Sie gehört zu den wenigen Musicals, die den Sprung ins klassische Konzertrepertoire geschafft haben: Als die "West Side Story" am 26. September 1957 am New Yorker Broadway ihre Uraufführung erlebte, war das allerdings kaum absehbar. Im Gegenteil: Die Resonanz war eher verhalten. Schon der Plot widersprach den Erwartungen des Publikums, so Gregor Herzfeld von der Universität Basel, Experte für amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts:
"Wenn man sich in die Zeit versetzt, war das Broadway Musical immer eine ‚Musical Comedy‘. Und es musste natürlich auch gut ausgehen, also das Happy End war obligatorisch. Und da ist inhaltlich die ‚West Side Story‘ dem entgegengesetzt. Es ist im Prinzip ein Drama. Zur Pause liegen schon zwei Menschen tot auf der Bühne, und auch einer der Protagonisten, Tony, stirbt am Schluss. Das ist unerhört gewesen in der Zeit."
Acht Jahre von der Idee bis zur Premiere
Die Idee, William Shakespeares Drama "Romeo und Julia" als Musical ins "Heute", also ins New York der 1950er-Jahre, zu versetzen, stammte von dem Choreografen Jerome Robbins, der Leonard Bernstein darauf ansprach:
"1949 rief mich Jerome Robbins an, mit dem ich schon zusammengearbeitet hatte. Er hatte eine wirklich aufregende Idee: Eine Broadway-Show auf der Grundlage von ‚Romeo und Julia‘, das fand ich spannend. Er wollte die Geschichte als Straßenkrieg in die New Yorker Slums verlegen."
Die "West Side Story" entstand in einer Zusammenarbeit vieler kreativer Köpfe: Arthur Laurents entwarf das Buch und schrieb die gesprochenen Dialoge. Stephen Sondheim lieferte die Songtexte und Bernstein die Musik. Robbins übernahm Choreografie und Regie. Von der ersten Idee bis zur Premiere vergingen mehr als acht Jahre:
"Robbins hatte zunächst ein anderes Konzept, nämlich, dass man sich bekämpfende Katholiken und Juden in New York aussucht. Das wurde dann modifiziert zu der bekannten Geschichte, dass puertoricanische Einwanderer eine Jugendgang machen gegen in Amerika geborene Jugendliche."
Jugendliche Bandenkriminalität war im New York der 1950er-Jahre ein reales Problem. Aber bei aller Aktualität war die Finanzierung und Realisierung des Musicals für Bernstein und seine Kollegen eine Herausforderung:
"Das war eine sehr schwierige Sache, weil die Darsteller singen und tanzen mussten und dabei auch noch wie Teenager aussehen sollten! Ha! Unmöglich! Jeder sagte uns, wir wären verrückt und sollten es vergessen."
Nicht nur operettenhaft
Bernstein forderte einiges von seinen Musikern, denn er wollte sich nicht nur auf den typisch operettenhaften Ton des Broadway beschränken:
"Er verbindet es mit anderen Stilelementen. Es gibt zum Beispiel Fugen, es gibt komplexe, kontrapunktische Ensembles. Überhaupt ist die rhythmische Konstruktion sehr akzentuiert, was eben auch damit zusammenhängt, dass es sich um lateinamerikanische Tänze zum Beispiel handelt."
Als Komponist und als Dirigent des "New York Philharmonic Orchestra" gehörte Bernstein 1957 zu den Größen der amerikanischen Musikwelt. Seine Darsteller ließ er das aber niemals spüren. Das faszinierte auch Reri Grist, die in der Uraufführung der "West Side Story" den Song "Somewhere" sang:
"Sein ganzes Benehmen uns gegenüber war sehr wie wir, er war ein Kid. … Und wenn er Kritik hatte, es war ganz normal gegeben."
Heute ist die "West Side Story" ein Klassiker. Vielleicht auch weil Bernstein die Menschen so unmittelbar anspricht – eine Gabe, die nicht nur den Komponisten, sondern auch den Menschen Bernstein auszeichnete:
"Ich liebe zwei Dinge: Musik und Menschen. Ich weiß nicht, was ich mehr mag. Aber ich mache Musik, weil ich die Menschen liebe, und ich liebe es, mit ihnen zu arbeiten und für sie zu spielen."