Über die Finanzkrise und ihre Folgen sind viele Bücher geschrieben geworden, braucht es da noch ein weiteres? Ja, jedenfalls, wenn jemand den Finger in die richtige Wunde legt und anschaulich und analytisch ein fundamentales Problem unserer Wirtschaft beschreibt, wie dies Rana Foroohar tut: das gefährliche Machtungleichgewicht zwischen der Finanzwirtschaft und der Realwirtschaft. Seit 23 Jahren beobachtet die Journalistin politische und wirtschaftliche Entwicklungen, früher für die US-Magazine Time und Newsweek, heute bei der Wirtschaftszeitung Financial Times und dem Nachrichtensender CNN. Sie ist eine überzeugte Kapitalistin, aber die derzeitige Form des Kapitalismus hält sie für falsch. Sie wählt in ihrem Buch "Makers and Takers" klare Formulierungen, zu denen auch Anhänger der Occupy-Bewegung greifen könnten. Foroohar schreibt:
Statt der Entwickler entscheiden die Buchhalter
"Die Krankheit unserer Wirtschaft hat einen Namen: Finanzialisierung. Dieser Begriff bezeichnet die Tendenz, dass die Wall Street und ihre Denkweise in den Vereinigten Staaten zur unangefochtenen Herrschaft gelangt sind. Sie durchdringt nicht nur die Finanzindustrie, sondern die gesamte amerikanische Unternehmenswelt. […] Wir brauchen ein radikal anderes Marktgleichgewicht zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft – zwischen den Kassierern und den Machern -, das für besseres und nachhaltigeres Wachstum sorgt. Angesichts des Ausmaßes der Kontrolle, die das Finanzwesen über unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft ausübt, ist dieser Diskurs nicht leicht in Gang zu bringen. Jedoch ist er entscheidend, um eine bessere Zukunft zu bauen."
Unternehmer haben im Kapitalismus eine elementare Funktion, sie ermöglichen neue Produkte oder effizientere Produktionsweisen. Unzählige Unternehmer haben ganz in diesem Sinne die Menschheit seit der industriellen Revolution vorangebracht, ob einst Werner von Siemens oder in jüngster Zeit Steve Jobs bei Apple. Meist brauchen sie das Kapital anderer, um ihre Ideen verwirklichen zu können. Das Kapital besorgen sich Firmen gewöhnlich durch die Ausgabe von Aktien oder Anleihen oder die Kreditaufnahme bei Banken. Die Interessen der Kapitalgeber spielten immer eine Rolle, aber nur in begrenztem Ausmaß. Unternehmer ließen sich gewöhnlich nicht in ihre Entscheidungen hereinreden. Gelebt wird dieses Modell noch heute in familiengeführten Betrieben. Ganz anders ticken jedoch die großen US-Konzerne, die an den Börsen gelistet sind. Sie entscheiden aufgrund von Finanzkennzahlen. Die Buchhalter geben die Richtung vor und nicht die Ingenieure und Entwickler.
Autobauer Ford als negatives Beispiel
Eindrucksvoll beschreibt Faroohar dies am Beispiel des Autobauers Ford. Maßgeblich verantwortlich war Robert F. McNamara, der 1960 erster Chef bei Ford wurde, der nicht aus der Familie stammte:
"Er hatte in Harvard BWL studiert und war zum Verfechter dezentralisierter Unternehmensführung und der finanziell gesteuerten Entscheidungsfindung geworden, die bei GM bereits zu erleben war. Sie wurde schließlich zum Goldstandard der finanzialisierten Firmen."
McNamara – später Verteidigungsminister - wurde für seine Managementerfolge oft gelobt. Foroohar bewertet sein Wirken völlig anders.
"Bevor McNamara Amerika nach Vietnam führte, startete er einen Angriff anderer Art - nämlich auf die Ford Motor Company. Dort entwickelte er eine Manie dafür, Bruchteile von Pennys aus den Kosten für die Radschrauben der Vorderräder herauszuquetschen, vernachlässigte aber die kreative Seite des Geschäfts. Diese Strategie führte dazu, dass der Autobauer zusammen mit der restlichen amerikanischen Autoindustrie seine Vorherrschaft verlor. […] Facharbeiter wurden durch Buchhalter ersetzt und das Geldverdienen ersetzte langsam, aber sicher das Ziel, großartige Produkte herzustellen. Kurz gesagt bahnte sich die Finanzialisierung an."
Auf die Spitze trieb diese Philosophie später dann Jack Welch bei General Electric, einer Ikone der Industrie. Dem Ziel der Steigerung des Gewinns für die Aktionäre wurde die gesamte Strategie untergeordnet. Regelmäßig wurden Teile des Unternehmens verkauft, aufgespalten oder umgebaut. Gleichzeitig stieg der Konzern in einem gigantischen Ausmaß in Finanzgeschäfte ein, ohne eine Bank zu sein. So unterschiedliche Unternehmen wie Sony, Intel, Kodak, Microsoft, General Elektric, Cicso AT&T, Pfizer und Hewlett-Packard opferten ihre langfristigen Interessen kurzfristigen Gewinnen.
Investmentbanker verdienen Millionen
Der Schaden ist groß: Verbraucher bekommen oft schlechte, bisweilen sogar gefährliche Produkte. Viele Arbeitnehmer verloren ihren Job, beispielsweise wegen Fusionen, an denen zwar die Finanzindustrie gut verdient, die aber wirtschaftlich sinnlos sind. Den Gewinn streichen wenige ein: So steht die Finanzindustrie – Banken, Hedgefonds und andere Anlagegesellschaften – für rund sieben Prozent der US-Wirtschaftsleistung. Aber sie streichen 25 Prozent der Unternehmensgewinne ein. Foroohar prangert den Einfluss der Finanzindustrie an, die es nicht zuletzt dank ihrer massiven Lobbytätigkeiten geschafft habe, aus der Finanzkrise weitgehend ungeschoren heraus zu kommen. Den Schaden hatten private Hausbesitzer, Arbeitnehmer und kleine Firmen. Die Finanzwirtschaft ziehe den Sauerstoff aus der Realwirtschaft, schreibt Foroohar, aber selbst ein Weltkonzern wie Coca Cola gebe sich zahm gegenüber der Finanzindustrie. Dabei hat Goldman Sachs vor einigen Jahren in großem Stil Aluminium gehortet, um durch eine Verknappung den Preis nach oben zu treiben. Die Investmentbanker verdienten damit Millionen. Die Hersteller von Getränken wie eben Coca Cola jedoch mussten für Verschlüsse höhere Preise zahlen. Für US-Verbraucher bedeutete dies alleine Mehrkosten von 3,5 bis fünf Milliarden Dollar in den Jahren 2010 bis 2013. Foroohar:
"Der Aluminiumskandal zeigt, wie schwer es für Verbände ist – und würden sie auch die größten Unternehmen der Welt vertreten –, sich dem Einfluss der mächtigen Finanzinstitutionen zu entziehen. Sie machen die Märkte. Sie sind die Märkte. Sie handeln die Produkte an den Märkten und – wie diese Geschichte zeigt – sie können auch die Dinge besitzen, die an diesen Märkten gehandelt werden. […] Es darf einfach nicht sein, dass amerikanische Industrieunternehmen in ihrem Kerngeschäft mit ihren eigenen Banken konkurrieren müssen."
Transparenz an den Finanzmärkten nötig
Die Autorin argumentiert mit spannenden Fällen aus der US-Industrie. Aber die Finanzialisierung prägt längst auch das Geschehen anderswo. Bestes Beispiel ist die Übernahme von Monsanto durch Bayer, wo Wachstum ebenfalls durch eine schuldenfinanzierte Übernahme anstatt Investitionen gelingen soll. Wie lässt sich ein Gleichgewicht zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft wieder herstellen? Foroohar schlägt eine radikale Vereinfachung der Gesetzgebung vor, eine Regulierung des gesamten Derivatehandels, die Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen, Transparenz an den Finanzmärkten, höhere Eigenkapitalforderungen für Banken und eine Haftung der Finanziers bei Krisen. Damit greift sie Ideen auf, die vor ihr andere schon hatten, um eine erneute Finanzkrise zu verhindern. Wichtig wären diese Maßnahmen allesamt. Wie wichtig, weiß jeder Leser nach der Lektüre. Nichts deutet jedoch in den USA derzeit darauf hin, dass solche Maßnahmen umgesetzt werden könnten. Die Autorin hat ihr Buch vor den Wahlen geschrieben. US-Präsident Donald Trump will jedoch die Regulierung des Finanzmarktes sogar wieder ein ganzes Stück zurückdrehen und dürfte damit die verhängnisvolle Entwicklung weiter vorantreiben.
Rana Foroohar: "Makers and Takers. Der Aufstieg des Finanzwesens und der Absturz der Realwirtschaft"
Übersetzer: Egbert Neumüller, Plassen Verlag, 448 Seiten, 29,99 Euro.
Übersetzer: Egbert Neumüller, Plassen Verlag, 448 Seiten, 29,99 Euro.