Für Sidur wurden schließlich Deutsche die besten, die zuverlässigsten, die treuesten Freunde. Warum das so war - wir wissen es nicht. Es ist einfach so, hat sich so ergeben: die besten Freunde sind Deutsche.
Die untersetzte, etwas rundliche Frau mit den zu ihrer energischen Altstimme so kontrastierenden kindlichen Gesichtszügen lacht verhalten und scheinbar etwas verwundert - immer noch, seit über 30 Jahren schon. So lang ist es her, dass die ersten Freundschaften wuchsen, und über die Zeit waren immer neue hinzugekommen. Und das ausgerechnet mit Angehörigen des Volkes, dem jener Scharfschütze angehörte, der den 19-jährigen Vadim Sidur zum Invaliden machte - damals, in dem großen schrecklichen Krieg der Deutschen gegen die Sowjetunion. Doch nirgends sonst als in Deutschland stehen so viele Denkmäler des Bildhauers Vadim Sidur, gibt es umfangreichere Sammlungen seiner Plastiken, nicht einmal in Russland.
Ich glaube, das lag daran, dass so viele zu uns kamen, die im gleichen Alter wie Vadim waren. Ihnen gefiel Vadims Kunst, sie waren begeistert. Und - sie hatten ebenso wie er am Krieg teilgenommen und waren mit ihm einig, dass es ein amoralischer, ein verbrecherischer Krieg war.
Julia Sidur, die Witwe des Künstlers, könnte auch aus einem Brief zitieren, den ihr Mann mit Datum vom 7. März 1975 an die Universität Konstanz geschrieben hat, zur Eröffnung einer Ausstellung seiner Werke:
Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen. Vor genau 31 Jahren wurde ich von der Kugel eines deutschen Soldaten niedergestreckt. Ein Sprenggeschoss sollte mich töten. Bis heute stecken in meinem Kiefer Teile dieses Geschosses. Doch es ereignete sich das erste Wunder - ich blieb am Leben.
Und es schien damals, dass Deutschland und die Deutschen auf ewig meine Feinde sein würden. Aber es ereignete sich das zweite Wunder - das Land der Feinde verwandelt sich für mich in ein Land der Freunde.
Wie kam es zu solchen Veränderungen in meinem Bewusstsein? Alles änderte sich, als ich begriff, dass die Menschheit eine Einheit bildet, und dass dieser eine Einheit bildende Organismus mit seiner Selbstzerstörung befasst war.
Eine solche Einsicht stellt sich ein, sofern man aufhört, andere Menschen durch das Visier einer Waffe zu betrachten, durch das Prisma des Vorurteils und der Feindseligkeit; wenn man die Möglichkeit erhält, mit denen zu reden, die man für seine Feinde gehalten hatte, und wenn man sich dabei in die Augen sieht; wenn man sich frei macht von dem grässlichsten aller Gefängnisse, nämlich dem in einem selbst: wenn man die Mauer der Furcht und des Misstrauens, die es umgibt, niedergerissen hat.
Sidur erwartete in einer Woche seinen 17. Geburtstag, als der deutsche Angriff begann, in Dnjepopetrowsk, dem einstigen Jekaterinoslaw in der Ukraine. Wie hatte er die Nachricht aufgenommen, wie hatte er reagiert?
Es ging alles so schnell. Binnen kurzem standen die deutschen Truppen vor Dnjepopretowsk. Vadim war in der neunten Klasse; in Russland ging man damals zehn Jahre zur Schule. Alle aus seiner Klasse meldeten sich sofort freiwillig zur Armee. Doch niemand auf sowjetischer Seite war auf den Krieg vorbereitet gewesen. Es war einfach niemand da, der die Meldungen bearbeiten konnte: Die zuständigen Behörden waren evakuiert, und nichts geschah.
Doch, doch - auch die Bevölkerung sollte evakuiert werden, auch die Sidurs. Doch des Vaters Mutter und Schwester entschieden sich anders:
Tante und Großmutter waren überzeugt, dass es besser sei, unter den Deutschen zu leben. Sie meinten, dass alles Schlechte, was den Deutschen nachgesagt würde, sowjetische Propaganda sei. Sie blieben also. Aber dann - 1944 - wurden alle Juden erschossen. Auch dieser Teil der Familie.
Der jüdische, der des Vaters.
Über das Kubangebiet zog die Familie bis ins zentralasiatische Kirgisien. Dort erst wurde Vadim Sidur eingezogen und als MG-Schütze ausgebildet.
Mit 18 Jahren wurde er Offizier, mit 19 aber schon verwundet und Invalide.
Er hatte große Verantwortung, denn er hatte Menschen zu kommandieren, die alle älter waren als er. Es war eine Kampfeinheit, alle waren 30 Jahre alt und älter, kamen aus Sibirien. Aber sie waren nicht ausgebildet, konnten nicht schießen. Und so waren die Verluste hoch. Aber es kamen immer neue. Vadim hatte eine Ausbildung. Er hatte schießen gelernt, doch um ihn waren nur Menschen, die es überhaupt nicht konnten.
Ja, er hatte eine große Verantwortung, und er machte seine Sache gut ....
... bis ihn die Kugel jenes deutschen Scharfschützen traf.
Die Verletzung blieb gegenwärtig, die Verformung seines Gesichts konnte ein Bart kaum kaschieren, und die Artikulation mancher Worte machte ihm Mühe.
Und gegenwärtig blieb ihm das Erlebnis des Krieges: In seinem Atelier, einem über 17 Stufen in die Tiefe führenden Kellergewölbe Moskaus, wurde es wohl von einem Dutzend Plastiken reflektiert.
Es war von großer, enormer Bedeutung für seine Werke. Nachdem er sich langsam etwas erholt und die Wunden abgeheilt waren, nachdem er wieder zu sich selbst gefunden hatte, ging er wieder zurück in die Vergangenheit. Er musste den Krieg noch einmal aufarbeiten. Der saß buchstäblich in ihm. Und so sind dann seine Anti-Kriegsplastiken entstanden: ?Tod durch Bomben?, ?Den Opfern der Gewalt?, ?Der Verwundete? und andere. Er nannte es einen Zyklus.
Und all diese Denkmäler stehen heute in Deutschland!
Vadim Sidur nennen Fachleute in einem Atemzug mit Moore, Lipchitz, Giacometti und anderen. Er starb am 26. Juni 1986 nach einem Herzinfarkt in Moskau.
Die untersetzte, etwas rundliche Frau mit den zu ihrer energischen Altstimme so kontrastierenden kindlichen Gesichtszügen lacht verhalten und scheinbar etwas verwundert - immer noch, seit über 30 Jahren schon. So lang ist es her, dass die ersten Freundschaften wuchsen, und über die Zeit waren immer neue hinzugekommen. Und das ausgerechnet mit Angehörigen des Volkes, dem jener Scharfschütze angehörte, der den 19-jährigen Vadim Sidur zum Invaliden machte - damals, in dem großen schrecklichen Krieg der Deutschen gegen die Sowjetunion. Doch nirgends sonst als in Deutschland stehen so viele Denkmäler des Bildhauers Vadim Sidur, gibt es umfangreichere Sammlungen seiner Plastiken, nicht einmal in Russland.
Ich glaube, das lag daran, dass so viele zu uns kamen, die im gleichen Alter wie Vadim waren. Ihnen gefiel Vadims Kunst, sie waren begeistert. Und - sie hatten ebenso wie er am Krieg teilgenommen und waren mit ihm einig, dass es ein amoralischer, ein verbrecherischer Krieg war.
Julia Sidur, die Witwe des Künstlers, könnte auch aus einem Brief zitieren, den ihr Mann mit Datum vom 7. März 1975 an die Universität Konstanz geschrieben hat, zur Eröffnung einer Ausstellung seiner Werke:
Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen. Vor genau 31 Jahren wurde ich von der Kugel eines deutschen Soldaten niedergestreckt. Ein Sprenggeschoss sollte mich töten. Bis heute stecken in meinem Kiefer Teile dieses Geschosses. Doch es ereignete sich das erste Wunder - ich blieb am Leben.
Und es schien damals, dass Deutschland und die Deutschen auf ewig meine Feinde sein würden. Aber es ereignete sich das zweite Wunder - das Land der Feinde verwandelt sich für mich in ein Land der Freunde.
Wie kam es zu solchen Veränderungen in meinem Bewusstsein? Alles änderte sich, als ich begriff, dass die Menschheit eine Einheit bildet, und dass dieser eine Einheit bildende Organismus mit seiner Selbstzerstörung befasst war.
Eine solche Einsicht stellt sich ein, sofern man aufhört, andere Menschen durch das Visier einer Waffe zu betrachten, durch das Prisma des Vorurteils und der Feindseligkeit; wenn man die Möglichkeit erhält, mit denen zu reden, die man für seine Feinde gehalten hatte, und wenn man sich dabei in die Augen sieht; wenn man sich frei macht von dem grässlichsten aller Gefängnisse, nämlich dem in einem selbst: wenn man die Mauer der Furcht und des Misstrauens, die es umgibt, niedergerissen hat.
Sidur erwartete in einer Woche seinen 17. Geburtstag, als der deutsche Angriff begann, in Dnjepopetrowsk, dem einstigen Jekaterinoslaw in der Ukraine. Wie hatte er die Nachricht aufgenommen, wie hatte er reagiert?
Es ging alles so schnell. Binnen kurzem standen die deutschen Truppen vor Dnjepopretowsk. Vadim war in der neunten Klasse; in Russland ging man damals zehn Jahre zur Schule. Alle aus seiner Klasse meldeten sich sofort freiwillig zur Armee. Doch niemand auf sowjetischer Seite war auf den Krieg vorbereitet gewesen. Es war einfach niemand da, der die Meldungen bearbeiten konnte: Die zuständigen Behörden waren evakuiert, und nichts geschah.
Doch, doch - auch die Bevölkerung sollte evakuiert werden, auch die Sidurs. Doch des Vaters Mutter und Schwester entschieden sich anders:
Tante und Großmutter waren überzeugt, dass es besser sei, unter den Deutschen zu leben. Sie meinten, dass alles Schlechte, was den Deutschen nachgesagt würde, sowjetische Propaganda sei. Sie blieben also. Aber dann - 1944 - wurden alle Juden erschossen. Auch dieser Teil der Familie.
Der jüdische, der des Vaters.
Über das Kubangebiet zog die Familie bis ins zentralasiatische Kirgisien. Dort erst wurde Vadim Sidur eingezogen und als MG-Schütze ausgebildet.
Mit 18 Jahren wurde er Offizier, mit 19 aber schon verwundet und Invalide.
Er hatte große Verantwortung, denn er hatte Menschen zu kommandieren, die alle älter waren als er. Es war eine Kampfeinheit, alle waren 30 Jahre alt und älter, kamen aus Sibirien. Aber sie waren nicht ausgebildet, konnten nicht schießen. Und so waren die Verluste hoch. Aber es kamen immer neue. Vadim hatte eine Ausbildung. Er hatte schießen gelernt, doch um ihn waren nur Menschen, die es überhaupt nicht konnten.
Ja, er hatte eine große Verantwortung, und er machte seine Sache gut ....
... bis ihn die Kugel jenes deutschen Scharfschützen traf.
Die Verletzung blieb gegenwärtig, die Verformung seines Gesichts konnte ein Bart kaum kaschieren, und die Artikulation mancher Worte machte ihm Mühe.
Und gegenwärtig blieb ihm das Erlebnis des Krieges: In seinem Atelier, einem über 17 Stufen in die Tiefe führenden Kellergewölbe Moskaus, wurde es wohl von einem Dutzend Plastiken reflektiert.
Es war von großer, enormer Bedeutung für seine Werke. Nachdem er sich langsam etwas erholt und die Wunden abgeheilt waren, nachdem er wieder zu sich selbst gefunden hatte, ging er wieder zurück in die Vergangenheit. Er musste den Krieg noch einmal aufarbeiten. Der saß buchstäblich in ihm. Und so sind dann seine Anti-Kriegsplastiken entstanden: ?Tod durch Bomben?, ?Den Opfern der Gewalt?, ?Der Verwundete? und andere. Er nannte es einen Zyklus.
Und all diese Denkmäler stehen heute in Deutschland!
Vadim Sidur nennen Fachleute in einem Atemzug mit Moore, Lipchitz, Giacometti und anderen. Er starb am 26. Juni 1986 nach einem Herzinfarkt in Moskau.