei die Zahl der Mitarbeiter in der zuständigen Abteilung seiner Behörde von drei auf acht gewachsen. Hier sei die Unterstützung durch das Land sehr gut, meinte Hettinger.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: In diesem Jahr könnten bis zu 30.000 Kinder und Jugendliche aus Kriegs- und Krisenregionen ohne ihre Eltern und Verwandten nach Deutschland kommen. Das Gesetz stellt diese unbegleiteten Minderjährigen unter besonderen Schutz. Ihre Aufnahme, Unterbringung und Betreuung organisieren in Deutschland die Jugendämter. Für diese Aufgabe hat die Bundesregierung jetzt zusätzlich 350 Millionen Euro zugesagt und eine Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen über die Bundesländer nach dem Schlüssel angekündigt, nach dem auch sonst Flüchtlinge verteilt werden. Bislang waren vor allem wenige Städte im Westen der Republik Anlaufstellen für die Kinder und Jugendlichen aus Kriegsregionen. In Rheinland-Pfalz war und ist das Trier. Achim Hettinger ist der Leiter des dortigen Jugendamts. Mit ihm bin ich jetzt verbunden. Guten Morgen.
    Achim Hettinger: Guten Morgen, Frau Simon.
    Simon: Herr Hettinger, schildern sie uns doch bitte erst mal, was Sie im Einzelnen machen im Jugendamt, wenn unbegleitete Minderjährige aus der Erstaufnahme zu Ihnen kommen.
    Hettinger: Bislang ist es so gewesen, dass wir als Stadt Trier für das gesamte Rheinland-Pfalz die jungen Menschen, die in Rheinland-Pfalz an irgendeinem Ort angekommen sind, meistens auf Transitstrecken, Bahnhöfen, in Erstaufnahme-Einrichtungen, wie wir in Trier eine haben, aufgenommen haben und durch ein Clearing-Verfahren zusammen mit dort tätigen freien Trägern, das etwa drei Monate gedauert hat, geführt haben.
    Simon: Das bedeutet im Einzelnen was?
    Hettinger: Wir müssen zunächst schauen, mit welchen Belastungen kommt dieser junge Mensch, was waren seine Fluchtursachen, was ist sein Weg gewesen, gibt es familiäre Dinge, die zu klären sind, gibt es Verwandte in der Bundesrepublik, mit denen man eine Familienzusammenführung machen könnte, wie ist ihre bisherige Bildungskarriere gewesen, welche individuellen Ressourcen, Wünsche, Interessen, Vorstellungen für ihr weiteres Leben haben sie, haben sie Gewalterfahrung gemacht, sind Traumata damit verbunden, gibt es psychologisch-therapeutischen Bedarf, wie ist ihre Anschlussfähigkeit in Ausbildung, in Arbeit, wenn sie hier bleiben können. Dann haben wir als Jugendamt die Verpflichtung, diesen jungen Menschen in Obhut zu nehmen, also die Verantwortung für ihn zu tragen, und dann die Begleitung im ausländerrechtlichen Verfahren, die Vorbereitung auf seine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, all diese Dinge.
    Gastfamilien sollen Kinder aufnehmen
    Simon: Herr Hettinger, wie schwierig ist es derzeit für Sie, wo doch sehr viele von diesen unbegleiteten Minderjährigen kommen, für das Jugendamt, Aufnahmeplätze für minderjährige Flüchtlinge zu finden?
    Hettinger: Vor ein paar Jahren war es noch so gewesen, dass wir in Trier insgesamt mit circa 35 Plätzen, die auf zwei verschiedene Träger verteilt waren, klar gekommen sind. Wir hatten etwa 90, also unter 100 Clearing-Fälle bis 2013. Im Jahr 2014 waren es schon 240 und bis September diesen Jahres sind es schon 335. Wir haben zusammen mit den freien Trägern und weiteren anderen Trägern ein System aufgebaut, was derzeit 150 Plätze vorsieht, und die reichen immer noch nicht aus derzeit. Da sind viele Plätze dabei, die wir als Notplätze belegen, Hotelplätze, Plätze in Einrichtungen, wo wir bis zu sechs Kinder oder Jugendliche in einem Zimmer haben. Das ist eine ganz schwierige Sache, innerhalb einer kurzen Zeit diesem Andrang Herr zu werden und zusammen mit den Trägern, denn auf die sind wir angewiesen, hier ein System zu installieren, was den Jugendlichen auch gerecht wird.
    Simon: Herr Hettinger, bringen Sie als Jugendamt Jugendliche auch bei Privatpersonen unter?
    Hettinger: Wir bauen derzeit ein System auf, das nennen wir Gastfamilie. Es haben sich auch eine Reihe von Familien schon gemeldet, die ein Zimmer frei haben, die sich gerne Zeit für junge Menschen nehmen, die sich zutrauen, einen Jugendlichen auch für eine befristete Zeit von etwa drei Monaten bei sich aufzunehmen und zu unterstützen, die bereit sind, sich mit verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen, Gebräuchen, Werthaltungen auseinanderzusetzen, und die auch bereit sind, so eine Beziehung auch für eine kurze Dauer verlässlich und flexibel einzugehen, die kreative Ideen haben zur Lösung, wie man mit Sprachschwierigkeiten umgeht, die ein unterstützendes Umfeld haben, die mit Konflikten konstruktiv umgehen können. Da gibt es Familien und wir stellen auch fest, dass ein Interesse solcher Familien da ist, nicht nur für diese drei Monate für diese jungen Menschen dann da zu sein, sondern sie möglicherweise, wenn das funktioniert, auch auf längere Sicht bei sich zu halten.
    Nächstes Jahr 1.200 Inobhutnahmen in Rheinland-Pfalz
    Simon: Herr Hettinger, das Jugendamt Trier arbeitet ja schon lange in der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger. Wie gut oder schlecht sind nach Ihrer Erfahrung die Aussichten von Kindern und Jugendlichen, die ganz allein nach Deutschland kommen, es hier zu schaffen?
    Hettinger: Das Spektrum derer, die hier herkommen, ist sehr unterschiedlich. Sie haben den Analphabeten, Sie haben aber auch den gut ausgebildeten. Es sind aber überwiegend hoch motivierte, tolle junge Menschen, und wenn es uns gelingt, dafür zu sorgen, dass die sehr schnell die Sprache kennenlernen, dass sie Ausbildung bekommen, dass sie in Arbeit integriert werden, dann schätze ich die Aussichten eigentlich sehr gut ein und als einen Gewinn auch für unser Land.
    Simon: Und dass jetzt so viele kommen, verschlechtern sich dadurch die Chancen des einzelnen Kindes oder Jugendlichen für Integration?
    Hettinger: Schwer zu sagen. Bislang, denke ich, können wir das mit den Zahlen, wie sie jetzt prognostiziert sind. Wir gehen davon aus, dass in Rheinland-Pfalz nächstes Jahr etwa 1.200 Inobhutnahmen zu bewerkstelligen sind und 1.900 Anschlusshilfen. Bislang bewegt sich das alles noch auf einem Niveau, denke ich, wo wir das händeln können.
    Simon: Aus Ihrer Erfahrung als Jugendamtsleiter, wie gefährdet sind solche Kinder und Jugendliche, die ganz alleine in einem neuen Land anfangen müssen, gefährdet durch Menschenhändler auch hier noch, durch falsche Freunde und in den letzten Jahren auch gefährdet durch islamistische Menschenfänger?
    Hettinger: Sie sind sehr schutzlos, wenn sie zu uns kommen, auf sich alleine gestellt, und da sind natürlich die Gefährdungsmomente, die sie auf der Flucht auch schon vielfach haben mitmachen müssen, besonders hoch. Von daher ist auch unsere Verantwortung als Jugendamt eine ganz herausragende.
    Simon: Wie können Sie denn da als Jugendamt Trier mithelfen und vorbeugen?
    Hettinger: Wir müssen schauen, dass wir eine Umgebung finden, in der diese Gefährdungsmomente ausgeschlossen sind, und der Amtsvormund, der hier jeweils für sein Mündel zuständig ist, muss diese Dinge im Blick haben.
    "Unterstützung von Landesseite durchaus positiv"
    Simon: Es gibt ja häufiger die Klage, man werde allein gelassen bei der Herausforderung von Politik, von oberen Behörden. Wie geht es Ihnen als Jugendamtsleiter in Trier?
    Hettinger: Ich kann das so nicht sehen. Wir haben eine sehr enge und gute Unterstützung seitens unseres Landes. Wir sind jetzt dabei, um überhaupt dieser Herausforderung Herr zu werden, in Abstimmung mit dem Land mehrere Jugendämter in diese Funktion, die wir bislang fürs Land eingenommen haben als quasi Schwerpunkt-Jugendamt für alle, die nach Rheinland-Pfalz kommen, zu verteilen auf fünf weitere Jugendämter, und da erlebe ich eigentlich die Unterstützung von Landesseite aus sehr positiv.
    Simon: Herr Hettinger, ich nehme an, wie überall derzeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen sind Sie, sind Ihre Kollegen vom Jugendamt oft am Anschlag. Die Arbeit mit unbegleiteten Minderjährigen - die haben ja häufig, wie Sie schon sagten, Schreckliches erlebt, sie tun sich manchmal schwer mit dem neuen Leben -, ist die eher belastend, oder eher ein Antrieb, ein Ansporn für Sie?
    Hettinger: Beides. Aufgrund der schieren Menge bringt es natürlich Situationen mit sich, wo der zuständige Kollege sich fragt, wie werde ich jetzt speziell am Wochenende, wenn wieder ein Schwung zu erwarten ist, dieser Situation Herr, wie komme ich meiner Verantwortung, die ich habe, wie werde ich dieser gerecht. Aber es ist natürlich auch eine Herausforderung, die einen immer wieder neu plagt. Wir selbst haben bislang mit drei Kollegen gearbeitet und werden jetzt die entsprechende Abteilung auf etwa acht Kollegen ausweiten, damit wir das auch so bearbeiten können, dass der einzelne Kollege nicht zusammenbricht unter der Belastung.
    Simon: Achim Hettinger war das, der Leiter des Jugendamtes in Trier. Herr Hettinger, vielen Dank für das Gespräch.
    Hettinger: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.