Der Kontakt einer Terroristin zu einem Nachrichtendienst – das ist der Nerv der Geschichte. Wolfgang Kraushaar sucht unter anderem nach Indizien, ob dieser Kontakt schon vor dem Buback-Attentat von 1977 bestand. Eine Frage, der die Publizistik bisher eher aus dem Weg geht:
"Man rührt natürlich bei dieser Frage an ein großes Tabu, nämlich die Möglichkeit, inwiefern eine Terroristin vor einem Anschlag in irgendeiner Weise in Verbindung gestanden haben könnte mit einem Geheimdienst. Und damit bringt man ja sozusagen den gesamten Staat mit ins Spiel."
Der Historiker stellt den Fall in einen zeithistorischen Kontext. Er rekonstruiert die Biografie von Verena Becker und ihren Werdegang in den Terrororganisationen Bewegung 2. Juni und RAF. Entscheidend ist das Jahr 1972. Sie war an einem Sprengstoffanschlag in Westberlin beteiligt, bei dem ein Mann starb, und wurde wie fast alle Täter gefasst. Mehrere der Inhaftierten wurden in der U-Haft vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz kontaktiert. Mindestens zwei erklärten sich zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst bereit. Einer von ihnen war Ulrich Schmücker, der 1974 in Berlin erschossen wurde. Der Mord wurde nie aufgeklärt, insgesamt vier Prozesse endeten ohne Urteil. Heute weiß man, dass der Verfassungsschutz im Besitz der Tatwaffe war. Wolfgang Kraushaar sieht im Fall Schmücker den Schlüssel zum Fall Becker, eine Art "Blaupause". Er fragt: Warum soll der Verfassungsschutz nicht auch Verena Becker zu einer Zusammenarbeit gebracht haben? Das würde einen Vermerk von ehemaligen MfS-Offizieren erklären, der sich heute in den Stasi-Akten findet. Becker werde, so die Stasi-Offiziere seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten.
Kraushaar ist jedenfalls der Überzeugung, er spricht von "begründeter Vermutung", dass Becker schon vor 1977 für den Verfassungsschutz tätig war. Und er führt dann zehn Verdachtsmomente auf, die für eine unmittelbare Täterschaft Beckers beim Buback-Attentat sprechen. Sowie dafür, dass sie nach dem Mordanschlag durch staatliche Stellen gedeckt wurde: Zum Beispiel wurde sie schon am Tag danach aus der öffentlichen Fahndung herausgenommen. Außerdem will Kraushaar über Informationen verfügen, deren Quelle er nicht nennt, nach denen Becker nicht nur – wie bislang eingeräumt - 1981 vor dem Verfassungsschutz ausgesagt habe, sondern über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg bis Ende 1983. Seine Schlussfolgerung: Der Verfassungsschutz muss über mehr Protokolle der Gespräche mit Verena Becker verfügen als bisher bekannt. Damit stellt sich die Frage: Wusste der Verfassungsschutz von Plänen der RAF, Buback zu ermorden? Hat er Verena Becker gar beauftragt, sich in das Mordkommando einzureihen? Nein, sagt Wolfgang Kraushaar, das schließe er aus:
"Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Frau Becker nun sozusagen vom Verfassungsschutz oder von irgendeiner anderen Stelle aus beauftragt gewesen sein könnte, an diesem Attentat sich zu beteiligen beziehungsweise das Attentat selber durchzuführen. Das halte ich nach all dem, was ich sehen kann, für unsinnig."
Er geht von einem Verhängnis aus. V-Leute des Verfassungsschutzes mussten sich innerhalb einer terroristischen Gruppe konform verhalten, also auch an Anschlägen beteiligen, um nicht enttarnt zu werden. Eine mögliche Verwicklung Beckers in das Attentat aber versuchen die Staatsschutzorgane, so Kraushaars Fazit, bis heute zu verschleiern. Und an vorderster Front dieser Verschleierungsbemühungen sieht Kraushaar die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe: eine Behörde, die eine Schnittstelle zwischen Justiz und Geheimdiensten darstellt. Selten ist ein etablierter Sozialwissenschaftler in der Systemkritik so weit gegangen. Auf Merkwürdigkeiten im Fall Verena Becker weist auch der Journalist Udo Schulze in seinem Buch hin. Er hat öffentlich zugängliche Unterlagen ausgewertet, Ermittlungs- und Prozessakten, die zum Beispiel im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart lagern, die zwar oft unvollständig sind, aber doch eine Menge relevanter Details liefern. Auch er ist auf einen bemerkenswert rücksichtsvollen Umgang der Strafverfolger mit Verena Becker gestoßen:
"Sehr erstaunlich war, dass Verena Becker bereits seit 1975 in der beobachteten Fahndung war. Sie wurde immer wieder gesehen, in Westberlin, in anderen Städten. Das wurde notiert, festgehalten, an das Bundeskriminalamt geschickt. / Das ist also sehr erstaunlich. Sie war schon auf der Fahndungsliste als Mitglied einer terroristischen Vereinigung, ist aber nie gegriffen worden, wie das so im Polizeijargon heißt."
Udo Schulze fand heraus, dass Verena Becker bei ihrer Festnahme in Singen im Mai 1977 nicht nur die Waffe bei sich hatte, mit der Generalbundesanwalt Buback und seine beiden Begleiter erschossen worden waren, sondern auch einen Schraubendreher aus dem Bordwerkzeug des Tat-Motorrads. Außerdem finden sich in den Unterlagen Belege dafür, dass der Verfassungsschutz und der BND an der Begnadigung Beckers nach nur zwölf Jahren Haft mitgewirkt haben. Der Autor lenkt den Fokus in seinem Buch aber auch auf eine andere Seite: die DDR, konkret die vielen Kontakte von Leuten der Bewegung 2. Juni und RAF-Mitgliedern zur Staatssicherheit. In den archivierten Akten ist Schulze unter anderem auf die Information gestoßen, wonach Becker bei ihrer Festnahme in Singen 200 DDR-Mark bei sich hatte:
"Was daraufhin weist, dass sie Verbindungen offensichtlich in die DDR hatte, dorthin wollte oder von dort kam."
Wie passt das aber mit dem Einreiseverbot zusammen, das die DDR bereits Mitte der 70er-Jahre gegen Becker verhängt hatte? Vieles am Verhältnis zwischen westdeutschen Terroristen und dem DDR-Geheimdienst erscheint bisher widersprüchlich. Ein Muster dafür ist der Fall Till Meyer. Er war Mitglied der Bewegung 2. Juni und später Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, wurde 1978 in Bulgarien verhaftet und an die Bundesrepublik ausgeliefert. An der Festnahme war ein Zielfahndungskommando des BKA auf bulgarischem Boden beteiligt – was Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ost- und Westsicherheitsorganen beim Umgang mit der RAF aufwirft. Eine eigene Theorie dazu präsentiert Schulze in seinem Buch nicht. Er bietet eher Denkoptionen an, die bisweilen ins Verschwörungstheoretische ausufern. Etwa: Hatten beide Seiten ein Interesse am Tod von Siegfried Buback? Die Bücher von Wolfgang Kraushaar und Udo Schulze sind vor allem Material für die weitere Aufklärung. Möglicherweise stehen sie auch für einen beginnenden Paradigmenwechsel in der Betrachtung der RAF-Geschichte: Die Geheimdienste sind mit in den Blick zu nehmen.
Thomas Moser über Wolfgang Kraushaar: "Verena Becker und der Verfassungsschutz". Hamburger Edition, 203 Seiten zum Preis von 16 Euro, ISBN 978-3868542271, und Udo Schulze: "RAF. Becker, Buback und Geheimdienste". 263 Seiten aus dem Argo-Verlag für 19 Euro und 90 Cent, ISBN 978-3-941-80009-0.
"Man rührt natürlich bei dieser Frage an ein großes Tabu, nämlich die Möglichkeit, inwiefern eine Terroristin vor einem Anschlag in irgendeiner Weise in Verbindung gestanden haben könnte mit einem Geheimdienst. Und damit bringt man ja sozusagen den gesamten Staat mit ins Spiel."
Der Historiker stellt den Fall in einen zeithistorischen Kontext. Er rekonstruiert die Biografie von Verena Becker und ihren Werdegang in den Terrororganisationen Bewegung 2. Juni und RAF. Entscheidend ist das Jahr 1972. Sie war an einem Sprengstoffanschlag in Westberlin beteiligt, bei dem ein Mann starb, und wurde wie fast alle Täter gefasst. Mehrere der Inhaftierten wurden in der U-Haft vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz kontaktiert. Mindestens zwei erklärten sich zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst bereit. Einer von ihnen war Ulrich Schmücker, der 1974 in Berlin erschossen wurde. Der Mord wurde nie aufgeklärt, insgesamt vier Prozesse endeten ohne Urteil. Heute weiß man, dass der Verfassungsschutz im Besitz der Tatwaffe war. Wolfgang Kraushaar sieht im Fall Schmücker den Schlüssel zum Fall Becker, eine Art "Blaupause". Er fragt: Warum soll der Verfassungsschutz nicht auch Verena Becker zu einer Zusammenarbeit gebracht haben? Das würde einen Vermerk von ehemaligen MfS-Offizieren erklären, der sich heute in den Stasi-Akten findet. Becker werde, so die Stasi-Offiziere seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten.
Kraushaar ist jedenfalls der Überzeugung, er spricht von "begründeter Vermutung", dass Becker schon vor 1977 für den Verfassungsschutz tätig war. Und er führt dann zehn Verdachtsmomente auf, die für eine unmittelbare Täterschaft Beckers beim Buback-Attentat sprechen. Sowie dafür, dass sie nach dem Mordanschlag durch staatliche Stellen gedeckt wurde: Zum Beispiel wurde sie schon am Tag danach aus der öffentlichen Fahndung herausgenommen. Außerdem will Kraushaar über Informationen verfügen, deren Quelle er nicht nennt, nach denen Becker nicht nur – wie bislang eingeräumt - 1981 vor dem Verfassungsschutz ausgesagt habe, sondern über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg bis Ende 1983. Seine Schlussfolgerung: Der Verfassungsschutz muss über mehr Protokolle der Gespräche mit Verena Becker verfügen als bisher bekannt. Damit stellt sich die Frage: Wusste der Verfassungsschutz von Plänen der RAF, Buback zu ermorden? Hat er Verena Becker gar beauftragt, sich in das Mordkommando einzureihen? Nein, sagt Wolfgang Kraushaar, das schließe er aus:
"Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Frau Becker nun sozusagen vom Verfassungsschutz oder von irgendeiner anderen Stelle aus beauftragt gewesen sein könnte, an diesem Attentat sich zu beteiligen beziehungsweise das Attentat selber durchzuführen. Das halte ich nach all dem, was ich sehen kann, für unsinnig."
Er geht von einem Verhängnis aus. V-Leute des Verfassungsschutzes mussten sich innerhalb einer terroristischen Gruppe konform verhalten, also auch an Anschlägen beteiligen, um nicht enttarnt zu werden. Eine mögliche Verwicklung Beckers in das Attentat aber versuchen die Staatsschutzorgane, so Kraushaars Fazit, bis heute zu verschleiern. Und an vorderster Front dieser Verschleierungsbemühungen sieht Kraushaar die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe: eine Behörde, die eine Schnittstelle zwischen Justiz und Geheimdiensten darstellt. Selten ist ein etablierter Sozialwissenschaftler in der Systemkritik so weit gegangen. Auf Merkwürdigkeiten im Fall Verena Becker weist auch der Journalist Udo Schulze in seinem Buch hin. Er hat öffentlich zugängliche Unterlagen ausgewertet, Ermittlungs- und Prozessakten, die zum Beispiel im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart lagern, die zwar oft unvollständig sind, aber doch eine Menge relevanter Details liefern. Auch er ist auf einen bemerkenswert rücksichtsvollen Umgang der Strafverfolger mit Verena Becker gestoßen:
"Sehr erstaunlich war, dass Verena Becker bereits seit 1975 in der beobachteten Fahndung war. Sie wurde immer wieder gesehen, in Westberlin, in anderen Städten. Das wurde notiert, festgehalten, an das Bundeskriminalamt geschickt. / Das ist also sehr erstaunlich. Sie war schon auf der Fahndungsliste als Mitglied einer terroristischen Vereinigung, ist aber nie gegriffen worden, wie das so im Polizeijargon heißt."
Udo Schulze fand heraus, dass Verena Becker bei ihrer Festnahme in Singen im Mai 1977 nicht nur die Waffe bei sich hatte, mit der Generalbundesanwalt Buback und seine beiden Begleiter erschossen worden waren, sondern auch einen Schraubendreher aus dem Bordwerkzeug des Tat-Motorrads. Außerdem finden sich in den Unterlagen Belege dafür, dass der Verfassungsschutz und der BND an der Begnadigung Beckers nach nur zwölf Jahren Haft mitgewirkt haben. Der Autor lenkt den Fokus in seinem Buch aber auch auf eine andere Seite: die DDR, konkret die vielen Kontakte von Leuten der Bewegung 2. Juni und RAF-Mitgliedern zur Staatssicherheit. In den archivierten Akten ist Schulze unter anderem auf die Information gestoßen, wonach Becker bei ihrer Festnahme in Singen 200 DDR-Mark bei sich hatte:
"Was daraufhin weist, dass sie Verbindungen offensichtlich in die DDR hatte, dorthin wollte oder von dort kam."
Wie passt das aber mit dem Einreiseverbot zusammen, das die DDR bereits Mitte der 70er-Jahre gegen Becker verhängt hatte? Vieles am Verhältnis zwischen westdeutschen Terroristen und dem DDR-Geheimdienst erscheint bisher widersprüchlich. Ein Muster dafür ist der Fall Till Meyer. Er war Mitglied der Bewegung 2. Juni und später Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, wurde 1978 in Bulgarien verhaftet und an die Bundesrepublik ausgeliefert. An der Festnahme war ein Zielfahndungskommando des BKA auf bulgarischem Boden beteiligt – was Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ost- und Westsicherheitsorganen beim Umgang mit der RAF aufwirft. Eine eigene Theorie dazu präsentiert Schulze in seinem Buch nicht. Er bietet eher Denkoptionen an, die bisweilen ins Verschwörungstheoretische ausufern. Etwa: Hatten beide Seiten ein Interesse am Tod von Siegfried Buback? Die Bücher von Wolfgang Kraushaar und Udo Schulze sind vor allem Material für die weitere Aufklärung. Möglicherweise stehen sie auch für einen beginnenden Paradigmenwechsel in der Betrachtung der RAF-Geschichte: Die Geheimdienste sind mit in den Blick zu nehmen.
Thomas Moser über Wolfgang Kraushaar: "Verena Becker und der Verfassungsschutz". Hamburger Edition, 203 Seiten zum Preis von 16 Euro, ISBN 978-3868542271, und Udo Schulze: "RAF. Becker, Buback und Geheimdienste". 263 Seiten aus dem Argo-Verlag für 19 Euro und 90 Cent, ISBN 978-3-941-80009-0.