Einmal mehr muss sich die türkische Regierung in diesen Tagen internationale Kritik gefallen lassen: Die US-Regierung fordert "Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte zu schützen". Ankara habe eine "weitere rote Linie" überschritten, kritisiert EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, nämlich die gegen die Meinungsfreiheit. Für Grünen-Chef Cem Özdemir existiert Pressefreiheit längst nicht mehr. Hintergrund ist die Festnahme zahlreicher Mitarbeiter der wichtigsten verbliebenen Oppositionszeitung "Cumhuriyet".
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) nimmt die jüngsten Entwicklungen zum Anlass, um auf ein anderes Thema hinzuweisen: "Vor dem Hintergrund der Repressionen gegen Journalisten in der Türkei wirkt das Verfahren wie aus der Zeit gefallen", kommentiert der DJV auf seiner Internetseite. Und meint den am morgigen Mittwoch am Hamburger Landgericht beginnenden zweiten Teil im Streit zwischen Recep Tayyip Erdogan und Jan Böhmermann - die Zivilklage des türkischen Staatspräsidenten gegen den deutschen TV-Moderator. Dass es überhaupt zu dieser Verhandlung komme, sei "vor dem Hintergrund der Journalistenverfolgung in der Türkei eine Farce", meint der DJV.
Erst vor einem Monat hatte die Staatsanwaltschaft in Mainz die strafrechtlichen Ermittlungen in dem Fall eingestellt. Nun müssen die Hamburger Richter über Böhmermanns "Schmähkritik" urteilen. Erdogan hat als Privatmann geklagt und will erreichen, dass das gesamte Gedicht verboten wird. Darin hatte Böhmermann das Staatsoberhaupt mit Kinderpornografie und Sex mit Tieren in Verbindung gebracht, um auf die menschenrechtliche Situation in der Türkei hinzuweisen.
Auf Erdogans Antrag hatte das Landgericht bereits am 17. Mai eine einstweilige Verfügung gegen Böhmermann erlassen. Dieser darf seitdem den größeren Teil seines Gedichts nicht wiederholen, das er am 31. März in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" im ZDF vorgetragen hatte.
"Die Rechtswissenschaft wird das freuen"
Die Art und Weise, wie das Landgericht die einstweilige Verfügung öffentlich machte, ist für den Hamburger Anwalt für Medienrecht Tilman Winterling "quasi ein Schildbürgerstreich"; die verbotenen Passagen des Gedichts lassen sich auf der Internetseite der Justiz noch immer ohne Weiteres nachlesen. Winterling betreibt privat einen Blog für Literaturkritik. Er könne verstehen, sagt er im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, wenn das Gedicht als "geschmacklos" eingeordnet werde. Dennoch erwarte er am Ende der zwei Prozesstage ein Urteil, das den türkischen Staatschef nicht zufrieden stellen dürfte. Denn bisher habe in Deutschland vor Gericht immer die Satire gesiegt.
Doch ob Sieg für Böhmermann oder Erdogan - Winterling geht davon aus, dass der Streit seinen Weg durch die Gerichtsinstanzen gehen wird. Am Ende könnte es das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein, das entscheiden muss. Die Rechtswissenschaft würde das freuen, ist sich Winterling sicher. In diesem Fall sei ein Grundsatzurteil zu erwarten, "das die Rechtssprechung der nächsten Jahre prägen wird".
Der Jurist erinnert an andere "Pflöcke" der Rechtswissenschaft, die eingeschlagen worden seien: die "Caroline-Urteile" des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von 2004 zur Berichterstattung des Privatlebens von Prominenten, die "Mephisto-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts von 1971 als Grundsatzurteil zur Kunstfreiheit und zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht - und nun möglicherweise die "Böhmermann-Entscheidung" zu den Grenzen der Satire-Freiheit.