Archiv

Uri Avnery
"Ich möchte, dass Israel ein normaler Staat wird"

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery hat die deutsche Nahost-Politik scharf kritisiert. "Deutschland könnte eine wichtige Rolle spielen für den Frieden zwischen Israel und Palästina, tut es aber nicht, denn sie sind so extrem proisraelisch", sagte Avnery im Deutschlandfunk. Darunter leide das palästinensische Volk.

Uri Avnery im Gespräch mit Birgit Wentzien |
    Er ist der intellektuelle Repräsentant der israelischen Friedensbewegung. Seine Treffen mit Jassir Arafat erregten weltweite Aufmerksamkeit, und er gilt als geistiger Vater der Zwei-Staaten-Lösung als Befriedungskonzept im ewigen Nahost-Konflikt. Die Rede ist von Uri Avnery, Journalist, Schriftsteller und nach einer frühen militanten, gewaltbejahenden Phase visionärer Friedensaktivist. Avnery wurde 1923 als Helmut Ostermann im westfälischen Beckum geboren, besuchte Schulen in Hannover und emigrierte im Alter von zehn Jahren 1933 mit seinen Eltern nach Palästina. Dort engagierte er sich zunächst in den Jahren 1938 bis 1942 in der Untergrundorganisation Irgun. 1948, im Gründungsjahr Israels, diente Avnery als Soldat der israelischen Armee und wurde zweimal schwer verwundet, was bei ihm ein grundsätzliches Nachdenken über Krieg und Frieden auslöste. Dieses endete mit einem neuen Selbstverständnis. Von nun an verstand sich Uri Avnery als Kämpfer für den Frieden. Zu diesem Zweck gründete er politische Organisationen, so zum Beispiel Gusch Schalom, der Friedensblock, für den er gemeinsam mit seiner Frau 2001 den Alternativen Nobelpreis entgegennahm. Avnery schrieb unermüdlich für Zeitungen und Zeitschriften, verfasste Bücher und war Abgeordneter der Knesset.
    Gebürtiger Westfale, Schulbesuche in Hannover und frühe Emigration im Jahr 1933
    Birgit Wentzien: Sind Sie eigentlich ein westfälischer Dickkopf? Es gibt Freunde, die das über Sie sagen.
    Avnery: Ich weiß, man sagt das über mich, aber wenn Dickköpfigkeit genetisch bedingt ist, dann vielleicht ja.
    Wentzien: Sind Westfalen speziell dickköpfig, also sind sie stur oder geben sie wenig nach?
    Avnery: Es war - es soll Stursein gewesen sein. Ich glaube, alles hat sich in modernen Zeiten verwischt, aber ja, die Westfalen galten als besonders stur. Stur ist das richtige Wort.
    Wentzien: Ihr Großvater Josef Ostermann war Lehrer in der jüdischen Gemeinde im westfälischen Beckum, und er hat dort auch gepredigt. Ihr Vater Alfred Ostermann führte in Beckum ein kleines Bankgeschäft. Und die Familie zog 1925 nach Hannover, dort sind Sie zur Schule gegangen und aufgewachsen. Das heißt, jetzt mal weg von Beckum, Sie sind eigentlich ein Niedersachse.
    Avnery: Hannoveraner waren immer sehr stolz auf sich selbst. Sie sprachen das beste Deutsch in Deutschland, und sie waren eine sehr patrizische Stadt, eine ruhige Stadt, sehr stolz auf ihren Status als Provinz Hannover in Preußen. Die waren späte Preußen, bis so zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Hannover ein Königreich. Der König von Hannover war berühmt, das englische Königshaus hieß früher House of Hannover, bis zum Ersten Weltkrieg. Die Engländer wollten keinen deutschen König haben, da haben die den Familiennamen verändert.
    "Ich habe noch ein halbes Jahr Nazi-Deutschland miterlebt"
    Wentzien: Erinnern Sie sich an Hannover, an Ihre Kindheit dort, an die Stadt?
    Avnery: Sicher. Ich war zehn Jahre als, zehneinhalb, als wir weggezogen sind, geflüchtet, emigriert, wie Sie wollen. Und ich habe sehr gute Erinnerungen, Kindheitserinnerungen, scharfe Kindheitserinnerungen. Ich habe noch ein halbes Jahr Nazi-Deutschland miterlebt und habe viele Erinnerungen aus dieser Zeit. Die Jahre vor Hitlers Machtergreifung, wie man das nannte, und vorher, der Weimarer Republik.
    Wentzien: Was war das für eine Schule, was waren das für Freunde, was waren das für Familien um Sie herum?
    Avnery: Die ersten zwei Jahre war ich in einer Privatschule in Waldhausen in Hannover. Das war ein sehr vornehmer Stadtteil. Dann war ich zwei Jahre lang in der Allgemeinen Volksschule, als meine Familie etwas weniger wohlhabend wurde nach dem großen Finanzzusammenbruch 1929. Und dann war ich ein halbes Jahr im Gymnasium, einem humanistischen Gymnasium, wo wir Lateinisch gelernt haben. Und das letzte halbe Jahr, an das ich schärfere Erinnerungen habe, war ich in dem Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium in Linden, Hannover. Und da habe ich die erste Nazizeit erlebt.
    Wentzien: Rudolf Augstein drückte mit Ihnen die Schulbank.
    Avnery: In derselben Klasse, ja, wir waren Klassenkameraden. Ich erinnere mich dunkel an ihn. Wir waren etwas befreundet.
    "Mein Vater war ein sehr kluger Mann"
    Wentzien: Sie haben es angedeutet und schon benannt, Herr Avnery. 1933 ist Ihre Familie aus Deutschland hinausgegangen. Bitte, lassen Sie uns Nachgeborene an diesem Moment teilhaben. Wer hat das damals vor allen Dingen betrieben? Wie haben Sie selber, Ihre Familie, die Kinder, die Mutter, der Vater das aufgenommen? Wie muss man sich das heute vorstellen? Viele Juden damals sind noch geblieben, als Sie gingen.
    Avnery: Die Meisten sind geblieben. Hier in Deutschland kann doch nichts passieren. Deutschland ist ein Kulturvolk, das Volk der Dichter und Denker. Was kann schon passieren? Nun gut, da ist ein Demagoge, der hält große Reden, aber das wird sich legen. Vielleicht wird er ein paar polnische Juden ausweisen - nicht so schlimm. Als mein Vater unseren Onkeln und Tanten erzählt hat, dass wir weggehen, haben sie ihn ausgelacht: Alfred, du bist doch verrückt. Mein Vater war ein sehr kluger Mann. Gott sei Dank, sonst würden wir hier nicht sitzen. Und vielleicht war er etwas beeinflusst, weil er seit früher Jugend ein Zionist war.
    Was man in Deutschland einen Zionist nannte, nämlich ein Jude, der mit dem Geld einen zweiten Juden, einen dritten Juden in Palästina ansiedeln will. Warum war mein Vater ein Zionist? Ich glaube, er war ein Querkopf. Mein Vater war immer ein Querkopf und immer eine Ausnahme. Und damals Zionist zu sein, war schon, ein Querkopf zu sein. Sehr wenige deutsche Juden waren Zionisten vor dem Ersten Weltkrieg. Und darum, als die Nazis an die Macht kamen, hat er irgendwie sofort erfasst, dass etwas sehr Schlimmes passiert. Wir waren eine Familie von sechs, Vater, Mutter und vier Kinder. Ich war der Jüngste. Eine Schwester war schon in Frankreich und hat dort Medizin studiert. Die zweite Schwester hat mein Vater zu Verwandten in Frankreich geschickt. Mein älterer Bruder ist mit meinem Vater weggefahren, nach Frankreich, und ich blieb mit meiner Mutter, die so Sachen beendigen musste, Sachen verkaufen musste und so weiter. Und da wir Angst hatten, angezeigt zu werden, sind wir praktisch geflüchtet, mit der Eisenbahn in so einem Rund, aber nicht direkt zur französischen Grenze, sondern ringsherum. Ja, und ich muss sagen, als wir die Grenze überfuhren bei Kehl, auf dem Weg nach Straßburg, haben wir direkt aufgeatmet. Frankreich hat auch heute noch irgendwie den Nimbus als das freie Land, Rettungsland. Und dann sind wir direkt von Marseille nach Jaffa.
    Motto beim Neustart in Palästina: Leben und Vergessen. Avnerys Engagement in der Nationalen Militärorganisation
    Wentzien: Wir kommen mit Ihnen in Jaffa an. Über Sie, Herr Avnery, sprechen wir gleich. Ich würde gerne vorneweg nach Ihren Eltern fragen, denn für die war das ja ein doppelter Verlust: der Sprache, des Heimatlandes. Wie sind die beiden damit zurechtgekommen?
    Avnery: Ich bewundere meine Eltern noch heute. Mein Vater war 45 Jahre alt, meine Mutter Ende der 30er-Jahre, ich weiß nicht genau, mit vier Kindern, der Kleinste zehn, die Älteste 18. Wir kommen aus Deutschland, einem sehr wohlhabenden Milieu. Wir hatten ein eigenes Haus mit drei Etagen, ein eigenes Büro. Hochkultiviert in einer bürgerlichen deutschen Familie. Wir kamen in ein Land mit einer total anderen Landschaft, ein braunes Land - wir kamen aus dem grünen Deutschland in ein braunes Wüstenland, in eine andere Sprache, von der die kein Wort verstanden und bis zum Ende nicht verstanden, sie haben das nie gelernt. In ein ganz anderes soziales Milieu, denn nach einem Jahr. Wir kamen als sogenannte Kapitalisten, das heißt, Juden, die 1.000 englische Pfund mitgebracht haben - das war damals eine sehr, sehr große Summe - die brauchten kein Zertifikat, die waren nicht in der Quote der Einwanderer, sondern waren über der Quote. Und das Geld haben wir in einem Jahr verloren, und dann wurden wir so arm wie die Kirchenmäuse, Synagogenmäuse. Und ich bin in der allergrößten Armut aufgewachsen. Meine Eltern waren arm und wussten nicht, wovon sie die nächsten Monate ihre Kinder ernähren sollten. Eine total andere Lebensweise, eine total andere Kultur.
    Wentzien: Ein Wort von Ihnen, wenn ich darf, zu dieser Zeit, lautet: "Unser sehnlichster Wunsch war, zu leben und zu vergessen." Diese beiden Punkte, Leben und Vergessen. Sie wechselten Ihren Namen, aus dem Beckumer Jungen -
    Avnery: Einige Male.
    Wentzien: Einige Male. Helmut Ostermann wurde schlussendlich Uri Avnery. Leben und Vergessen, Herr Avnery, jetzt helfen Sie mir: Wie wurde aus diesem Kind, dem jugendlichen Einwanderer der gewalttätige Terrorist? Den Sprung müssen wir an der Stelle machen.
    Avnery: Auf dem Dampfer von Marseille nach Jaffa habe ich beschlossen, einen Strich unter meinem Leben bis dahin zu setzen, mich praktisch zu betrachten, als wäre ich neugeboren. Ich wollte nichts von Deutschland wissen, nicht mich an Deutschland erinnern. Es fing alles von Neuem an. Und wie viele Einwanderungskindern, ich glaube, in vielen Ländern, wollte ich so schnell wie möglich eingeboren sein, das heißt, wie die Eingeborenen aussehen, sprechen, fühlen und so weiter.
    "Ich war zu jung, um selbst Terrorakte mitzumachen"
    Wentzien: Das verstehe ich. Jetzt habe ich aber vom Terroristen noch nichts gehört. Sie, Herr Avnery, haben gesagt, ich war Terrorist in meiner Jugend.
    Avnery: 1936 sind im Lande Unruhen ausgebrochen, was Araber "den großen Aufstand" nennen und wir immer noch "die Unruhen" nennen. Es war eine gewalttätige Zeit, die drei Jahre dort, bis zum Zweiten Weltkrieg. Es war eine Zeit eines dreieckigen Kriegs: englische Behörden, die Araber und wir. Und unsere Seite hat eine große Selbstverteidigungsorganisation gegründet, von der hat sich eine Terrororganisation abgespalten, und von der noch eine extremere Terrororganisation. Ich bin gegen meinen 15. Geburtstag dieser Organisation Irgun, das heißt, Nationale Militärorganisation beigetreten. Ich war zu jung, um selbst Terrorakte mitzumachen, aber ich habe die befürwortet. Wir haben Flugblätter über die Terroraktionen verteilt. Terroraktionen damals, zu der Zeit, Ende der 30er-Jahre, waren hauptsächlich Vergeltungsaktionen gegen Araber. Die Araber haben bei uns Bomben gelegt, wir haben bei ihnen Bomben gelegt. Es waren Bomben auf den Märkten mit Frauen und Kindern und Männern, die massenhaft umgekommen sind.
    Die Irgun war eine sehr rechtsgerichtete Organisation. Und wie ich etwas älter wurde, so gegen mein 18. Lebensjahr, habe ich etwas getan, was sehr, sehr, sehr ungewöhnlich war: Ich bin ausgetreten. Unsere Hymne war: Aus den Reihen befreit nur der Tod. Ich bin trotzdem ausgetreten, weil mit die Ideologie nicht mehr gefiel. Auch die Methode des Terrors - wir nannten es natürlich nicht Terror, es waren Befreiungsaktionen - gefiel mir nicht mehr. Ich glaubte nicht recht daran. Nicht aus moralischen Gründen, sondern aus praktischen Gründen. Ich dachte, es wäre eine falsche Methode, das zu erreichen, was wir wollten, nämlich die Engländer aus Palästina zu vertreiben und da einen jüdischen Staat zu gründen.
    Und so bin ich ausgetreten so mit ungefähr 18 Jahren, bin politisch so etwas herumgestrolcht, und am Ende habe ich eine eigene Organisation gegründet. Da war ich schon 22. Und unsere Ideologie, war - es war eine sehr revolutionäre Ideologie -, nämlich wir Hebräer, wir wollten nicht mehr Juden genannt werden, wir Hebräer hier im Lande in einer neuen Nation, verbunden mit der arabischen Nation, die im Lande seit Jahrtausenden lebt. Wir müssen die Engländer herauswerfen, wir gründen eine neue nationale Kultur, die auf der hebräischen Sprache basiert. Wir lehnen die Religion ab und so weiter. Es war ein Riesenkrach, wir haben so eine Art Zeitschrift veröffentlicht auf eigene Kosten. Es verursachte einen Riesenkrach im Lande, es war alles ketzerisch.
    Und das habe ich so gemacht, bis der Krieg von 1948 ausbrach, am Ende 1947. Ich war gegen die Teilung Palästinas. Ich wollte das Land nicht geteilt haben, ich betrachtete das ganze Land als mein Vaterland, und ich habe eine Broschüre verfasst mit dem Namen "Frieden oder Krieg im semitischen Raum". Warum semitischer Raum? Ich habe es immer abgelehnt, diese Gegend Mittleren Osten zu nennen. Denn: Osten von wo? Berlin, von London, von New York? Für uns ist es kein Osten. Für uns ist es das Zentrum unseres Lebens. Darum habe ich bevorzugt, habe ich damals erfunden diesen Ausdruck "Semitischer Raum". Warum semitisch? Weil semitisch das Einzige ist, was Juden und Araber verbindet. Unsere beiden Sprachen, hebräisch und arabisch, sind praktisch Schwestersprachen, wie Deutsch und Dänisch oder Deutsch und Holländisch.
    Nach der Unterzeichnung der Proklamationsurkunde am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv hält eine nicht identifizierte Person das Schriftstück mit den Unterschriften in die Höhe, links David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels.
    Nach der Unterzeichnung der Proklamationsurkunde am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv hält eine nicht identifizierte Person das Schriftstück mit den Unterschriften in die Höhe, links David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels. (picture alliance / dpa)
    Vom Frontsoldaten zum Friedensaktivisten; aktiv in Politik und Publizistik und Avnery als Vater der Zwei-Staaten-Lösung
    Wentzien: In dieser Zeit und über diese Zeit sind von Ihnen zwei Bücher geschrieben worden. Das können wir an der Stelle, glaube ich, ganz gut einflechten.
    Avnery: Nein, das kommt später.
    Wentzien: Ja? Ich möchte aber ein bisschen an der Stelle springen, denn in beiden Büchern ist ja etwas drin, was Sie jetzt gerade auch beschrieben haben. Das erste Buch, das 1948 erschienen ist, lautet "In den Feldern der Philister" und wurde zum Bestseller in Israel. Sie haben aber im Nachgang zu diesem Buch dann auch geschrieben, festgestellt erst mal und dann geschrieben: Ich habe nur die halbe Wahrheit geschrieben in diesem ersten Buch, es braucht ein zweites. "Die Kehrseite der Medaille", das erschien 1950. Als Augenzeuge haben Sie darin auch die Vertreibung der -
    Avnery: Dazwischen war ein Krieg.
    Wentzien: - der Palästinenser beschrieben aus Ihren Dörfern. Dazwischen war der Krieg. Die Tötung der arabischen Zivilisten. Und dieses Buch, Herr Avnery, 1950, war damals in Israel ein Tabubruch. So, wie Sie vorher für das erste gelobt worden sind allüberall, so wurden Sie für das zweite als, Sie haben es selber einmal gesagt, als Staatsfeind, als Volksfeind bezeichnet.
    Avnery: Das habe ich nicht ich gesagt, das hat der Chef des Sicherheitsdienstes gesagt, über mich geschrieben.
    "Im Krankenhaus hatte ich sehr viel Zeit, nachzudenken"
    Wentzien: Wenn Sie diese Zeit noch einmal rekapitulieren und wenn Sie daran denken, dass Sie, als jetzt beide Bücher im Nachgang noch mal zusammen erschienen sind in einem deutschen Verlag, um dieses Bild auch komplett zu machen, heißt es oft, von Ihnen auch, ich hab mich häufig an diesen Schwur von damals erinnert, nämlich Ihr Leben dem Kampf für den Frieden zu widmen. Und Sie haben sich vor allen Dingen erinnert an Enttäuschung, an Frustration und an Schwäche. Ist es das, was Sie immer aufrecht erhalten hat, dass Sie das eine und das andere erlebt haben und für sich selber auch rekapituliert? War das entscheidend für das weitere Leben, für einen Kampf, einen Kampf aber ohne Waffen für den Frieden?
    Avnery: Sehen Sie: Kurz nach der Broschüre, die ich schon erwähnt habe, in der ich ein gemeinsames Leben der Hebräer und der Araber beschrieben habe, gefordert habe - kurz danach, ein paar Wochen später brach der Krieg aus. Ich habe mich natürlich sofort gemeldet und war ein Jahr lang Frontsoldat während des ganzen Krieges. Kurz vor Ende des Krieges wurde ich schwer verwundet, Bauchschuss. Im Krankenhaus hatte ich sehr viel Zeit, nachzudenken, denn ich habe weder geschlafen noch gegessen noch getrunken. Als ich heraus kam, habe ich wirklich beschlossen - ich habe mein Leben zu verdanken - ich war Korporal, Zugführer am Ende des Krieges, und vier meiner Soldaten, Neueinwanderer aus Marokko, haben mein Leben gerettet, und ich lag in einer Zone, die unter Beschuss lag, und die hatten mich raus geholt. Und ich habe beschlossen, den Rest meines Lebens - ich wusste ja nicht, dass es so lang wird - mich für den Frieden und für die hebräisch-arabische Verständigung einzusetzen.
    Und habe sofort, als ich aus der Armee heraus kam - ich trug noch Uniform -, habe ich drei Sachen gemacht: Ich habe vergessen zu erwähnen, während des ganzen Krieges als gemeiner Soldat habe ich etwas getan, was streng verboten war, nämlich zu schreiben. Ich habe während des ganzen Krieges über mein Leben im Krieg Artikel geschrieben, über die Schlachten, die Kämpfe, das Leben in der Einheit und so weiter. Die während des Krieges noch veröffentlicht worden sind. Wie ist das möglich, dass etwas, das streng verboten ist, in den Zeitungen erscheint? Das ist eben die Armee, wie sie damals war. Alle haben ein Auge zugedrückt. Und als Erstes nach dem Krieg habe ich all diese Sachen zusammengefasst in einem Buch, und das ist mein erstes Buch, "In den Feldern der Philister". Philisterland ist hier, wo wir jetzt sitzen, und bis Ägypten. Biblisch saßen dort die Philister, und darum nannte ich es so.
    Das Zweite, was ich getan habe, ich wurde - noch während ich im Krankenhaus war, hat der Chefredakteur von "Haaretz", eine der angesehensten Zeitungen in Israel bis heute, mich eingeladen, bei ihm zu arbeiten. Und ich habe sofort angefangen - ich war damals 25 Jahre alt -, die Leitartikel in "Haaretz" zu schreiben. Das Dritte war, ich habe sofort begonnen zu versuchen, eine politische Organisation aufzustellen, die das forderte, was man heute die Zwei-Staaten-Lösung nennt, nämlich einen arabischen Staat Palästina neben dem neuen hebräischen Staat Israel. Es gibt Leute, die behaupten, ich wäre der Vater der Zwei-Staaten-Lösung, und ich habe es nie bestritten.
    "Wir waren ein paar Dutzend Leute in der ganzen Welt, die an diese Lösung glaubten"
    Wentzien: Gibt es jemanden, der es bestreitet?
    Avnery: Ich weiß nicht. Ich habe nicht herumgefragt. Wir waren damals ein paar Dutzend Leute in der ganzen Welt, nicht nur in Israel, die an diese Lösung glaubten. Alle waren dagegen. Die Amerikaner, die Sowjets, Israel natürlich, die arabischen Staaten, alle. Ich habe während des Krieges auch nicht nur die Kämpfe beschrieben, sondern auch Artikel über die Zukunft geschrieben. Die hat mein Redakteur - meine Artikel sind in der Abendzeitung von "Haaretz" erschienen, die es damals gab, und mein Freund, der Redakteur dieser Abendzeitung, hat diese Artikel an den Redakteur der Tageszeitung weitergeleitet, die ernster war - und die wurden dort veröffentlicht. Über den Frieden nach dem Krieg, und was man tun muss, und wie man den Krieg führen muss, um zu einem Frieden zu kommen und so weiter.
    Aufgrund dieser Artikel hat der Chefredakteur mich eingeladen, Leitartikel zu schreiben. Aber ich war ihm zu extrem langsam. Eines Tages habe ich abgesagt, habe ich demissioniert und habe eine Wochenzeitung übernommen, damals ein sanftes, ruhiges Wochenblatt, Familienblatt, gekauft. Mit dem Erlös aus dem Buch habe ich die Zeitung gekauft und sie verwandelt sofort in ein ganz extremes Wochenblatt.
    Friedensgespräche mit Jassir Arafat; journalistische Auszeichnungen und Avnery als Dauerärgernis der israelischen Regierung
    Wentzien: Sie haben damals für diese Idee einer Zwei-Staaten-Lösung geworben. Als die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir noch bestritt, dass es ein palästinensisches Volk überhaupt gab.
    Avnery: Alle haben das bestritten.
    Wentzien: Um sich mal ganz kurz in diese Zeit zurückzuerinnern. Und Sie haben sich dann - auch das war überhaupt nicht denkbar - 1982 mit Jassir Arafat getroffen im umkämpften Beirut. Und Sie waren danach - das ist aber dann durchaus denkbar aus der Zeit heraus - Sie liefen Gefahr, angeklagt zu werden wegen Hochverrats, weil das gegen jede legalistische Begründung des Landes damals war. Wie muss ich mir vorstellen, diesen Kontakt zu diesem Feind des Landes, den Sie dann ja quasi aufgenommen haben. Wir kam das zustande? Wie kam es zu diesem Treffen zwischen den Fronten, hinter den Fronten?
    Avnery: Dazwischen waren noch ein paar Kriege. Nach dem 1948er-Krieg, der über ein Jahr gedauert hat, war der Sechs-Tage-Krieg, dann der Jom-Kippur-Krieg und so weiter. Und nach dem Jom-Kippur-Krieg - während der ganzen Zeit war so ein Kleinkrieg zwischen Israel und der neuen, erneuerten palästinensischen Nationalbewegung, gegründet von Jassir Arafat am Ende der 50er-Jahre. Da ich an die Zwei-Staaten-Lösung glaubte, fast alleine, war ich für einen Ausgleich mit der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Das war damals der Hauptfeind Israels. Und nach dem Jom-Kippur-Krieg ist es mir gelungen, Kontakt aufzunehmen mit Vertretern der PLO in Europa. Und ich habe Kontakte mit der PLO gepflegt mit dem Wissen des Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident war Jitzchak Rabin. Ich habe ihn unterrichtet, um den Verdacht von Hochverrat zu vermeiden, und ich war ziemlich befreundet mit ihm. Und er hat mir erlaubt, diese Kontakte zu pflegen. Er war dagegen, er hat gesagt, ich bin dagegen, aber ich verbiete es nicht. Und wenn du etwas hörst bei diesen Kontakten, von dem du glaubst, dass der Ministerpräsident von Israel es wissen muss - meine Tür ist offen. Das war typisch Rabin.
    Eine israelische Fahne weht am 30. Oktober 1973 am wiedereroberten Ostufer des Suezkanals. Zu Beginn des Jom-Kipur-Krieges hatten ägyptische Truppen den Kanal eingenommen
    "Nach dem Jom-Kippur-Krieg ist es mir gelungen, Kontakt aufzunehmen mit Vertretern der PLO in Europa." (AP)
    "Ich habe keine Grenze illegal übertreten"
    Wentzien: Hinter Ihnen auf dem Schrank, hier in Tel Aviv in Ihrer Wohnung, steht das Bild, eines der Bilder, das Sie zeigt und Jassir Arafat. Sie haben es gerade beschrieben: Rabin war informiert, aber darüber durften Sie ja damals auch nicht reden. Das war ein Treffen ...
    Avnery: Das waren geheime Treffen.
    Wentzien: ... hinter den Fronten. Sie mussten durch wie viele Fronten hindurch?
    Avnery: Das ist ein anderes Stadium. Die Kontakte habe ich aufgenommen 1974, wie gesagt, nach dem Jom-Kippur-Krieg. 1982, da war schon Ariel Scharon Verteidigungsminister, Begin war Ministerpräsident, hat Israel den Libanon angegriffen, ist bis Beirut vorgedrungen. Die Stadt Westbeirut war belagert und bombardiert von unserer Seite. Und die israelische Armee hat mich eingeladen, die israelischen Truppen in Beirut zu besuchen. Und als ich in Beirut war, in Ost-Beirut, das von Israel besetzte Ost-Beirut, sagte mir ein deutscher Journalist, dass die Telefonverbindung mit West-Beirut besteht. Zwischen dem Belagerndem und dem Belagerten gab es Telefonverbindung. Da habe ich das Büro von Arafat angerufen, habe gesagt, hier ist Uri Avnery, ich bin in Ost-Beirut. Ich möchte mich gerne mit dem Oberhaupt, Rais auf Arabisch, treffen.
    Und mitten in der Nacht bekomme ich einen Telefonanruf vom Büro Arafats. Arafat erwartet mich am nächsten Morgen um zehn Uhr. Sage ich, wie komme ich dahin? Es war ja eine Belagerung. Da hat er mir einen Ort genannt, wo man durchkommen kann. Und dann bin ich mit diesem deutschen Journalisten und zwei Frauen von meiner Redaktion, habe ich die Front überquert, eine Front von vier Armeen - die israelische Armee, die libanesisch-christliche Armee, die maronitisch-christliche Armee und die PLO-Armee - und habe mich mit Arafat getroffen. Wir hatten eine lange Unterredung. Wir sprachen über den Frieden natürlich. Am Abend vorher, als ich noch nicht wusste, dass wir uns treffen würden, war ich bei einer christlichen Familie zu Gast und man hat mir einen großen Haufen Haschisch geschenkt.
    Und nach der Begegnung, als ich auf dem Weg nach Hause war in meinem Wagen, erinnerte ich mich plötzlich an diesen Block von Haschisch. Und da habe ich ihn zum großen Missfallen meiner Kolleginnen herausgeworfen. Ich dachte, ich werde verhaftet an der Grenze, wurde es aber nicht. Ich hatte bei mir eine Kassette über diese Begegnung, habe sie auf der Grenze schon einem Korrespondenten des israelischen Radios gegeben, und am Abend wurde es schon vom israelischen Fernsehen ausgestrahlt. Ich wurde nicht verhaftet, aber das israelische Kabinett hat offiziell beschlossen, eine Untersuchung wegen Hochverrats von mir aufzunehmen. Es gab auch eine Untersuchung, und nach einigen Wochen hat der Generalstaatsanwalt, der ein netter Kerl war, beschlossen, dass ich kein Delikt begangen habe, weil ich in Beirut als Gast der israelischen Armee war!
    Also habe ich keine Grenze illegal übertreten - okay. Dann habe ich Arafat viele Male getroffen, als er in Tunis war. Das Bild hinter mir kam so zustande: Es kam das Osloer Abkommen von Jizchak Rabin. Laut dem Osloer Abkommen durfte Arafat zurückkommen - ich habe vergessen zu sagen: Bei dem Treffen von Beirut war der letzte Satz von mir, was machen wir, wenn wir hier herauskommen, wo gehen wir hin? Und darauf sagte Arafat, wir können kurz - hat kurz die Augen aufgemacht, wieso, was heißt das, natürlich nach Hause. Da ich sowieso nicht glaubte, dass er lebend da raus kommt, habe ich nicht reagiert. Jetzt kam Arafat laut dem Oslo-Abkommen wieder nach Palästina, nach/bei Gaza.
    Am ersten Abend war er in einem Hotel in Gaza. Das Hotel war umzingelt von Tausenden von begeisterten Palästinensern. Irgendwie ist es mir gelungen, mich bis zum Tor vor zu schlagen, und ich habe meine Visitenkarte dem palästinensischen Offizier - das erste Mal, dass ich einen palästinensischen Uniformierten, palästinensischen Offizier sag - übergeben, und der kam sofort wieder, und der Rais bittet mich, herein zu kommen. Meine Frau war bei mit, ich habe sie nach mir durch diese Menge gezogen, sie hat später gesagt, sie glaubte, dass ich ihr den Arm aus dem Körper ziehe - irgendwie sind wir doch hereingekommen. Da war ein großer Saal, voll von arabischen Journalisten aus der ganzen Welt, denn Arafat war im Begriff, der arabischen Welt eine Pressekonferenz zu geben.
    "Arafat war ein Mann von Gesten"
    Wentzien: Und da hat er Sie auf das Podium gezogen.
    Avnery: Langsam, langsam. Er kam in den Raum, ging schnurstracks auf mich zu, umarmte mich, was er immer tat, küsste mich auf die Wangen, was er auch immer tat. Und dann flüsterte er mir etwas ins Ohr. Und alle, Dutzende von arabischen Journalisten waren verwundert: Was hat der Führer diesem Israeli ins Ohr zu flüstern? Was er geflüstert hat, war: Vor 13 Jahren in Beirut hast du mich gefragt, was ich machen werde, und ich habe gesagt, ich gehe nach Hause, nach Palästina. Und hier bin ich. Und dann zog er mich so am Arm - Arafat war ein Mann von Gesten - und so zog er mich durch den Saal, und ich dachte ein paar Minuten, typisch für ihn. Nein, er ließ mich nicht los, zog mich rauf auf die Bühne - sein Sprecher saß dort, es waren zwei Stühle, auf einem saß sein Sprecher. Er hat ihn weggeschickt und hat mich dahin gesetzt und fing an, eine Pressekonferenz auf Arabisch zu halten.
    Mein Arabisch ist sehr lückenhaft, gelinde gesagt, und er wandte sich von Zeit zu Zeit zu mir und sagte: Stimmt das? und so weiter. Ich hab das bestätigt, obwohl ich es nicht verstanden habe. Das ist das Bild. Jetzt habe ich mich gefragt, warum tut er das. Ich wusste, ich kannte Arafat schon zu gut, um zu wissen, dass er nichts ohne Hintergedanken tut. Und was er getan hat, war, der arabischen Welt zu sagen, jetzt sitze ich mit den Israelis, das ist ernst, und hier sitze ich mit einem Israeli. Und ich war auf der Stelle - gut, ich war ziemlich bekannt schon in der arabischen Welt als jemand, der mit den Palästinensern in Verbindung ist. So kam dieses Bild zustande.
    PLO-Chef Jassir Arafat während seiner ersten Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
    "Arafat war ein Mann von Gesten", sagt Avnery. (AFP)
    "Ich gelte bei den Journalisten als der Erneuerer des hebräischen Journalismus"
    Wentzien: Sie haben über ihn gesagt, Avnery über Arafat, er ist mein Freund. Sie haben das gesagt zu einer Zeit, als Hochverrat drohte, aber dann eben nicht kam, wo also in diesem ganzen gesamten Land eigentlich so recht niemand hinter Ihnen stand mit den Gedanken, die Sie hatten. Und wenn man Ihr Leben anschaut, Herr Avnery, und weiß, dass da eine ganze Reihe von Auszeichnungen waren, ganz viele Preise, die Sie in Deutschland bekommen haben, in Osnabrück, den Aachener Friedenspreis 1997, später Kreisky-Preis, Alternativen Nobelpreis zusammen -
    Avnery: Erich-Maria-Remarque ...
    Wentzien: -Preis, Karl-von-Ossietzky-Preis, Lew-Kopelew-Preis in Köln. Und erst 2004, um das mal als Zeichen der Anerkennung zu nehmen, einen Preis, nämlich den Sokolow-Preis der Stadt Tel Aviv für Ihr journalistisches Lebenswerk. Wie können Sie als Visionär, als der Sie damals und jetzt unterwegs sind, so eine späte Ehrung dann in dem Land, in dem Sie leben und für das Sie ja kämpfen, verstehen?
    Avnery: Es war ein Privatpreis. Obwohl er offiziell von der Stadt Tel Aviv verliehen worden ist, war er vom Journalistenverband, die mich geehrt haben für meine journalistische Tätigkeit. Ich gelte bei den Journalisten als der Erneuerer des hebräischen Journalismus. Ich habe eine neue hebräische journalistische Sprache geschaffen. Ich habe neue journalistische Maßstäbe geschaffen, und darum wurde ich anerkannt. Ich habe noch auch für das Lebenswerk von den Journalisten einen Preis bekommen. Nie von der israelischen Regierung.
    Wentzien: Schmerzt das?
    Avnery: Nein, im Gegenteil, ich bin sehr stolz darauf.
    Wentzien: Dass Sie nicht vom Staat ausgezeichnet worden sind.
    Avnery: Ja. Denn wer kriegt staatliche Preise? Wenn es oppositionelle Persönlichkeiten sind, dann sind das Leute, deren Zähne ausgefallen sind. Wenn man weiter kämpft gegen ein System, kann man nicht erwarten, dass das System einen ehrt. Das ist zu viel verlangt.
    "Es ist ein langer Kampf"
    Wentzien: Sie bleiben ein Dauer-Ärgernis der israelischen Regierung. So hat die "Zeit" Sie mal genannt.
    Avnery: Das Zitat kenne ich nicht, aber es stimmt.
    Wentzien: Lassen Sie uns in die Gegenwart schauen. In diesem Land Israel, in dem sich hinter einer Mauer, die Sie Schandmauer nennen, ja Leben abspielt, das aber auf der anderen Seite der Mauer nicht so recht wahrgenommen wird. Das sind die Städte Ramallah, das ist Bethlehem, das ist Hebron. Dort leben inzwischen Palästinenser der fünften, sechsten, zum Teil ja auch schon frisch geborenen siebten Generation gefangen und ohne Aussicht. Was ist das für eine Perspektive, die diese Menschen haben?
    Avnery: Palästinenser in den besetzten Gebieten. Gefangen ja, ohne Aussicht nicht. Denn sie glauben, hoffen und glauben, dass ein palästinensischer Staat dort entstehen wird. Ich glaube es auch, aber es ist ein langer Kampf. Und, sehen Sie, dieser Konflikt zwischen uns und dem palästinensischen Volk hat angefangen, als die ersten Zionisten, Präzionisten ins Land kamen, am Ende des 19. Jahrhunderts. Das heißt, wir haben einen Konflikt, der schon 120, 130 Jahre andauert. Ein andauernder Krieg, in den schon eine fünfte, sechste, siebente Generation hineingeboren ist.
    Und man kann nicht erwarten, dass all der Hass, Argwohn, Misstrauen, Antagonismus dieses totalen Konfliktes über Nacht verschwinden wird. Es ist ein langer Kampf. Ich habe vor 65 Jahren nicht geglaubt, dass das so lange dauern wird, aber es dauert. Es dauert eben, denn diese Lösung zu akzeptieren, diesen Konflikt zu überwinden, bedeutet auf beiden Seiten, alles zu überwinden, was man im Laufe dieser vielen Jahrzehnte gelernt hat, von Kindheit auf. Dazu kommt bei uns die Erinnerung an den Holocaust, der Israel auch heute noch schwer belastet.
    Wir hatten gerade vor ein paar Tagen den sogenannten Holocaust-Tag, wo das ganze Land 24 Stunden lang als nichts gedacht hat als an den Holocaust. Holocaust-Fanatiker wollen, dass man auch im Kindergarten über den Holocaust lehrt. Der Mann, der bis vor Kurzem Bildungsminister war, hat das gefördert, dass drei Jahre alte Kinder schon über den Holocaust lernen. Und jetzt hat eine verrückte Kindergärtnerin ihren fünfjährigen Kindern gelbe Flecken angeheftet. Das war ein Skandal im Land und eine große Diskussion. Und wenn man das alles zusammennimmt, versteht man, wie schwer es ist. Ich betrachte das etwas philosophisch. Aber wir müssen es überwinden, wenn wir normal in einem normalen Staat leben wollen. Aber das bedeutet eine ganz neue Lebens-, Weltanschauung anzunehmen, eine ganz neue Art, unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart und unsere Zukunft zu betrachten.
    Deutschlands Rolle im Nahostkonflikt und unkonventionelle Gesundheitsaspekte für ein langes Leben
    Wentzien: Beide Völker, sagen Sie, Herr Avnery, sind dazu verurteilt, entweder zusammen zu leben oder zusammen zu sterben. Wird Ihre Sicht und das, was hier an Gegenwart ist in diesem Land, und was Herausforderung ist, in Deutschland immer in dem richtigen Maße betrachtet und gesehen? Hat Deutschland all das, was hier an Problemen vorhanden ist, in der richtigen Dimension erkannt?
    Avnery: Die Deutschen sind ein Volk, das zu Extremen neigt, auch philosophisch. Und so extrem sie waren, als sie Antisemiten waren, so extrem sind sie heute als Philosemiten. Und philosemitisch ist nicht genauso schlimm, aber es ist schlimm genug, wie antisemitisch. Denn das bedeutet, Deutschland könnte eine wichtige Rolle spielen für den Frieden zwischen Israel und Palästina, tut es aber nicht, denn sie sind so extrem proisraelisch, dass das palästinensische Volk dabei leidet.
    Wentzien: Auch die Kanzlerin, wenn sie von der Staatsräson spricht und meint, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört? Ist auch die Kanzlerin in dem Fall zu stark auf Israel konzentriert?
    Avnery: Natürlich. Denn was heißt Sicherheit Israels. Das ist nicht eine eindeutige Sache. Zum Beispiel glauben wir, meine Freunde und ich glauben, dass die Sicherheit Israels nur darauf beruhen kann, dass wir Frieden mit den Palästinensern machen, dass die Palästinenser ein Recht auf Freiheit und Selbstständigkeit bekommen, genau wie wir. Es ist die Sicherheit Israels, die von Benjamin Netanjahu vertreten wird, ist für uns Unsicherheit. Aber die Kanzlerin, wenn sie von Sicherheit spricht, dann meint sie, was die extrem Rechten in Israel als Sicherheit betrachten. Ich habe diese deutsche Einstellung immer etwas argwöhnisch betrachtet. Es gibt, wenn ich einen Witz erzählen darf: In Amerika ist eine Demonstration, und die Polizei haut auf die Demonstranten ein, und ein Demonstrant schreit: Verhaut mich nicht, ich bin ein Antikommunist. Sagt der Polizist: Ist mir ganz egal, was für eine Art Kommunist du bist. Für mich sind philosemitisch und antisemitisch sehr ähnlich. Ich will keine besondere Behandlung. Es ist nicht normal. Ich möchte, dass Israel ein normaler Staat wird, normal mit seiner Umwelt lebt. Dass nach dem Krieg ein Frieden kommen muss, der Krieg kann nicht ewig dauern. Und darum finde ich die deutsche Politik sehr verfehlt.
    "Frieden zwischen Israel und Palästina lebenswichtig für beide Völker"
    Wentzien: Wäre das eine Aufgabe für die nächsten 50 Jahre diplomatischer Beziehungen? Denn so lang und so alt sind die zwischen Israel -
    Avnery: Weniger, hoffe ich.
    Wentzien: Weniger?
    Avnery: Viel weniger. Deutschland muss - die ganze Welt ändert langsam ihre Einstellung zu unserem Problem. Und mehr und mehr Völker und Regierungen verstehen, dass Frieden zwischen Israel und Palästina nicht nur wünschenswert ist, sondern auch lebenswichtig für beide Völker. Und man ist dann - und den Palästinensern helfen muss, zu einem Frieden zu kommen. Sogar die Amerikaner schwenken langsam um, obwohl das sehr schwer ist, denn die jüdische Gemeinde in Amerika hat einen sehr großen Einfluss auf die Regierung. Aber auch die jüdische Gemeinde ist nicht mehr dieselbe. In der jungen Generation in der jüdischen Gemeinde in Amerika hat eine andere Einstellung. Aber das muss man der Zukunft überlassen.
    Wentzien: Sie haben gesagt, Herr Avnery, ich habe beschlossen, so lange am Leben zu bleiben, bis der Frieden kommt. Das ist eigentlich ein Wort von Jassir Arafat.
    Avnery: Ich war mal bei Jassir Arafat in Ramallah, und da kam ein Fernsehteam und hat uns zusammen interviewt. Ich glaube, es war mein 80. Geburtstag oder so was. Die fragten Arafat, wenn Sie den Frieden noch erleben. Und Arafat hat gesagt, Uri Avnery und ich werden beide den Frieden erleben. Inzwischen ist Jassir Arafat umgekommen, gestorben, ermordet, wie man will. Und darum ist diese Überzeugung nicht ganz unanfechtbar. Aber ich hoffe. Meine Mutter ist 95 Jahre alt geworden. Ich bin erst 91, da habe ich noch vier Jahre Zeit, um sie zu überholen, und mein Plan ist, sie zu überholen.
    "Was immer gesund ist, darfst du nicht essen"
    Wentzien: Woher nehmen Sie Ihre Kraft? Geben Sie uns Jungen ein Stückchen davon ab!
    Avnery: Ich hatte mal einen Arzt, der hat gesagt, um länger zu leben, muss man richtig essen und darf nicht rauchen und muss Sport machen. Und alles ist Quatsch, denn man muss die richtigen Gene haben. Ich glaube, mein Rezept ist, man muss involviert sein, man muss für etwas kämpfen. Man muss optimistisch sein. Und das ist die Hauptsache. Man muss mehr oder weniger leben. Ich gehe jeden Tag eine halbe Stunde am Meer entlang. Ich habe nie richtig geraucht. Ich habe eine sehr strenge Diät sowieso. Ich habe eine ganz besondere Diät. Mein Arzt hat mir gesagt, um es kurz zu sagen: Was immer gesund ist, darfst du nicht essen.
    Wentzien: Nicht essen?
    Avnery: Nicht essen. Weder Gemüse noch Früchte noch irgendetwas in dieser Art. Nur Ungesundes wie Steaks und so weiter und Chips.
    Wentzien: Und daran halten Sie sich?
    Avnery: Und daran halte ich mich sehr streng.
    Wentzien: Und Sie zitieren immer wieder Schopenhauer, ist mir aufgefallen. Der zieht sich so ein bisschen wie ein roter Faden durchs Leben, mit dem Satz "Jede Wahrheit ist im ersten Stadium lächerlich, dann erregt sie gewaltsamen Widerstand, zuletzt wird sie als selbstverständlich akzeptiert." Wir befinden uns in Stufe drei.
    Avnery: Langsam. Zwischen Stufe zwei und Stufe drei.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.