Nein, Pieke Biermanns neuster Krimi ist kein Krimi, sondern der letzte und originellste Ausläufer des proletarischen Romans. Jetzt, wo Ideologen ihre Aktien aus dem Genre abgezogen haben, kann man seinen Nutzwert neu überprüfen, und siehe: Zur Beschreibung der proletarischen Metropole Berlin eignet es sich vorzüglich, vor allem, wenn man es so brillant beherrscht wie Pieke Biermann. Denn "Vier, fünf, sechs" ist zweierlei: Roman über eine Maschinenwelt und Roman über die kleinen Leute. Die wenigen großen darin werden ausnahmslos durch die verzerrte Brille der kleinen betrachtet, und der Witz - wen wundert's? - hilft stets den Unterlegenen.
Maschinenwelten gibt es deren drei, und sie überschneiden sich durch den Tod eines leitenden Polizeidirektors am Gepäckband des Berliner Flughafens Tempelhof. Plötzlich stößt die Maschine Flughafen mit der bürokratischen Maschine Polizei zusammen, alles vor dem Hintergrund der zentralen Maschine Politik, die wiederum - mehr oder minder sichtbar - von der Maschine "Organisiertes Verbrechen" gesteuert wird. Daß Pieke Biermann den kleinsten Flughafen der Hauptstadt als Schauplatz erwählt - den sie souverän bis in die letzten Kellergeschosse überblickt - hat natürlich etwas mit dessen Überschuß an Geschichte zu tun. Hier tummelten sich die Nazis, deren Gigantomanie die Zeiten überdauerte; hier flogen die Amerikaner mit ihren Rosinenbombern ein, von hier aus traten DDR-Flüchtlinge ihre Reise in den Westen an. Der heimliche Held Tempelhof hat Charme und Aura, und was immer Pieke Biermann in ihrer Recherchierwut ausgegraben und geschickt mit dem Kleine-Leute-Panorama verwoben hat, trägt mehr Spannung als die eigentliche Polizeiarbeit. Aber darauf kommt es bei diesem Emanzipationsversuch vom Kriminalmilieu auch gar nicht an. Literatur muß nicht realistisch sein, und ein Autor kann alles seinem Kopf und nichts seinen Augen und Ohren verdanken, aber wenn man sich auf Weltwahrnehmung und -schilderung einläßt, dann sollte man schon gut sein, um der Welt gerecht zu werden. Pieke Biermann ist gut, eine Komponistin der Großstadtsinfonie, eine Erlauscherin von schrillen und hohlen, skurrilen und sanften, komischen und traurigen Tönen. Daß sie dem Ohr mehr verdankt als dem Auge, zeigt sich im manchmal schwer zu bewältigenden Schriftbild ihrer lautsprachlichen Dialoge; man muß sich einlesen, bevor der Hörfilm funktioniert. Dieser verkümmerte Inlandsflughafen Tempelhof ohne jeden internationalen Flair - er wispert an allen Ecken und Enden Geschichten. "Was immer Sie in diesem Roman gelesen haben, es könnte auch nicht von mir sein", bekennt die Autorin im Nachwort. Als wäre Wirklichkeitsaneignung ein Delikt.