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Vier, fünf, sechs

Irgendwie wußte man es schon immer, aber als vor einigen Jahren der preisgekrönte Dokumentarfilm über eine Berliner Mordkommission im Fernsehen lief, war man doch entsetzt. Das Innenleben der Kripo ist von erschreckender Tristesse. Stundenlange Telefonierversuche mit tschechischen und polnischen Kollegen in radebrechendem Englisch, Büroarbeiten im Interieur der Fünfziger mit steinzeitlicher Technik, und als Krönung das Aufwärmen mehrerer Dosen Bohneneintopf mit identitätsstiftendem kollektiven Verzehr. Für einen Moment flackerte in der Runde so etwas wie Zuversicht auf, nicht nur den gesuchten Mörder eines russischen Antiquitätenhändlers zu finden, sondern vielleicht auch irgendwann die widrigen Umstände zu besiegen. Wie man aus der Zeitung weiß, hat sich seitdem wenig auf den Revieren und in den Kommissariaten getan, und Mordaufklärung bleibt eine Sisyphosarbeit: Ist ein Täter überführt, liegt die nächste Akte schon wieder auf dem Schreibtisch.

Florian Felix Weyh |
    Pieke Biermann muß diesen Film nicht kennen, auch wenn ein fast identisches Eintopfritual in ihrem neuen Roman "Vier, fünf, sechs" auftaucht. Aber der Film beglaubigt ihren präzisen Realismus, ihr detailverliebtes Echtheitsempfinden, das selbst für den soziologisch orientieren deutschen Krimi ungewöhnlich ist. Vorsichtshalber steht auch schon gar nicht mehr "Kriminalroman" auf dem Cover, denn obgleich die Heldin - Erste Hauptkommissarin Karin Lietze - zum vierten Mal in Erscheinung tritt, gibt es keine herausragende Protagonistin. Es wird kaum geschossen, wenig spitzfindig kombiniert und die große Action-Nummer, die den Roman eröffnet, erweist sich als Feuerwehrübung. Starker Tobak für ein Genre, das Geschwindigkeit, Abwechslung und Explosion für dramaturgische Treibsätze hält, denn obendrein ist "Vier, fünf, sechs" im Gegensatz zu seinem filmischen Gegenüber "Eins, zwei, drei" auch noch langsam, ja mäandriert wie ein träger Fluß die Erzählzeit entlang, bis zum Schluß der auslösende Kriminalfall dem ordnungsgemäßen Ende zugeführt wird, wobei die Mordkommission auf eine falsche Fährte hereinfällt. Ein besonders perfides Ende, weil es besonders realistisch ist. Zwar können die Ermittler die Akten schließen, aber das organisierte Verbrechen setzt sein unfröhliches Treiben fort.

    Nein, Pieke Biermanns neuster Krimi ist kein Krimi, sondern der letzte und originellste Ausläufer des proletarischen Romans. Jetzt, wo Ideologen ihre Aktien aus dem Genre abgezogen haben, kann man seinen Nutzwert neu überprüfen, und siehe: Zur Beschreibung der proletarischen Metropole Berlin eignet es sich vorzüglich, vor allem, wenn man es so brillant beherrscht wie Pieke Biermann. Denn "Vier, fünf, sechs" ist zweierlei: Roman über eine Maschinenwelt und Roman über die kleinen Leute. Die wenigen großen darin werden ausnahmslos durch die verzerrte Brille der kleinen betrachtet, und der Witz - wen wundert's? - hilft stets den Unterlegenen.

    Maschinenwelten gibt es deren drei, und sie überschneiden sich durch den Tod eines leitenden Polizeidirektors am Gepäckband des Berliner Flughafens Tempelhof. Plötzlich stößt die Maschine Flughafen mit der bürokratischen Maschine Polizei zusammen, alles vor dem Hintergrund der zentralen Maschine Politik, die wiederum - mehr oder minder sichtbar - von der Maschine "Organisiertes Verbrechen" gesteuert wird. Daß Pieke Biermann den kleinsten Flughafen der Hauptstadt als Schauplatz erwählt - den sie souverän bis in die letzten Kellergeschosse überblickt - hat natürlich etwas mit dessen Überschuß an Geschichte zu tun. Hier tummelten sich die Nazis, deren Gigantomanie die Zeiten überdauerte; hier flogen die Amerikaner mit ihren Rosinenbombern ein, von hier aus traten DDR-Flüchtlinge ihre Reise in den Westen an. Der heimliche Held Tempelhof hat Charme und Aura, und was immer Pieke Biermann in ihrer Recherchierwut ausgegraben und geschickt mit dem Kleine-Leute-Panorama verwoben hat, trägt mehr Spannung als die eigentliche Polizeiarbeit. Aber darauf kommt es bei diesem Emanzipationsversuch vom Kriminalmilieu auch gar nicht an. Literatur muß nicht realistisch sein, und ein Autor kann alles seinem Kopf und nichts seinen Augen und Ohren verdanken, aber wenn man sich auf Weltwahrnehmung und -schilderung einläßt, dann sollte man schon gut sein, um der Welt gerecht zu werden. Pieke Biermann ist gut, eine Komponistin der Großstadtsinfonie, eine Erlauscherin von schrillen und hohlen, skurrilen und sanften, komischen und traurigen Tönen. Daß sie dem Ohr mehr verdankt als dem Auge, zeigt sich im manchmal schwer zu bewältigenden Schriftbild ihrer lautsprachlichen Dialoge; man muß sich einlesen, bevor der Hörfilm funktioniert. Dieser verkümmerte Inlandsflughafen Tempelhof ohne jeden internationalen Flair - er wispert an allen Ecken und Enden Geschichten. "Was immer Sie in diesem Roman gelesen haben, es könnte auch nicht von mir sein", bekennt die Autorin im Nachwort. Als wäre Wirklichkeitsaneignung ein Delikt.