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Vertuschte Vergangenheit. der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen

Winkels: Die Germanistik ist in einer Schwächeperiode. Kongresse beschäftigen sich zunehmend mit Fragen der grundsätzlichen Legitimation des Fachs angesichts von jahrelangen unfruchtbaren Methodendiskussionen, von einem Wandel der Buch- und Lesekultur und der Bedeutung von neuen Medien. Darüber hinaus hat sich die Germanistik auch immer wieder mit der Verstrickung ihrer Wissenschaftler in die NS-Herrschaft beschäftigen müssen. Zuletzt, angesichts des spektakulären Falls der Verwandlung des SS-Mannes Hans Schneider in den Nachkriegshochschulrektor Hans-Ernst Schwerte. Im Beck-Verlag ist just ein Buch zu diesem Thema erschienen mit dem Titel: "Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen". Und in den letzten beiden Tagen fand ein prominent besetzter Kongress zum Fall Schneider-Schwerte und zu den Verwandlungen von Nazis in demokratische Nachkriegs-Geisteswissenschaftler statt. Im Studio begrüße ich jetzt den Mannheimer Professor für Germanistik und Medienanalyse Jochen Hörisch. Er kommt gerade von diesem Kongress, wo er einen durchaus provozierenden Vortrag zum Thema gehalten hat. Herr Hörisch, gibt es auch heute noch ein politisch problematisches Milieu in der deutschen Literaturwissenschaft?

Hubert Winkels |
    Hörisch: Wenn man so will, gibt es heute so was wie ein noch vergleichsweise intaktes liberales Milieu bei der Germanistik. Das ist natürlich bemerkenswert, weil man in den 50er Jahren wirklich nichts Neues behauptete, wenn man sagte, die Germanistik war fest in der Hand der alten NSDAP-Mitglieder, der überzeugten Nazis, opportunistischen Nazis, wie auch immer. Bitte verstehen Sie das nicht zynisch, es konnte ja auch gar nicht anders sein. Sie waren alle Nazis, und man konnte ja nicht eine neue Generation von Germanisten aus dem Boden stampfen.

    Winkels: Und diese Generation ist jetzt emeritiert. Das ist der Grund, warum es heute nicht mehr so ist?

    Hörisch: Ja, '45 ist 50 Jahre her, diese Leute sind also logischerweise emeritiert, und ich denke, dass auch wirkliche Transformationsprozesse stattgefunden haben. Dafür ist Schneider-Schwerte ein interessantes Beispiel, das zeigt ja auch dieses Buch. Man kann offen lassen, ob der alte SS-Mann Schneider aus Überzeugungsgründen zum linksliberalen Demokraten und Reformwissenschaftler wurde oder aus Opportunismus. Er wurde es jedenfalls. Und funktional gesehen ist seine Biographie - ich muß aufpassen dass ich nicht allzu zynisch spreche - paradigmatisch. Er symbolisiert gewissermaßen den Umschwung des Faches.

    Winkels: Als ein Herr Hans Schneider war der Wissenschaftler bei Himmlers Ahnenerbe beschäftigt. Was hat er da gemacht? Welche Aufgaben hatte er?

    Hörisch: Das wird aktenmässig immer noch kräftig aufgearbeitet. Nordrhein-Westfalen hat da ein Forschungsprojekt gestartet, vergleichsweise großzügig ausgestattet. Er hat, das steht schon fest, eben wirklich bei diesem Amt Ahnenerbe Wissenschaftsplanung gemacht. Was soll werden - und was wurde auch faktisch - aus den Universitäten in den besetzten Gebieten? Juden raus, und verläßliche Nationalsozialisten rein, Kollaborateure rein. Das gilt etwa für Belgien und Niederlande, wo der SS-Mann Schneider sehr aktiv gewesen ist. Er hat aber auch später zum Beispiel medizinische Geräte bestellt für "Forschungsabteilungen" - Sie hören hoffentlich die vielen Anführungsstriche bei Forschungsabteilungen und Universitäten mit -, und das waren die medizinischen Geräte, mit denen auch Menschenversuche gemacht wurden. Er war also ein wirklich enger Himmler-Mitarbeiter und nicht irgendein - aber was hieße das schon? - 'irgendein' SS-Mann.

    Winkels: Wie konnte denn der totale Identitätswechsel überhaupt gelingen? Die Annahme eines anderen Namens, die Behauptung, der alte Schneider sei tot, die neue Promotion oder die behauptete Promotion, das Wieder-Karriere-Machen im Fach der Germanistik, wenn, wie Sie eben sagten, in den 50er Jahren die Germanistik sowieso von alten NS-Leuten beherrscht war? Man muss doch untereinander gewusst haben, wer da eigentlich dabei ist, das muss doch irgendwie raus gekommen sein?

    Hörisch: Herr Winkels, das ist wirklich ein Rätsel oder eben kein Rätsel. Es ist ausgeschlossen, dass einige es nicht gewusst haben. Der Doktorvater von Schwerte war Burger. Auch ein vergleichsweise bedeutender Germanist. "Dasein heißt eine Rolle spielen", sein vielleicht bekanntester Titel. Und der hat natürlich gewusst, wer es war. Er war selbst ein alter Nazi. Es kann nicht sein, dass Burger das nicht gewusst hatte. Schwerte machte dann Karriere in Aachen. In Aachen saß Arnold Gehlen. Der war auch im Ahnenerbe-Amt. Und der alte rechtsradikal denkende, aber ja nicht uninteressante Theoretiker Gehlen muss, das darf man unterstellen, gewusst haben, was für ein Mensch da nun Reformrektor ist. Also, das sind gespensterhafte Konstellationen, die man sich da ausdenken kann. Aber das Milieu hat geschwiegen.

    Winkels: Nun galt Gehlen - und gilt immer noch - als Rechter. Man achtet ihn hoch, aber er ist als Rechter bekannt. Auch seine Vergangenheit war bekannt. Das besondere, wenngleich nicht ganz außergewöhnliche bei Schneider-Schwerte ist, dass er als Linker bekannt war oder zumindest als Linksliberaler mit seiner Dissertation über Faust und das Faustische?

    Hörisch: Also die ist vermutlich gepfuscht gewesen. Die liegt bis heute in keiner Universätsbibliothek vor. Das war übrigens, um das gerade am Rande zu sagen, auch der Grund, warum man Schneider-Schwerte die Ehrendoktorenwürde und das Bundesverdienstkreuz wieder wegnehmen konnte. Nicht weil er SS-Mann gewesen ist und mit Himmler zusammengearbeitet hat, sondern weil er Urkundenfälschung machte. Sich für tot erklären ließ - das geht halt mit deutschem Beamtenrecht nicht zusammen. Er heiratete dann seine Witwe und dergleichen hübsche Pointen am Rande mehr.

    Winkels: Wie kam er dann zu einer linksliberalen Ideologie von einer ihm zu unterstellenden NS-Ideologie? War das reines Maskentum oder war's eine Verwandlung von der Sache her?

    Hörisch: Ja, das eben wurde diskutiert auf dem Kongress, von dem ich gerade komme ...

    Winkels: Sagen wir kurz, wie er heißt: Verwandlungszone. Dieser Kongress beschäftigte sich zwei Tage lang unter Anteilnahme von Anke Brunn, der Ministerin für Wissenschaft und Forschung in Nordrhein-Westfalen, dem ehemaligen Innenminister Schnoor, also sehr hochrangig, mit dem Thema Schneider-Schwerte.

    Hörisch: Ja, und da war eben dies, wenn man das so ein bisschen schematisieren will, die Diskussionslinie. Möglichkeit eins: genialer Rollenspieler. Er machte auch am laufenden Band Seminare zu Themen wie das Motiv des Identitätswechsels bei Stiller, Max Frisch, Biographie - ein Spiel, und dergleichen. Also einer, der die Maske erfolgreich durchhält. Opportunismusthese, man will zur Elite gehören. Egal, ob in alten NS- und SS-Zeiten, oder später - wenn der Wind dann eben in Reformrichtung weht, dann macht man da eben mit. Zweite Hypothese: Nein, er war SS-Mann, hat aber nach dem Totaldesaster einige basale intellektuelle Einsichten gehabt und hat wirklich eine andere Identität angenommen. Ich will nur mal erwähnen, dass er ja - ich hänge ein bisschen der zweiten These an - so allein da nicht steht. Denken Sie an Werner Höfer. Oder Waldheim, der Fall liegt ein bisschen anders, aber nicht, dann wird man UNO-Generalsekretär, nachdem man auf dem Balkankrieg kräftig mitgemacht hat. Oder Peter Grubbe, der ja als linksliberaler Publizist bekannt war, Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker. Grubbe hieß früher anders, nämlich Klaus Volkmann, und war in führender Position in den besetzen polnischen Gebieten. Hat nicht direkt mitorganisiert, aber als höchster Zivilbeamter da in seinem Distrikt natürlich mitgekriegt, dass massenhaft Juden wegtransportiert wurden. Grubbe wusste das schon, Klaus Volkmann wusste das. Wenn man ihn fragt, heute, sagt er, ich wollte das schlimmste verhindern - das sagen alle. Also mir kommt's darauf an zu sagen, der Typus von Schwerte ist gar nicht so singulär. Es gibt eben - das ist eines der Hauptprobleme bei dem Kongress gewesen - nicht bloß das alte Schema, die Neu-Konservativen, ich sag jetzt mal Globke, Filbinger, Kiesinger, das sind alte Nazis gewesen, sondern - und das ist das Irritierende und Diskussionsbedürftige - auch viele aus dem so genannten liberalen Lager hatten eine NS-Vergangenheit.

    Winkels: Im Fall Schneider-Schwerte geht es ja noch weiter. Denn für das Land Nordrhein-Westfalen hat er Aufgaben zugewiesen bekommen, später als Wissenschaftsbürokrat, die sehr eng an seinem Einsatzfeld für Himmler lagen. Eine bizarre Konstellation ... Vielleicht sagen Sie uns kurz, was er im Auftrag von NRW gemacht hat?

    Hörisch: Das ist in der Tat bizarr. Er wurde im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen, Beauftragter für die Kooperation zwischen den nordrhein-westfälischen und den niederländischen Hochschulen. Und das ist deshalb ein abgründiger Fall, weil er eben als alter SS-Mann Schneider für dasselbe Aufgabengebiet in denselben Städten zuständig war. Das heißt, er kreuzt in Leiden, er kreuzt in Groningen, er kreuzt in Amsterdam und so weiter auf und geht damit natürlich auch ein Risiko ein, dass irgendeiner sagt, das Gesicht habe ich doch schon mal gesehen. Sollte dieser freundliche Herr, der Karriere gemacht hat als Rektor nach seiner Emeritierung, noch an der deutsch-niederländischen Verständigung mitarbeitet, sollte das der alte SS-Mann sein? Die Antwort wäre gewesen, ja, er ist es.

    Winkels: Diese Ungeheuerlichkeit erklärt natürlich auch die hochrangige Besetzung dieses Kongresses, der zur Zeit in Düsseldorf läuft. Sie haben da selbst einen Vortrag gehalten, darin geht's um zwei andere Literaturwissenschaftler, Paul de Man und Hans-Robert Jauß. Hans-Robert Jauß steht eher für eine linke, hermeneutische, rezeptionsästhetische Theoriebildung, die in den 68er- und Nach-68er-Zeiten sehr wichtig war, Paul de Man für die Postmoderne, was in den 80er und 90er Jahren wichtig war. Man kann fast sagen, zwei paradigmatische Figuren mit zwei paradigmatischen Theorien, und siehe da, auch diese beiden Heroen des Fachs haben eine - man kann nicht unbedingt eine NS-Vergangenheit im Fall von Jauß sagen - aber eine komplizierte publizistische Vergangenheit. Sagen Sie uns doch kurz, wie diese aussah, und erklären Sie uns doch, wie gerade die Eckpfeiler dieses Fachs in diese seltsame Form der Verstrickung mit dem Unheil dieses Jahrhunderts geraten konnten?

    Hörisch: Ich wollte, ich könnte es erklären. Wenn man sagt, die Fälle sind so komplex, sagt man immer das richtige und sagt damit natürlich gar nichts. Aber ich will's zumindest ansatzweise versuchen. Paul de Man ist ja so etwas wie der wichtigste Vertreter der so genannten Dekonstruktion, die an den Ostküsten-Universitäten der USA ausgesprochen erfolgreich war. Dieses Milieu ist ganz gewiß richtig beschrieben, wenn man sagt, ein linksliberales Milieu, die wählen zu neunzig, fünfundneunzig Prozent Clinton und demokratisch oder - wenn es in den USA möglich wäre - linkere Parteien. Bei Jauß gilt ähnliches. De Man war Mitarbeiter einer Kolaborationszeitschrift und hat grauenhafte Artikel geschrieben, die deutlich antisemitische Impulse haben. Freilich auch abgründige Artikel. Aber die müssten wir jetzt ganz genau besprechen. Jauß war Mitglied der Waffen-SS und wurde dann einer, der die Philologien in Deutschland über sein eigenes Fach, über die Romanistik hinaus, ganz kräftig betrieben hat. Meine These - die kam insofern gut an, als sie lebhaft diskutiert wurde, aber nicht, dass ich damit die lieben Kollegen überzeugen konnte -, ist, dass es diese Biographien auch geben konnte, weil man die NS-Zeit als Modernisierungszeit begreifen konnte. Wir müssen uns einmal klar machen, eines der letzten politisch kulturellen Tabus, die es in der Bundesrepublik noch gibt, das ja viele der NS-Ziele in der Bundesrepublik in Erfüllung gegangen sind. Die Bundesrepublik war judenfrei. Die Bolschewisten waren jenseits der Mauer. Es gab keine große Arbeitslosigkeit mehr. Es gab überall Autobahnen. Kraft durch Freude-Tourismus war überall vorhanden. Es gab keine Streiks mehr. Es war eine stabile Republik, nicht mehr wie Weimarer Republikzeit. Also warum sollten nicht einige alte SS- und Nazi-Leute sagen: Ach Gott, es geht ja auch, ohne einen Weltkrieg anzuzetteln und ohne organisierten Massenmord zu machen. Wir können ja 90 Prozent unserer Ziele in der Bundesrepublik durchsetzen.

    Winkels: Das ist eine geradezu brutale These. Aber noch einmal die Frage: Gibt's eine besondere Anfälligkeit der Sphäre Literatur für politische Maskeraden, für Verstellungen und für historische Verdrängungen?

    Hörisch: Ach lieber Herr Winkels, Sie sind ja Literaturredakteur. Also ich denke, das gilt für Literaturwissenschaftler und für Literaten. In Viktor Klemperers viel gelesenen und diskutierten Tagebüchern steht drin, wenn dieser ganze Spuk vorbei sein sollte, ich würde allen Absolution erteilen, aber nicht den Intellektuellen und den Literaten, denn die finden noch für jede Perversion und für jede grotesk-brutale Pathologie eine geschichtsphilosophische Überhöhung. Die Literaten, die Intellektuellen, die Professoren würde ich aufhängen, schreibt Viktor Klemperer. Die Offiziere laufen lassen.

    Winkels: Das ist von einer Radikalität, die man Gott sei Dank inzwischen historisch verstehen darf. Wir dürfen uns in vergleichsweise beruhigten Zeiten aufs Aufklären und aufs Analysieren konzentrieren. Ich danke Ihnen, dass Sie uns dabei geholfen zu haben.

    Helmut König, Wolfgang Kuhlmann, Klaus Schwabe
    Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen
    Beck Verlag, 340 S., DM 24,-