"Boston" setzt ein mit der Beerdigung eines Patriarchen, eines Angehörigen der blaublütigen Kaste, die die Geschicke der Stadt leitet. Josiah Quincy Thornwell, ehemaliger Gouverneur des Staates Massachusetts, in nostalgischer Verklärung alter Zeiten noch immer "Commonwealth" genannt, sitzt an einem Sommertag des Jahres 1915 zusammengesackt an seinem Schreibtisch. Was Sinclair nun in diesem ersten Kapitel ausbreitet, ist ein Panorama aus Missgunst, Gier und Dünkel. Es ist die Ouvertüre zu dem, was später folgen wird. Denn der Tote ist noch nicht einmal unter der Erde, da beginnt unter seinen Töchtern, Schwiegersöhnen und Enkelkindern das Gezänk um das Erbe.
Schon zu Lebzeiten hatte Thornwells Schwiegersohn James Scatterbridge dem Alten durch geschickte finanzielle Transaktionen die familieneigenen Betriebe quasi abgeluchst. Das verzeiht der Rest der Familie dem Emporkömmling nicht. Nun geht es um Teppiche, Möbel- und Schmuckstücke und darum, ob das mit der Beerdigung beauftragte Unternehmen tatsächlich standesgemäß ist. Fassungslos und angewidert betrachtet Josiahs Witwe Cornelia das würdelose Treiben. Cornelia, die Hauptfigur von Sinclairs Roman, ist selbst nicht von jener Herkunft, die die bornierte Stadtgesellschaft zu akzeptieren gedenkt.
"Obwohl Cornelias Lächeln allen Rätsel aufgab, kam niemand auf die Idee, ihm auf den Grund zu gehen; gerade weil sie es nie für möglich gehalten hätten, von einem Nicht-Bostoner etwas lernen zu können, mussten die Thornwells wohl oder übel als waschechte Bostoner gelten. Dass Cornelias Vater an einem kleinen College als Professor gelehrt hatte, erschien hinlänglich achtbar, doch sein Vater war ein ganz gewöhnlicher Einwanderer gewesen, und noch in drei Generationen sollten die oberen Zehntausend der Stadt beim Dinner ihren Tischnachbarn zuflüstern: "Aber ja, meine Liebe, Cornelias Großvater kam in der Holzklasse über den Atlantik!"
Schilderung des Arbeitermilieus
Am Ende des ersten Kapitels unternimmt Sinclair einen überraschenden Schachzug: Cornelia schreibt unmittelbar nach der Beerdigung ihres Mannes einen Abschiedsbrief an ihre drei Töchter – und macht sich aus dem Staub. Angeblich, um eine alte Freundin auf eine ausgedehnte Reise zu begleiten. In Wahrheit, um in der rund 40 Meilen von Boston entfernten Stadt Plymouth ein neues Leben anzufangen. Ein Leben als Arbeiterin in einer Taufabrik.
Diese Wendung ist, offen gesagt, nicht sonderlich glaubwürdig, erzählstrategisch jedoch war sie für Sinclair unbedingt notwendig. Denn Cornelia findet Unterkunft in der Wohnung eines italienischen Paares, das einen weiteren Untermieter beherbergt; einen Mann namens Bartolomeo Vanzetti, der Cornelia auf Anhieb sympathisch ist. Diese etwas grobe Konstruktion demonstriert Sinclairs Arbeitsweise: Es geht ihm nicht um literarische Eleganz. Sein Studium hat Sinclair sich mit dem Verfassen von Groschenheften verdient. Es geht ihm um soziale Relevanz.
Tatsächlich schrieb Sinclair in der Vorstellung, mit seinen Werken die Welt zu verändern und zu verbessern. "Boston" ist ein unverhohlen parteiisches Buch, das sich ganz und gar auf die Seite der Unterprivilegierten schlägt. Und so wimmelt es nur von pathetisch angehauchten, deklamatorischen Passagen, in denen Sinclair Attacken auf das System fährt.
"Weshalb waren die Reichen nur so blind? Wie konnte man den Arbeitern nur jedwede Achtung vor Recht und Gesetz rauben, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden? Was sollte das Gerede von der Amerikanisierung, wenn man den einfachen Menschen in Krisenzeiten sämtliche Bürger-, ja, sogar Menschenrechte absprach? Man prügelte sie wie die Hunde – und reagierte dann überrascht, wenn sie sich umdrehten und einen in die Wade bissen."
"Weshalb waren die Reichen nur so blind? Wie konnte man den Arbeitern nur jedwede Achtung vor Recht und Gesetz rauben, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden? Was sollte das Gerede von der Amerikanisierung, wenn man den einfachen Menschen in Krisenzeiten sämtliche Bürger-, ja, sogar Menschenrechte absprach? Man prügelte sie wie die Hunde – und reagierte dann überrascht, wenn sie sich umdrehten und einen in die Wade bissen."
Mischung von Fakten und Fiktion
Eine Cornelia Thornwell hat es nie gegeben, jedenfalls nicht als Zeitgenossin Vanzettis in Boston. Sinclair mischt fiktionale und reale Figuren bunt durcheinander mit dem Ziel, ein klassenübergreifendes Bewusstsein für die Ungerechtigkeit zu schaffen, die den beiden italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti widerfahren ist. Und er fängt ganz nebenbei die weit auseinanderklaffenden Milieus ein, aus denen sich die Arbeiterbewegung der späten Zehner- und frühen Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts zusammensetzt. Es herrscht nicht Einigkeit, sondern Misstrauen. Die irischen Katholiken warnen Cornelia vor dem Umgang mit den gefährlichen italienischen Anarchisten. Bombenleger und Ungläubige seien das, so raunt eine Nachbarin es Cornelia zu.
Als Gegenentwurf dazu baut Sinclair vor allem den hoch intelligenten, belesenen und Dante zitierenden Vanzetti nach und nach zu einem echten Heiligen auf. Zu einem idealistischen Träumer, dem das Wohlergehen anderer wichtiger ist als das eigene Leid. Noch einmal: Das literarische Florett war nicht Sinclairs Sache; er arbeitet mit Stereotypen, die auch vor physiognomischen Merkmalen nicht Halt machen. Man denke nur an die rotgesichtigen, fettwulstigen Bostoner Bankiers und Industriellen, die hier genüsslich vorgeführt werden.
Vanzetti allerdings, so wird es im Roman insinuiert, ist der Machtelite in den unruhigen Zeiten der Streiks und Arbeiteraufstände ein Dorn im Auge. Als die USA in den großen Krieg in Europa eintreten, flieht Vanzetti ebenso nach Mexiko wie der Schuhmacher Nicola Sacco. Die beiden hatten sich kurz zuvor bei einer politischen Versammlung kennengelernt. Ihre Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden, war vollkommen unbegründet – die Wehrpflicht galt nur für amerikanische Staatsbürger. Doch im späteren Prozess sollte die vermeintliche Fahnenflucht ein weiterer Mosaikstein sein, der die Geschworenen gegen die beiden Gastarbeiter einnehmen würde.
Cornelia arbeitet sich buchstäblich die Finger wund in der Taufabrik und baut zugleich ein Netzwerk von Beziehungen in der roten Arbeiterszene auf. Der Thornwell-Clan hat sie mittlerweile ausfindig gemacht und setzt sämtliche Machtmittel ein, um die abtrünnige Verwandte nach Hause zu holen und den Ruf der Familie zu wahren. Vergeblich. Als Cornelias Enkelin Betty während einer Europareise in Schwierigkeiten zu stecken scheint, reist Cornelia ihr nach. Um auf dem Schiff mit einer Nachricht konfrontiert zu werden.
"Zwei Tage später stand in der Zeitung, dass der Bostoner Polizei die beiden Anführer einer Verbrecherbande ins Netz gegangen seien, denen vorgeworfen werde, den Zahlmeister und einen Wachmann der Schuhfabrik Slater and Morill in South Braintree ermordet und bei ihrem Raubzug rund 16.000 Dollar erbeutet zu haben. Es sei davon auszugehen, dass dieselben Täter bereits mehrere Geldtransporte in Ost-Massachusetts überfallen hätten."
Dass die Namen der beiden Inhaftierten Sacco und Vanzetti lauten, erfährt Cornelia erst durch einen Brief aus der Heimat. Den beiden wird zur Last gelegt, im Dezember 1919 und im April 1920 zwei Raubüberfälle auf Geldtransporter verübt zu haben. Bei letzterem wurden zwei Wachleute erschossen. Was sich von nun an abspielt, ist ein beispielloses Schauspiel an Lügen, Verdrehungen, Manipulationen und Fälschungen. Zumindest, wenn man der Version von Upton Sinclair folgen möchte, und er tut alles dafür, um den Leser für seinen Blick auf die Welt einzunehmen.
Ein gnadenlos narzisstischer Richter
Ab dem Augenblick der Verhaftung von Sacco und Vanzetti wird "Boston" zu einer Justizposse von so ungeheuerlichem Ausmaß, dass sie bis heute kaum vorstellbar ist. Im Zentrum dieses grotesken Schauspiels steht die mit Abstand gelungenste Figur des Romans, die Sinclair in ihrer ganzen Ambivalenz entfaltet: Richter Webster, genannt "Web" Thayer, ein Emporkömmling mit veritablem Minderwertigkeitskomplex. Ein narzisstischer Aufschneider, dem nichts wichtiger ist als die Anerkennung der blaublütigen Bostoner Geldgesellschaft. Thayer ist in einem Kreislauf gefangen: Er spürt die Verachtung der oberen Zehntausend, zu denen er nicht gehört. Und er muss dabei zusehen, wie jeder Versuch, deren Gunst zu erlangen, ihn noch lächerlicher macht, als er bereits ist. Thayer ist eine Marionette mit aufbrausendem Charakter und unumstößlichen Urteilen – die er allerdings bereits lange vor Prozessbeginn gefällt hat.
"Thayers kantiges, zerfurchtes Gesicht stand sinnbildlich für das alte puritanische Ethos; und auch seine Stimme, kreischend wie eine Metallsäge, war ein Erbstück seiner Vorfahren, die dreihundert Jahre lang tapfer dem rauen Klima Neuenglands getrotzt hatten. Obwohl er sich rege bemühte, Gelassenheit auszustrahlen, verrieten seine gehetzten Blicke, wie sehr ihn die vielen Ausländer im Saal beunruhigten. Was die Roten betraf, plagte ihn der reinste Verfolgungswahn."
"Thayers kantiges, zerfurchtes Gesicht stand sinnbildlich für das alte puritanische Ethos; und auch seine Stimme, kreischend wie eine Metallsäge, war ein Erbstück seiner Vorfahren, die dreihundert Jahre lang tapfer dem rauen Klima Neuenglands getrotzt hatten. Obwohl er sich rege bemühte, Gelassenheit auszustrahlen, verrieten seine gehetzten Blicke, wie sehr ihn die vielen Ausländer im Saal beunruhigten. Was die Roten betraf, plagte ihn der reinste Verfolgungswahn."
Redundanzen und Stereotypen
Es lässt sich einiges einwenden gegen Upton Sinclairs Mammutroman, der tatsächlich nur wenige Monate nach der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti veröffentlicht worden ist: Es ist dem Buch anzumerken, dass es atemlos und in höchster Empörung geschrieben wurde. Es ist voll von Wiederholungen, Redundanzen und aufwendig beschriebenen Nebenfiguren, die im weiteren Verlauf der Handlung keine Rolle mehr spielen werden. Sinclair hat aufwendig recherchiert; er hat Prozessakten gewälzt, mehrere Verteidiger der beiden Angeklagten interviewt und sogar Bartolomeo Vanzetti im Gefängnis besucht. All das, das ist zu spüren, musste in diesen Roman hinein; nichts durfte weggelassen oder verkürzt werden.
Und trotzdem entwickelt das Buch in der Beschreibung des Verlaufs der sieben Jahre, die es bis zur endgültigen Verurteilung und Hinrichtung der beiden Delinquenten braucht, einen immer stärkeren Sog. Das liegt zum einen daran, dass die komplexen gesellschaftlich und politisch bestimmten Interessenskonflikte der Beteiligten geschickt gegeneinander gestellt und zu einem anschaulichen Zeitbild verarbeitet werden. In der wachsenden Zahl der Unterstützer der beiden Angeklagten sind die Haltungen breit gestreut: Gemäßigte Sozialisten bekämpfen Kommunisten; Anarchisten lehnen jegliche Zusammenarbeit mit staatlichen Organen schlichtweg ab. Von Vanzetti hört man früh den Ausspruch, dass lieber er unschuldig sterben wollen würde als der wahre Täter, weil auch der nur ein Opfer ausbeuterischer Verhältnisse sei. Und unter den früh eingewanderten irischen Arbeitern herrscht Misstrauen gegenüber den Neueinwanderern aus Italien. Die wirtschaftliche Lage spitzt sich zu; die Preise steigen, die Löhne sinken.
Und während Richter Thayer und der sinistre Staatsanwalt Fred Katzmann einen Zeugen nach dem anderen aus dem Hut zaubern und die Zeugen der Verteidigung ignorieren, wird parallel dazu ein echtes Verbrechen unter den Teppich gekehrt: Cornelias Schwiegersöhne, die vor Jahren einen Fabrikanten um dessen florierenden Besitz gebracht haben, waschen sich mit juristischen Winkelzügen und unter dem Beifall der Stadtgesellschaft von aller Schuld rein. Diese sozialen Unterschiede bildet im Übrigen auch Viola Siegemunds Neuübersetzung sprachlich ab: Siegemund hat sich gerade in der Übertragung der Figurenrede eng an die jeweiligen Soziolekte gehalten. Die Klassengesellschaft wird in der wörtlichen Rede hörbar.
"In dieser Welt aus Lügen regierte die Lüge. Wer es wagte, das Thema Wahrhaftigkeit auszusprechen, wurde sofort als Utopist oder als Träumer abgestempelt, oder schlimmer noch – als Verräter."
"In dieser Welt aus Lügen regierte die Lüge. Wer es wagte, das Thema Wahrhaftigkeit auszusprechen, wurde sofort als Utopist oder als Träumer abgestempelt, oder schlimmer noch – als Verräter."
Sinclair überhöht den Prozess ins Mythische
Es hat aus heutiger Perspektive eine vom Autor so wahrscheinlich nicht beabsichtigte Komik, mit welch haarsträubender Dreistigkeit das Gericht gegen die beiden Angeklagten vorgeht. Sinclair überhöht den Prozess ins Mythische; für ihn stehen hier nicht einfach zwei mutmaßlich unschuldige Männer vor Gericht, nein: Die Bostoner Plutokratie statuiert ein Exempel, um die öffentliche Ordnung herzustellen und die ins Wanken geratenden Verhältnisse zu zementieren.
Die Hauptbelastungszeugen sind bestochen, manipuliert oder unglaubwürdig. Eine Mütze, die in der Nähe des Tatortes gefunden wird, wird so lange vor Saccos Nase herumgewedelt, bis dieser zugibt, seine Mützen seien auch immer genauso schmutzig gewesen wie diese. Der Schluss des Staatsanwalts: Die Mütze gehört dem Angeklagten.
Dem Ballistikexperten wird so lange das Wort im Munde herumgedreht, bis die Tatwaffe und diejenige, die bei Sacco gefunden wurde, plötzlich identisch sein sollen. Richter Thayer lässt Aussageprotokolle fälschen und schüchtert Zeugen ein. Das Pech von Sacco und Vanzetti: Ihre Entlastungszeugen sind fast durchweg Ausländer und damit nicht glaubwürdig. Als der Anwalt Cornelia vorschlägt, mit einer Falschaussage das Leben der beiden Italiener zu retten, ist sie empört. Währenddessen grüßt einer der Schöffen beim Hereinkommen in den Gerichtssaal die amerikanische Flagge und äußert öffentlich schon vor Urteilsverkündung, die Angeklagten gehörten auf den elektrischen Stuhl. Die Jury: eine Ansammlung braver, aufrechter Bostoner Bürger.
"Nie im Leben hätte man ihnen begreiflich machen können, dass die Riege der fünf Augenzeugen aus einem vielfach verurteilten Betrüger, einer hysterischen Prostituierten, einem Schwachkopf, einem gestörten Fantasten und einem kläglichen Opfer fragwürdiger Vernehmungstaktiken bestand, die allesamt entweder andere Kandidaten als Täter identifiziert oder irgendwann eingeräumt hatten, die Verbrecher gar nicht gesehen zu haben. Nicht nur der Staatsanwalt war darüber im Bilde, auch der vorsitzende Richter wusste mehr, als er zugab – das Verfahren lief also auf eine Verschwörung zwischen Bezirksstaatsanwalt und Richter hinaus."
Häftlinge als Heilige
Cornelias Kampf und der des Unterstützerkomitees ist ein Kampf gegen Windmühlen: Welchen Befangenheits- oder Beweisantrag sie auch immer stellen – er landet bei Richter Thayer. Am Ende ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, dem letztendlich ein von Sinclair als smart, opportunistisch und geschäftstüchtig geschilderter Gouverneur ein Ende bereitet. Wie die Geschichte von Sacco und Vanzetti ausgeht, ist bekannt: Am 23. August 1927 sterben beide auf dem elektrischen Stuhl.
In "Boston", dem Roman, transzendieren die beiden Anarchisten, vor allem aber Vanzetti, in ihren letzten Wochen in religiöse Sphären. Vanzetti wird zum allen und alles verzeihenden Weisen; zum Märtyrer, der das Leid auf sich nimmt, um einem höheren Zweck zu dienen.
"Das ist unsere Bestimmung und unser Triumph. Im Traum hätten wir nicht daran gedacht, dass wir so viel erreichen, im Namen von Toleranz, von Justiz. Unsere Worte... unser Leben... Unsere Schmerzen – nichts! Wenn man uns nimmt dieses Leben... das Leben von einem braven Schuhmacher und einem armen Fischhändler... alles. Dieser letzte Moment gehört uns... diese Qual ist unser Triumph!"
Auch die Schilderung der Hinrichtung selbst erspart Sinclair seinen Lesern ganz gezielt nicht. Es gehört zu seinem dokumentarischen Anspruch, selbst den Geruch der verbrannten Körperbehaarung in der Todeszelle und den jeweiligen Stärkegrad des Stromstoßes zu schildern. Ob Sacco und Vanzetti tatsächlich unschuldig waren, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr aufgeklärt werden. Glaubhafte Theorien sprechen davon, dass Nicola Sacco zumindest an einem der beiden Raubüberfälle beteiligt gewesen sein könnte. Und dass Bartolomeo Vanzetti zumindest Mitwisser gewesen sein könnte. Ihre Hinrichtung wird bei Sinclair zum Zivilisationsbruch.
Es sei, so wurde Sinclair zitiert, das schockierendste Verbrechen seit der Ermordung Abraham Lincolns gewesen. Das Urteil, so Sinclair weiter, würde das öffentliche Leben über mindestens eine Generation hinweg vergiften. Die Proteste gegen die Vollstreckung des Urteils jedenfalls waren nicht nur in Boston und in den USA, sondern auch in Europa immens. Cornelia Thornwell wiederum sieht darin nur die Kräfte des Systems, zu dem sie selbst Jahrzehnte lang gehört hat, gestärkt.
"Männer und Frauen, Jung und Alt, Reich und Arm, Gelehrte und einfache Arbeiter überkam im Angesicht der schier erdrückenden Macht des Bösen allmählich die nackte Verzweiflung, eine hilflose Wut, ein blinder Hass, Hass auf diese große, bedeutende Stadt, die ihre maßlose Gier mit Frömmelei tarnte – selbstgefällig, gesittet und heimtückisch, kultiviert und korrekt und todbringend."
Wie aber steht es nun um die Aktualität und Lesbarkeit eines Romans wie "Boston" in der Gegenwart? Noch einmal: Die literarischen Schwächen sind offensichtlich. "Boston" ist ein Zwitter zwischen Dokumentation und Fiktion. Man muss einen politischen Roman wie diesen nach besonderen Maßstäben beurteilen. Die Fiktion steht in der Pflicht, den Haltungen ihrer Figuren gerecht zu werden. Sie muss ästhetische Konsistenz innerhalb ihrer eigenen Welt herstellen. Daran gemessen, ist "Boston" ein Buch, das seine eigenen Ansprüche einlöst. Und wenn man in diesen Tagen einen Blick in Richtung Machtzentrum der USA wirft und mitverfolgt, auf welche Weise sich politische Eliten abgrenzen gegen juristische Anfechtungen und Mauern aus Vorurteilen errichten gegen vermeintliche Bedrohungen von außen – dann könnte man auf die Idee kommen, dass Upton Sinclairs "Boston" vielleicht noch immer eine recht gegenwärtige Lektüre ist.
Upton Sinclair: "Boston"
Manesse Verlag, München 2017, 1024 Seiten, 42,- Euro
Manesse Verlag, München 2017, 1024 Seiten, 42,- Euro