Kann man ein Buch betreten? Man kann es aufschlagen, den Buchdeckel wie eine Tür öffnen, und schon öffnet sich das Motiv des Umschlags noch einmal, in Nancy Hüngers Erzählung "Halt dich fern". Das Berliner Gestalterduo Kraft plus Wiechmann hat einen wunderbaren Eingang gefunden, in das Prosadebüt der jungen Dichterin. Auf dem dunklen Buchdeckel leuchtet ein rundes Netz, eine Membran aus Linien, Strichen, Fasern, und das Bild wiederholt sich in Schwarz-Weiß, im Buch selbst. Dann fällt die Membran auseinander, auf der folgenden Seite, rückt an den Rand, und nur ein erster literarischer Eindruck führt ein in die Geschichte, ein kurzer Vorgeschmack auf den Text, ein Drittel der nächsten Seite, wie ein Auftakt, der zunächst Raum lässt, damit überhaupt etwas entstehen kann, bevor die Erzählung beginnt.
Und so findet der Leser, die Leserin in die Stimmung, mit der sich dieser Text nur entfaltet. Denn er ist eine lange, tastende Übung in der Brüchigkeit, in der Vorstellungskraft des Erzählens. Kaum eine Geschichte wird erzählt, als vielmehr in Zuständen und Bildern eine Geschichte suggeriert. Da gibt es die Ich-Erzählern, die von den Anderen berichtet, doch nur eine Figur namens Angela tatsächlich benennt. Fünf oder 15 seien sie, was spielt es für eine Rolle, schreibt die Autorin. Thematisch werden die Bilder fast durch Archetypen aufgeladen – da ist die Familie, das Dorf, die Heimat, die Kirche, der Krieg, der Osten und andere. Die Fragwürdigkeit der eigenen Herkunft beschrieb die in Erfurt lebende Dichterin bereits in ihrem ersten Lyrikband, "Aus blassen Federn Wirklichkeit". Woran entscheidet sich für sie, ob ein Thema wie das der Herkunft eher in Gedichten Gestalt gewinnt oder in Prosa?
"In gewisser Weise ist das, glaube ich, ein Lebensthema. Also, wahrscheinlich wird sich das so schnell nicht für mich erschöpfen. Zumindest nicht in allen Facetten, die mir wichtig sind. Allerdings ist es ein Unterschied, ob man sich sozusagen einem kleinen, abgezirkelten Bild verschreibt – und das versucht in einem Gedicht zu bearbeiten, mit aller nötigen Strenge –, oder ob man dem Ganzen inhaltlich mehr Luft gibt. Also diesmal gibt es ja auch ein erzählendes Subjekt und auch eine weitere Person bzw. mehrere Personen, die eine Rolle spielen. Und das braucht natürlich mehr Raum. Das ist in einem Gedicht schwer zu leisten."
Nancy Hünger hat Bildende Kunst studiert, und dieser Zugang von der Kunst zur Literatur prägt offenkundig ihr Schreiben. Die Vorliebe für Bilder, Momentaufnahmen, Zustände, Situationen; die Schärfe der Wahrnehmung im distanzierten Blick; das Erstaunen eines solchen Sehens, das die Wirklichkeit nicht fasst, sie fortwährend durchzogen scheint von Vorstellungen, Fantasien. Literarisch führt dieser Balanceakt in ebenso konzentrierte wie surrealistische Gewässer - keineswegs ausschweifend, immer verdichtet. Man möchte an Peter Weiss’ frühe Erzählungen denken – "Das Duell" insbesondere. Die Unmöglichkeit der Liebe, die Abgründigkeit des eigenen Verlangens, all das durchzieht auch den Text von Hünger. Und es gelingt ihr tatsächlich, den Klischees zu entkommen, die mit dieser Erzählhaltung heute, im weiten Abstand zu den fünfziger Jahren, einhergehen können. Dafür sorgt ihr spielerischer Umgang mit dem Versuchscharakter dieser Erzählung, immer wieder spinnt sie den Faden aus Möglichkeiten, Erwägungen, die sie als solche auch zeigt, Übungen, die erzählte Wirklichkeit werden. Dieser Charakter des "Was wäre wenn?" nimmt dem Abgründigen zugleich seine Schwere. Die Autorin meint selbst über dieses Offenlegen ihrer eigenen Erzählweise:
"Tatsächlich ist es, glaube ich, das Kernthema des Buches. Also für mich hat Weltbegreifen und Wahrnehmung immer mit Sprache zu tun. Es ist eine permanente Annäherung an die Wirklichkeit und das funktioniert nun mal über die Sprache. Insofern spielt diese poetologische Ebene - auch wenn ich es nicht als streng poetologisch bezeichnen würde – immer eine große Rolle, oder eine übergeordnete Rolle. Also diese permanente Reflexionsebene. Das sich selbst auch auf die Hände schauen, beim Schreiben, beim Arbeiten, und das ständige Zweifeln und Infragestellen spielt eine ganz wichtige Rolle. Und das fließt halt alles in den Text mit ein."
Erschienen ist ihr Buch in der noch jungen edition AZUR, einem kleinen Verlag in Dresden, der zunächst dem Jenaer Glaux Verlag angehörte und nun eigenständig auftritt. Helge Pfannenschmidt heißt ihr Verleger. Begonnen hat alles mit einem Gedichtband von Jan Volker Röhnert, und seitdem veröffentlicht Pfannenschmidt jährlich zwei, drei exquisite Bände, mit Lyrik, Erzählungen und Aphorismen. Ein Nischenverlag, könnte man meinen, doch einer, der sich mühelos in eine Reihe mit anderen inzwischen bekannten Verlagen stellen lässt, die sich mit genau diesem Fokus plus einer stets ausgewählten Gestaltung einen Namen gemacht haben, so wie kookbooks, weissbooks und andere. Die Liebe zur Literatur zeigt sich hier in einer vehementen Entscheidung für sie, gerade in Zeiten ihrer medialen Aufweichung, zwischen Event und Content. Helge Pfannenschmidt meint:
"Ich würde für mich sagen, dass das auch für viele meiner anderen Autoren zutrifft, dass glaube ich auch durch die Ferne zu diesen schnellen Umschlagplätzen der Meinung, dass eben auch dadurch konzentrierte Texte entstehen, und dass das Räume sind, die man sich heute sehr hart erkämpfen muss. Und ich glaube, das wird zu selten gesehen, also die Leute – klar, man erwartet heute, ein Autor muss sich selbst vermarkten, er muss dies machen –, aber man muss auch, denke ich, sehen, das Wichtigste, was er braucht, ist auch Ruhe zum Schreiben und Konzentration."
Die Bücher in der edition AZUR – und "Halt dich fern" von Nancy Hünger ist dafür ein sehr gutes Beispiel – lassen sich nicht einfach konsumieren. Sie bieten vielmehr eine Erholung vom Konsum, indem sie einladen zu einer Erfahrung, die man im besten Sinne mit Lesen verbindet: dem Gang in die Vielschichtigkeit der Bilder, der Vorstellungen, der Fragen und Aussichten. "Halt dich fern" ist insofern als Absage und Einladung zugleich zu verstehen – als Absage an die bloße Ökonomie der Aufmerksamkeit, und als Einladung zu einem Sehen auf Abstand, aus der Distanz, um überhaupt die Fragwürdigkeit des Wirklichen wieder in den Blick zu nehmen.
Nancy Hünger: Halt dich fern. Erzählung. edition AZUR, 84 Seiten, 19 Euro.
Und so findet der Leser, die Leserin in die Stimmung, mit der sich dieser Text nur entfaltet. Denn er ist eine lange, tastende Übung in der Brüchigkeit, in der Vorstellungskraft des Erzählens. Kaum eine Geschichte wird erzählt, als vielmehr in Zuständen und Bildern eine Geschichte suggeriert. Da gibt es die Ich-Erzählern, die von den Anderen berichtet, doch nur eine Figur namens Angela tatsächlich benennt. Fünf oder 15 seien sie, was spielt es für eine Rolle, schreibt die Autorin. Thematisch werden die Bilder fast durch Archetypen aufgeladen – da ist die Familie, das Dorf, die Heimat, die Kirche, der Krieg, der Osten und andere. Die Fragwürdigkeit der eigenen Herkunft beschrieb die in Erfurt lebende Dichterin bereits in ihrem ersten Lyrikband, "Aus blassen Federn Wirklichkeit". Woran entscheidet sich für sie, ob ein Thema wie das der Herkunft eher in Gedichten Gestalt gewinnt oder in Prosa?
"In gewisser Weise ist das, glaube ich, ein Lebensthema. Also, wahrscheinlich wird sich das so schnell nicht für mich erschöpfen. Zumindest nicht in allen Facetten, die mir wichtig sind. Allerdings ist es ein Unterschied, ob man sich sozusagen einem kleinen, abgezirkelten Bild verschreibt – und das versucht in einem Gedicht zu bearbeiten, mit aller nötigen Strenge –, oder ob man dem Ganzen inhaltlich mehr Luft gibt. Also diesmal gibt es ja auch ein erzählendes Subjekt und auch eine weitere Person bzw. mehrere Personen, die eine Rolle spielen. Und das braucht natürlich mehr Raum. Das ist in einem Gedicht schwer zu leisten."
Nancy Hünger hat Bildende Kunst studiert, und dieser Zugang von der Kunst zur Literatur prägt offenkundig ihr Schreiben. Die Vorliebe für Bilder, Momentaufnahmen, Zustände, Situationen; die Schärfe der Wahrnehmung im distanzierten Blick; das Erstaunen eines solchen Sehens, das die Wirklichkeit nicht fasst, sie fortwährend durchzogen scheint von Vorstellungen, Fantasien. Literarisch führt dieser Balanceakt in ebenso konzentrierte wie surrealistische Gewässer - keineswegs ausschweifend, immer verdichtet. Man möchte an Peter Weiss’ frühe Erzählungen denken – "Das Duell" insbesondere. Die Unmöglichkeit der Liebe, die Abgründigkeit des eigenen Verlangens, all das durchzieht auch den Text von Hünger. Und es gelingt ihr tatsächlich, den Klischees zu entkommen, die mit dieser Erzählhaltung heute, im weiten Abstand zu den fünfziger Jahren, einhergehen können. Dafür sorgt ihr spielerischer Umgang mit dem Versuchscharakter dieser Erzählung, immer wieder spinnt sie den Faden aus Möglichkeiten, Erwägungen, die sie als solche auch zeigt, Übungen, die erzählte Wirklichkeit werden. Dieser Charakter des "Was wäre wenn?" nimmt dem Abgründigen zugleich seine Schwere. Die Autorin meint selbst über dieses Offenlegen ihrer eigenen Erzählweise:
"Tatsächlich ist es, glaube ich, das Kernthema des Buches. Also für mich hat Weltbegreifen und Wahrnehmung immer mit Sprache zu tun. Es ist eine permanente Annäherung an die Wirklichkeit und das funktioniert nun mal über die Sprache. Insofern spielt diese poetologische Ebene - auch wenn ich es nicht als streng poetologisch bezeichnen würde – immer eine große Rolle, oder eine übergeordnete Rolle. Also diese permanente Reflexionsebene. Das sich selbst auch auf die Hände schauen, beim Schreiben, beim Arbeiten, und das ständige Zweifeln und Infragestellen spielt eine ganz wichtige Rolle. Und das fließt halt alles in den Text mit ein."
Erschienen ist ihr Buch in der noch jungen edition AZUR, einem kleinen Verlag in Dresden, der zunächst dem Jenaer Glaux Verlag angehörte und nun eigenständig auftritt. Helge Pfannenschmidt heißt ihr Verleger. Begonnen hat alles mit einem Gedichtband von Jan Volker Röhnert, und seitdem veröffentlicht Pfannenschmidt jährlich zwei, drei exquisite Bände, mit Lyrik, Erzählungen und Aphorismen. Ein Nischenverlag, könnte man meinen, doch einer, der sich mühelos in eine Reihe mit anderen inzwischen bekannten Verlagen stellen lässt, die sich mit genau diesem Fokus plus einer stets ausgewählten Gestaltung einen Namen gemacht haben, so wie kookbooks, weissbooks und andere. Die Liebe zur Literatur zeigt sich hier in einer vehementen Entscheidung für sie, gerade in Zeiten ihrer medialen Aufweichung, zwischen Event und Content. Helge Pfannenschmidt meint:
"Ich würde für mich sagen, dass das auch für viele meiner anderen Autoren zutrifft, dass glaube ich auch durch die Ferne zu diesen schnellen Umschlagplätzen der Meinung, dass eben auch dadurch konzentrierte Texte entstehen, und dass das Räume sind, die man sich heute sehr hart erkämpfen muss. Und ich glaube, das wird zu selten gesehen, also die Leute – klar, man erwartet heute, ein Autor muss sich selbst vermarkten, er muss dies machen –, aber man muss auch, denke ich, sehen, das Wichtigste, was er braucht, ist auch Ruhe zum Schreiben und Konzentration."
Die Bücher in der edition AZUR – und "Halt dich fern" von Nancy Hünger ist dafür ein sehr gutes Beispiel – lassen sich nicht einfach konsumieren. Sie bieten vielmehr eine Erholung vom Konsum, indem sie einladen zu einer Erfahrung, die man im besten Sinne mit Lesen verbindet: dem Gang in die Vielschichtigkeit der Bilder, der Vorstellungen, der Fragen und Aussichten. "Halt dich fern" ist insofern als Absage und Einladung zugleich zu verstehen – als Absage an die bloße Ökonomie der Aufmerksamkeit, und als Einladung zu einem Sehen auf Abstand, aus der Distanz, um überhaupt die Fragwürdigkeit des Wirklichen wieder in den Blick zu nehmen.
Nancy Hünger: Halt dich fern. Erzählung. edition AZUR, 84 Seiten, 19 Euro.