Es ist kühl und regnerisch – über die zattere, die breite Uferpromenade nahe des Markusplatzes weht ein herbstlicher Wind. Trotzdem haben sich einige hundert Demonstranten hier versammelt. Darunter Marco Rugliancich und Massimo Brunzin. Die beiden Venezianer tragen Regenjacken und Schal. In den Vorjahren haben hier Tausende demonstriert und die Promenade war komplett voll.
Die Familien mit Kindern werden bei dem Wetter nicht kommen, höchstens die Väter, mutmaßt Massimo:
"Als Vater muss ich sagen, dass mich die Abgase dieser Schiffe beunruhigen. Jeder Ozeanriese, der hier in die Lagune fährt und 24 Stunden in unserem Hafen liegt, verbraucht so viel Treibstoff wie es 14.000 Autos entspricht. Zehn Schiffe sind also das Äquivalent zu 140.000 Autos, die durch das historische Zentrum fahren."
Wellenschlag setzt den Fundamenten zu
Hinzu kommt der Wellenschlag, der den Fundamenten Venedigs zusetzt. Etwa 500 Millionen Euro Einnahmen im Jahr bringen die Kreuzfahrtschiffe. Die Kosten, die sie langfristig verursachen, sind wesentlich höher, glaubt Marco:
"Ein großer Teil der Passagiere verlässt das Schiff gar nicht. Und diejenigen, die Venedig besuchen, lassen kaum Geld hier. Sie haben ja alles auf dem Schiff. Aber das Schlimmste ist die Erosion, die diese Schiffe verursachen."
Auf der Suche nach bekannten Gesichtern nähern sich Massimo und Marco der schwimmenden Bühne, die 50 Meter vor der Promenade aus dem Wasser ragt. Fischer umfahren mit ihren Booten die Bühne, halten Spruchbänder hoch. "Grandi Navi – no!" Große Schiffe – nein!
Beschwerde-Chor singt "Große Schiffe – nein!"
Marco winkt einer Frau in einem der Boote und lässt sich zur Bühne hinüberfahren. Annapaola leitet den "coro delle lamentele" den Beschwerde-Chor von Venedig.
"Es geht darum, Beschwerden zu sammeln und in Liedern zu verarbeiten. Wir wollen dem Schlechten mit Ironie begegnen und negative Energie kreativ verwandeln, das ist befreiend."
Das Repertoire ist vielfältig. Es geht um Hundekot auf dem Bürgersteig, um Touristen, die immer dieselben Fragen stellen – und um die ungeliebten Kreuzfahrtschiffe.
Das Lied hat der Chor extra für den Aktionstag geschrieben. Nicht alle der 15 Chormitglieder sind textsicher. Marco hält Schilder mit den Textzeilen hoch – das Publikum lacht. Und ist begeistert.
Der Protest gegen die Kreuzfahrtschiffe geht durch alle Altersgruppen und Schichten – er vereint die Venezianer, die sich gegen den Massentourismus auflehnen.
Neben jungen Aktivisten aus der alternativen Szene klatschen auch distinguierte Damen in Wollkostümen Beifall. Warum? Weil sie sich um das Ökosystem der Lagune sorgen.
Belgischer Tourist ärgert sich über Proteste
Die Reisegruppen, die natürlich auch heute über den Markusplatz und die Uferpromenade geführt werden, schauen neugierig auf die Menschenmasse und ihre Spruchbänder. Einige reagieren ängstlich, als sie verstehen, dass sich der Protest gegen sie richtet, gegen die Touristen. Ein Belgier, der mit seiner Frau regelmäßig nach Venedig kommt, ärgert sich über die Demonstration. Ohne Touristen würden auch die Einnahmen fehlen, um Venedig mit seinen historischen Bauten zu restaurieren und zu erhalten:
"If they dont want tourists they won't have finances to restore all the buildings and all the staff, and in 15 years there is nor Venice anymore. So you have to take the bad with the good, I think."
Venedig sei schon immer voller Touristen gewesen und die Venezianer müssten sich allmählich daran gewöhnt haben, meint er.
"It was always crowded. The peoole are now more annoied? They should have been used to it, I think."
Ein belustigtes Kopfschütteln, dann geht er Richtung Bootsanleger. Um die Protestierenden macht er einen Bogen.
"Wir können nichts anderes machen als weiter protestieren"
Marco Baravalle vom Komitee «Grandi navi no» eilt mit einer wichtigen Nachricht herbei. Seine Augen funkeln triumphierend:
"Unsere Demonstration zeigt Wirkung, eben hat die Hafenbehörde beschlossen, das Auslaufen der großen Kreuzfahrtschiffe heute um einige Stunden zu verlegen."
Es ist ein kleiner Triumph. Morgen werden die Schiffe wieder ihren Fahrplan einhalten. Solange es keine Alternativroute gibt, dürfen die schwimmenden Hotels weiter in die Lagune von Venedig einfahren – das wurde vor Gericht entschieden. Marco Baravalle:
"Wer den Massentourismus in Venedig beibehalten will, tendiert dazu nicht zu entscheiden. So bleibt alles beim Alten. Wir können nichts anderes machen als weiter zu protestieren."