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Vier Jahre Papst Franziskus
"Seine Kritik galt dem Gewissen der hohen Kleriker"

Erny Gillen war ein Top-Manager in der katholischen Kirche, vor zwei Jahren hat er seine Ämter niedergelegt. Ein Franziskus-Verehrer ist er geblieben. Dessen Kritik an Klerikern hält er für berechtigt, sagte Gillen im Deutschlandfunk.

Erny Gillen im Gespräch mit Christiane Florin |
    Papst Franziskus lächelnd bei einer Audienz auf dem Petersplatz im Vatikan.
    Papst Franziskus bei einer Audienz auf dem Petersplatz im Vatikan. (picture alliance / dpa / Fabio Frustaci / Eidon)
    Christiane Florin: Herr Gillen, Sie waren bis 2015 Generalvikar von Luxemburg und europäischer Caritas-Chef, Sie haben Bücher über Reformen in der katholischen Kirche geschrieben. Ich sagte, Sie waren - Sie sind es nicht mehr. Glauben Sie nicht mehr daran, dass die katholische Kirche reformierbar ist unter Papst Franziskus?
    Erny Gillen: Doch. Ich bin überzeugt, dass gerade Papst Franziskus dabei ist, diese Kirche zu reformieren. Er ist ein wirklicher Weltveränderer - aber ein Weltveränderer der besonderen Art, weil er die Menschen verändert.
    Florin: Warum sind Sie dann zurückgetreten?
    Gillen: Weil ich glaube, dass es wichtig ist, in Amtsfunktionen zurückzutreten, wenn die Arbeit gemacht ist.
    Florin: Sie haben eine 'Papst Franziskus-Formel' ausgemacht. Könnten Sie die kurz erklären?
    Gillen: Ja, diese Papst Franziskus-Formel, die steht in all seinen Schreiben und sie ist eine Handlungsformel. Viele Menschen haben Ideen, was sie tun wollen, aber sie kommen nicht in die Handlung. Die Formel heißt "Die Zeit ist mehr wert als der Raum". Damit möchte er sagen, wenn du nicht voran kommst in deiner Entscheidung, dann gehe den Weg des Prozesses, gehe den Weg der Zeit und halte dich nicht fest an den Räumen der Macht, in denen du augenblicklich bist. Die zweite Formel heißt dann "Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt". Viele Menschen kommen nicht in die Handlung, weil sie Angst vor dem Konflikt haben. Da sagt der Papst sehr freimütig: Ist doch kein Problem - bring den Konflikt in die Einheit hinein. Mach die Einheit farbiger mit deinem Konflikt. Die Einheit hält das aus.
    Erny Gillen, ehemaliger Generalvikar von Luxemburg. Außerdem war er europäischer Caritas-Chef und hat mehrere Bücher über Reformen in der katholischen Kirche geschrieben.
    Erny Gillen, ehemaliger Generalvikar von Luxemburg. (Lex Kleren)
    Der dritte Satz heißt dann "Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee". Auch hier gibt es ein wunderschönes Beispiel in der Enzyklika Laudato Si. Hier sagt er: Die Menschen glauben, haben die Idee, dass das Wachstum unendlich sei. Deshalb machen sie die Natur, die Wirklichkeit kaputt - sie sehen die Wirklichkeit nicht. Der vierte Satz der Formel heißt "Das Ganze ist dem Teil übergeordnet". An und für sich eine einfache Sache, aber wenn man genau hinschaut, das Ganze geht immer über den Einzelnen, über den jeweiligen Menschen hinaus und öffnet ihn für die Zukunft. Und genau das - glaube ich - ist die große, große Stärke von Papst Franziskus, dass er an eine Zukunft glaubt, die uns entgegen kommt.
    Nicht reden, machen
    Florin: Er ist vier Jahre im Amt. Der Stil hat sich geändert, um das zu erkennen, muss man nicht katholisch sein. Aber was hat sich substantiell verändert? Homosexuelle dürfen immer noch nicht kirchlich heiraten, Frauen werden immer noch nicht zu Priesterinnen geweiht. Es gibt ein paar Ausnahmen für wiederverheiratete Geschiedene. Aber gemessen an den großen Formeln ist diese Bilanz eher bescheiden.
    Gillen: Ja und nein. Der Papst hat den Blick, mit dem wir das Amt sehen, verändert, weil er seinen Blick verändert hat. Wir haben heute eine völlig andere Perspektive.
    Florin: Welche Perspektive?
    Gillen: Die Perspektive der Armen. Die Perspektive der Obdachlosen. Die Perspektive der Flüchtlinge. Die erste Reise, die der Papst gemacht hat, ging nach Lampedusa. Er hat Toiletten eingerichtet auf dem Petersplatz für Obdachlose. Das heißt, er hat schon radikal unseren Blick und unsere Perspektive verändert. Und er hat gehandelt. Ich glaube, das ist der Unterschied auch zu den vorherigen Pontifikaten: Dass dieser Mann nicht nur ankündigt, was andere tun sollten, sondern selber mit seiner Kurie das dann auch umsetzt. Wer hätte gedacht, dass ein Bischof bei der Kurie zuständig für Obdachlose ist?
    Florin: Er hat in einem Interview mit der "Zeit", das vor wenigen Tagen erschienen ist, gesagt, "Fürchtet euch nicht". Er hat gesagt: "Ich habe keine Angst." Hatten seine unmittelbaren Vorgänger Angst?
    Gillen: Papst Franziskus hat diesen wunderschönen Satz, der heißt: "Zeit ist der Bote Gottes". Er hat keine Angst vor der Zukunft, weil er eben glaubt, dass die Zukunft von Gott her auf ihn zukommt. Sein Vorgänger, gerade Papst Benedikt, glaube ich, ist von seiner Person her und von seiner Geschichte her, von Tübingen angefangen, eine von Angst besetzte Person. Er hält fest an bestimmten Glaubenssätzen und denkt, dass wenn die Sätze feststehen, wenn das Geländer an der Treppe fest ist, die Menschen die Treppe auch nehmen würden. Es geht um die Treppe, nicht um das Treppengeländer. Und das zeigt dieser Papst: Er geht die Treppe hoch und er geht die Treppe runter. Er hat keine Angst, runterzufallen, sagt, ich bin ein Sünder. Aber er sagt gleichzeitig, ich bin ein Gläubiger.
    Appell an das Kleriker-Gewissen
    Florin: Franziskus ist unbestritten ein hochrangiger Kleriker. Aber einer, der die Kleriker ständig kritisiert. Hat das bei Ihnen etwas verändert, als Sie selbst Kleriker wurden?
    Gillen: Die Art und Weise, wie Papst Franziskus mit dem Klerus ins Gericht manchmal geht, hat mich zum Teil auch tief bewegt.
    Florin: Fühlten Sie sich angesprochen von der Kritik? Gemeint?
    Gillen: Ja, ich fühlte mich durchaus angesprochen und konnte auch das Priesteramt, sag ich mal, in Frieden niederlegen, weil ich weiß, dass ich ewig Priester bleiben werde, aber nicht in den Amtsstrukturen der Kirche handeln muss.
    Florin: Sie sind Professor für Ethik und haben ein Unternehmen, das sich Moral Factory nennt. Ist es aus Sicht eines Mannes, der sich mit Führung auskennt, klug, wenn das Oberhaupt der katholischen Kirche seine Mitarbeiter öffentlich kritisiert?
    Gillen: Also in dieser Kurienansprache, die er Weihnachten 2013 gehalten hat, hat er ja sehr deutlich von den Kurienkrankheiten geredet und die hohen Kleriker kritisiert. Damit wollte er aber nicht erreichen, dass die sich entmutigten, sondern seine Kritik galt deren Gewissen, um zu sagen, hey, schaut mal, wer seid ihr eigentlich? Wozu seid ihr da? Und geht auch in die Aktionen, macht das wahr, wozu ihr hier seid! Der Zweck der Kirche ist halt die Verkündigung des Evangeliums und der Zweck der Kirche ist nicht die Kirche selber. Eine Kirche, die sich selber zum Zweck erklärt, steht sich und den Menschen im Weg.
    Florin: Und haben die das beherzigt? Sind die in sich gegangen? Haben die ihr Gewissen geprüft?
    Gillen: Einige durchaus. Ich konnte öfters da in Rom in der Kurie umeinander sein, gerade als Präsident der Caritas Europa und Vize-Präsident der Caritas Internationalis. Aber bei den Menschen der Kurie hat sich ganz deutlich etwas geändert. Sie sind in ihrem Blick Papst Franziskus gefolgt. Sie sind in ihrer Perspektive Papst Franziskus gefolgt. Wo sie zögern, ist in ihrem Handeln. Und das ist im Augenblick die Schwierigkeit, dass die Kurie nicht in Gang kommt mit dieser Reform, die da angekündigt wurde, die immer noch in kleinen Schritten vorangeht. Aber da wär ich bei dem Papst: Es geht nicht ohne die Menschen.
    "Ein ausgetretener Priester ist ja kein Unmensch"
    Florin: Warum sollte denn einen ganz normalen Katholiken diese Kurienreformen interessieren? Was hat ein Mensch von dieser Kurienreform?
    Gillen: Die Kurie vertritt sozusagen die Autorität der Kirche und insofern kann die Kurie dem einfachen Gläubigen im Wege stehen oder ihm den Weg bereiten. Gerade wenn wir "Amoris laetitia" lesen oder andere Dokumente stand die Kurie, standen die Päpste vielen Gewissen von vielen Gläubigen im Weg.
    Florin: Indem sie immer gesagt haben: "Nein, das geht nicht, die Schuld liegt bei dir", in diesem Sinne?
    Gillen: Genau. Das heißt, man hat die Wirklichkeit der Menschen nicht ernst genommen, sondern hat sich mit den Ideen beschäftigt und versucht, die Ideen noch schärfer zu machen, noch präziser zu machen oder dann Ausnahmen auf der Ideenebene einzufügen anstatt zu sagen, nein, Gott spricht durch die Wirklichkeit dieser Menschen. Ein geschiedener Mensch ist ja kein Unmensch. Ein ausgetretener Priester ist ja kein Unmensch. Ich denke, das sind diese wichtigen Botschaften, die der Papst subkutan sendet, indem er sagt, bleibe Mensch, werde Christ.
    "Eine Art Anfänger"
    Florin: Wie schätzen Sie die Kräfteverhältnisse in der Kirche ein? Wer hat da die Mehrheit: die Unterstützer des Papstes oder die doch recht lauten Gegner?
    Gillen: Ich glaube, dass kirchengeschichtlich mit der Gründung von diesem Kardinalskollegium, dem K8 oder dem heutigen K9, schon Kirchengeschichte geschrieben wurde, die man nicht mehr zurückdrehen kann. Damit kommt ein Außenblick in die Kurie hinein und die Kurie wird von innen her nicht mehr so sein lassen, wie sie heute ist. Ich glaube auch, dass es keine Kirche geben wird nach Franziskus, die das nicht aufnimmt, was er jetzt über seine Person, aber auch über seinen tiefen Glauben, über den Frieden, den er ausstrahlt mit in die Kirchengeschichte, in die Tradition einschreibt. Er ist der Papst im Augenblick. Der Einzige.
    Florin: Im Interview lacht er über die Plakate, die in Rom von seinen Kritikern, ja von seinen Gegnern, geklebt worden sind. "Führen mit lachen" - geht das oder macht sich ein Papst selber lächerlich?
    Gillen: Ich glaube nicht. Er wurde bezeichnet vor seinem Exil in Córdoba als der Mann, der nie gelächelt hat als er Jesuiten, Notizenmeister war oder Provinzial der Jesuiten. Dann wurde er strafversetzt nach Córdoba und dort hat er sich selber gewandelt. Diesen Wandel konnte man an seinem Gesicht sehen, als er dann geholt wurde vom Kardinal aus Buenos Aires. Da kam er lächelnd, lachend wieder zurück. Er konnte auf die Menschen zugehen. Man kann nicht mit ernstem Gesicht führen, man kann nur mit gewinnendem Lächeln führen. Und das versucht dieser Papst, er versucht es täglich neu und er ist eine Art Anfänger. Ich glaube, das ist das geniale bei ihm, dass er jeden Tag neu anfängt. Ein Leader hat keine andere Wahl, als jeden Tag neu zu beginnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.