Aus Anlass des hundertsten Geburtstags von Jean Améry ein Essay von Astrid Nettling zum Thema "Vom Leben nach der Folter". Die Autorin ist freie Hörfunkjournalistin und Verfasserin des im Herder-Verlag erschienenen Buches "Kleine philosophische Lebenskunst".
"Meine liebe Mizzi, mit großer Freude habe ich gestern Deinen Brief über ein jüdisches Komitee erhalten. Ja, ja, ich bin es schon, Hans Mayer, den Ihr in Antwerpen gekannt habt. Nur die Grüße an Gina kann ich nicht mehr bestellen, denn sie ist tot. Sie ist mir gestorben, mein Mädchen, ohne deportiert gewesen zu sein, hier ihrem Herzfehler erlegen, in der unmittelbaren Folge meiner Verhaftung. Sie war der ganze Gewinn meines Lebens gewesen, das einzige, was mir nicht fehlschlug."
Schreibt im Herbst 1945 Hans Mayer, der sich zehn Jahre später Jean Améry nennen wird, an die nach New York emigrierte Freundin. Im April ’44 war seine Frau Regine an Herzversagen gestorben, er selbst im Januar ’44, fünf Monate nach seiner Verhaftung, nach Auschwitz verbracht worden. Von den 25.437 aus Belgien deportierten Juden ist er einer der 615 Überlebenden, die im Frühjahr 1945 nach Belgien zurückkehren.
"Mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt."
Als "Ausweis" die Häftlingsnummer 172.364, die bleibend auf seinem linken Unterarm eintätowiert ist. Eine bloße Erfassungsnummer - kein Name, keine Herkunft, keine Zukunft, wie es die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes vorgesehen hatte. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, als er sich nach "642 Tagen in deutschen KZ-Lagern" in seiner von der Gestapo leergeräumten Brüsseler Wohnung wiederfindet,
"noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte."
"Weiterleben - aber wie?" lautet die Kardinalfrage, vor die sich der ins belgische Exil zurückverschlagene österreichische Jude unweigerlich gestellt sieht und deren existenzielle Tragweite auszumessen der Essayist und Schriftsteller seine verbleibende Lebens- und Denkkraft aufbieten wird.
"In Träumen gibt es manchmal so etwas: Man befindet sich in einem fremden Land. Die Sprache der Bewohner ist ebenso unverständlich wie ihre Sitten. Was immer man anstellt, es geht schlecht aus. Man fühlt dumpf und unter Stöhnen, daß man so unmöglich weiterleben kann - und erwacht. Es war ein Albtraum gottseidank. Wir sind nicht aus solchem Stoff wie dem zu Träumen. Es verlangt uns nach Wachheit und einer Sicherheit, die wenig zu schaffen hat mit spießbürgerlicher Sekurität. Die Frage 'Weiterleben – aber wie?' ist darum keine von dieser Epoche uns gestellte. Sie ist die Grundfrage unseres Daseins."
Vor allem wird sie die Grundfrage desjenigen, dem der Albtraum traumatische Wirklichkeit geworden war, dem die selbstverständliche, nahezu traumwandlerische Sicherheit, mit der sich ein jeder von uns im Wachzustand des Normalen in seiner Welt und Wirklichkeit bewegt, gründlich oder abgründlich abhanden kam. Einem solchen Menschen ist nichts mehr selbstverständlich - weder die Umwelt, noch der Mitmensch, am wenigsten ein Selbst, das sich von selbst versteht. Etwa als Hans Chaim Mayer, geboren am 31. Oktober 1912 in Wien, dort und in seiner Umgebung als guter Österreicher mit "weißen Wadenstrümpfen und ledernen Kniehosen" aufgewachsen.
Biografische Selbstverständlichkeiten, auf die das Selbst im Normalfall sicher bauen kann - sie werden zu bloßen Schimären, wird diesem Selbst das jedem Menschen selbstverständlich eingeräumte Anrecht, darauf zu bauen, von einem Tag auf den anderen von Um- und Mitwelt entzogen. "Ist es schon aus? Sicher. Er weiß es, und bleibt dennoch in Wien - bis man ihn jagen wird wie einen Hasen."
An die zwanzig Meldezettel finden sich aus der letzten Phase seiner Wiener Zeit - "abgemeldet am 31.12.1938" ist auf dem letzten Meldezettel vermerkt. Unter der Rubrik: "ausgezogen nach", steht ein Fragezeichen in einer ansonsten leeren Spalte. Denn jener Hans Chaim Mayer, im Jahr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich in eine ebenso ungesicherte wie albtraumhafte Wirklichkeit ausgezogen, existiert fortan nicht nur in Wien nicht mehr weiter.
"Ein Österreicher starb im Dezember 1938. Er mag ruhen in seinem Unfrieden",
notiert der zum französisch klingenden Jean Améry Gewordene viele Jahre später.
"Nichts unterscheidet mich von den Leuten, unter denen ich meine Tage verbringe, als eine schwankende, manchmal stärker, manchmal schwächer fühlbare Unruhe. Doch ist es eine soziale Unruhe, keine metaphysische. Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft: denn sie und nur sie hat mir die existenzielle Gleichgewichtsstörung verursacht, gegen die ich aufrechten Gang durchzusetzen versuche. Sie und nur sie hat mir das Weltvertrauen genommen. Die metaphysische Bedrängnis ist eine elegante Sorge von höchstem Standing. Sie bleibt Sache derer, die da immer wussten, wer und was sie sind, warum sie es sind, und dass sie es bleiben dürfen."
"Nur die Gesellschaft" – ein "nur" allerdings von ausschlaggebender Tragweite, denn "wer und was" ein Mensch ist, konstituiert sich für Améry nirgendwo sonst als dort. Nicht in der Selbstständigkeit eines "solus ipse", eines für sich und an sich bestehenden, weltlosen Selbst, sondern nur in der Welt und in Anerkennung durch die anderen. Wer er ist, sein kann oder sein darf, erfährt der Mensch einzig in diesem allemal prekären Anerkennungsspiel der Menschen untereinander, in das er mit Beginn seines Daseins eintritt, ohne Gewähr, wie es für sein weiteres In der Welt-sein ausgehen wird.
"Die Hölle, das sind die anderen", hatte Jean-Paul Sartre zugespitzt - Améry weiß dies zu bestätigen, aber ebenso weiß er, dass wir uns als Menschen immer auch in der Erwartung und im Vertrauen darauf begegnen,
"dass der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt: dass er meinen physischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert".
"Weltvertrauen" nennt es Améry, diesen Kredit, den wir uns als soziale Wesen gleichsam unbesehen auf Treu und Glauben wechselseitig einräumen. Von Vertrauen, einem "schwer zu fassenden, aber grundsätzlichen Vertrauen in das Menschliche aller Menschen", hat auch Hannah Arendt gesprochen, ohne das menschliches Miteinandersein schlechterdings nicht möglich ist.
Worte mit Bedacht gewählt angesichts des verheerenden Zivilisationsbruchs, der scheinbar unverbrüchliche Sozialkontrakte außer Kraft gesetzt und das grundsätzliche Vertrauen in das Menschliche aller Menschen in seinen Grundfesten beschädigt hatte. "Weiterleben – aber wie?" heißt vor diesem Hintergrund: "Weiterleben – nach Auschwitz". Es bedeutet, weiterzuleben nach etwas, "was nie hätte geschehen dürfen und womit wir alle nicht mehr fertig werden", wie Hannah Arendt formuliert hat.
Auch Jean Améry wird damit nicht fertig werden. Nicht mit dem Verlust von Weltvertrauen, nicht mit dem Albtraum, der ihm zur traumatischen Wirklichkeit wurde, nicht mit "dieser elenden Odyssee" durch "Tortur und Lagerhaft", deren Erlebnislast er zu tragen hat. "Weiterleben – aber wie?" heißt deshalb für ihn, den Überlebenden von Auschwitz, mit der "Grundkondition des Opferseins" weiterleben zu müssen, und bedeutet für ihn als Autor nach Auschwitz den Versuch, diese Grundkondition mit Hilfe seines Schreibens, so weit es ihm möglich ist, zu bewältigen.
"Bewältigungsversuche eines Überwältigten" lautet der Untertitel seines wohl bedeutendsten Essaybands "Jenseits von Schuld und Sühne". Zur selben Zeit, als in Frankfurt der erste Auschwitz-Prozess stattfindet, und fast zwanzig Jahre nach seiner Rückkehr und nach langem Schweigen über das, was ihm widerfuhr, beginnt Améry im Alter von 52 Jahren mit der Niederschrift dessen, was er zunächst sein "rekonstruiertes Auschwitz-Tagebuch" nennt.
Daraus wird schließlich der Band "Jenseits von Schuld und Sühne" mit den fünf Essays: "An den Grenzen des Geistes", "Die Tortur", "Wie viel Heimat braucht der Mensch?", "Ressentiments" sowie "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein". Es sind Essays im strengen und eigentlichen Sinn des Wortes - Denk- und Schreibversuche, die in eigener Sache und mit eigener Stimme sprechen. Im Vorwort zur ersten Auflage, die 1966 erschien, schreibt er:
"Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, musste ich erfahren, dass es einfach unmöglich war. Wo das 'Ich' durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Meditation hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung, oder wenn man so will, zu einer Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz."
So gibt Améry keine Beschreibung der KZ-Wirklichkeit, wie er sie in Auschwitz, Buchenwald und zuletzt Bergen-Belsen erlebt hat, keine Schilderung seiner "642 Tage in deutschen KZ-Lagern". Dies im Unterschied zu seinen Schicksalsgefährten, zu Primo Levi, der mit ihm zeitgleich in Auschwitz war, oder zu Robert Antelme, der als Résistance-Kämpfer in Gandersheim und Buchenwald interniert war.
Beide Schriftsteller hatten 1947, unmittelbar nach ihrer Rückkehr, mit der Niederschrift ihrer Erlebnisse begonnen, Levi in seinem Buch "Ist das ein Mensch?", Antelme in "Das Menschengeschlecht". Dem will Améry zwanzig Jahre danach nicht noch eine weitere Schilderung hinzustellen. In einem Prosafragment lässt er seinen Protagonisten sagen:
"Er dachte selten und nur ungern an seine Kriegs- und Lagererlebnisse, nicht so sehr, weil sie schmerzvolle Erinnerungen gewesen wären - waren doch solche sein hauptsächlicher seelischer Bestand - sondern deshalb, weil diese Lebensstrecke ihm überhaupt nicht mehr zugehörte."
Denn seine Geschichte wie auch die der anderen war unterdessen durch Film, Fernsehen, durch Berichte und Buchpublikationen der breiten Öffentlichkeit bekannt - war zu einer Art "Massenschicksal" geworden. Warum also das Ganze noch einmal erzählen? Statt der Narration wählt Améry daher die Konfession, das persönliche Bekenntnis, wie ihm geschah. Ein Bekenntnis jenseits der Frage von "Schuld und Sühne", vielmehr aufgeschrieben als Zeugnis und als ein Befund, "wie es bestellt ist um einen Überwältigten", um einen, dem das Überwältigt- bzw. Opfersein zur Grundkondition seines weiteren In-der-Welt-seins geworden war.
Die dafür grundlegende Erfahrung macht Améry nicht an seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern fest, sie liegt für ihn in der Erfahrung der Folter begründet - einer Erfahrung, die unauslöschlich seinem Selbst eingebrannt ist:
"Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Ich baumle noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden."
Im Juli ’43 war Améry als Mitglied einer deutschsprachigen, der belgischen Widerstandsbewegung angeschlossenen Gruppe verhaftet worden, die sich um antinazistische Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht kümmerte. Nach einem Verhör im Gestapo-Hauptquartier in Brüssel wird er dem unter SS-Verwaltung stehenden Auffanglager in der Festung Breendonk bei Antwerpen übergeben.
"Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur."
Geschah jenes "fürchterlichste Ereignis", bei dem das Selbst bereits beim ersten Schlag alles Weltvertrauen einbüßt, das heißt sein Vertrauen darauf, dass der andere als Mitmensch es in seinem Sein unversehrt lässt.
"Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs."
Dass diese Grenzen durch den zum Gegenmenschen mutierten anderen so brachial verletzt werden können, dass das eigene Selbst zu einer nur mehr schreienden, schmerzenden Masse "Fleisch" im wahrsten Sinne ent-selbstet wird, dies, so Améry, macht den "Charakter indelebilis" der Folter aus, deren Mal der Gefolterte in seinem weiteren Leben nicht mehr loswird.
Zurück bleibt ein "Staunen über die Existenz des grenzenlos sich behauptenden anderen und Staunen über das, was man selber werden kann: Fleisch und Tod." Zurück bleibt die Fassungslosigkeit des Opfers, dass alles, "was man seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewusstsein oder seine Identität nennen mag", zunichte wird, wenn es in den "Schultergelenken kracht und splittert".
"Dass das Leben fragil ist, diese Binsenwahrheit hat er immer gekannt, und dass man es enden kann, wie es bei Shakespeare heißt, ‚mit einer Nadel bloß’. Dass man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen kann und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren."
Als der "ehemalige Sprachlehrer Hans Mayer", so stand es auf dem Aufnahmeformular, war er in Breendonk gefoltert worden. Als er nach dreimonatiger Einzelhaft im November ’43 in ein Sammellager verlegt wird, erkundigt sich die Militärverwaltung bei der Sicherheitspolizei, ob gegen diesen ehemaligen Sprachlehrer ein Betätigungsverbot zu erlassen sei. Die lakonische Antwort der SS lautet:
"Er ist Jude und wird als solcher von hier abgeschoben."
Nicht länger ein Individuum ist er nun als Jude zum Massensterben in einer staatlich eingerichteten Tötungsmaschinerie bestimmt. Unter der Nummer 379 wird er im Januar ’44 in einem 655 Personen umfassenden Transport nach Auschwitz gebracht. Werk und Wirklichkeit eines politischen Systems, das, so Améry, "die Herrschaft des Gegenmenschen nicht nur praktiziert, wie andere rote und weiße Terror-Regime auch, sondern ausdrücklich als Prinzip statuiert" hatte.
Deshalb macht für ihn die Folter, das heißt das Macht- und Herrschaftsverhältnis zwischen Peiniger und Opfer, dessen innere Gesetzmäßigkeit sich vollzieht als der "schrankenlose Triumph des Überlebenden über den, der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird", die eigentliche Essenz dieses politischen Systems aus. "Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus, aber sie war seine Apotheose", deren höchst reale Wirkungsstätte die Todeslager von Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen, Treblinka oder Majdanek bildeten.
"Staunend hatte der Gefolterte erlebt, dass es in dieser Welt den anderen als den absoluten Herrscher geben kann, wobei Herrschaft sich enthüllte als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht."
Anders als Primo Levi, der in seinem Buch beschreibt, wie ihm einige Verszeilen aus "Dantes Göttlicher Komödie" inmitten der KZ-Hölle Trost zu spenden vermochten, bekennt Améry, dass ihm solch geistiger Zuspruch versagt geblieben ist. Nicht bloß, dass Hölderlin ohnehin den anderen, den Gegenmenschen, und nicht ihm, dem "jüdischen Intellektuellen mit deutschem Bildungshintergrund", gehörte, obsiegt bei ihm die Erfahrung, dass die
"ganze Frage der Wirkung des Geistes dort nicht mehr gestellt werden kann, wo das Subjekt unmittelbar vor dem Hunger- und Erschöpfungstod stehend, nicht nur entgeistet, sondern im eigentlichen Wortsinn entmenscht ist."
Er verlässt das Lager nicht allein mit der Gewissheit, dort die Asche seiner geistigen Welt und bisherigen Identität zurückzulassen, sondern ebenso mit dem Wissen um die Grenzen des Geistes selbst, das heißt mit dem desillusionierten Bewusstsein, dass dessen Sinnentwürfe angesichts einer bodenlos nihilistischen Wirklichkeit Schall und Rauch sind – trügerische Selbstmystifikationen des Geistes.
"Ein paar Lagerwochen haben genügt, um diese Entzauberung zu bewirken."
Ein Gefühl, das sich nach seiner Rückkehr aus Krieg und Lagerhaft noch einmal verschärft und auch mit den Jahren seines längst etablierten Exils in Belgien nicht verblassen wird. "Wieviel Heimat braucht der Mensch?", fragt er in seinem gleichnamigen Essay. Heimat – ein gleichfalls verbranntes Wort, zu dem sich der Heimatlose jedoch bekennt, zumal der Heimatverlust für ihn, "den das Dritte Reich vertrieb", eine Wunde bleibt, die mit der Zeit keineswegs vernarbt, eine "schleichende Krankheit, die mit den Jahren schlimmer wird".
Jenseits von Nostalgie und Sentimentalität gilt auch ihm Heimat als jene erste Welt, in die wir als Kind hineinwachsen und deren vielfältige Ingredienzien den unverwechselbaren Fond ausmachen, aus dem wir noch im Erwachsenenalter schöpfen. "Was wäre Joyce ohne Dublin", fragt er in seinem Essay, "Joseph Roth ohne Wien, Proust ohne Illiers?" Den Bodensatz und die Grundbedingung dafür aber bildet für ihn: "Sicherheit". Sicherheit, die im Vertrauen darauf gründet, dass Heimat Heimat bleibt, darauf, dass Heimat sich nicht in "Feindheimat" verwandelt, in der, so Améry, "keine Hand sich erhob, ihn zu schützen".
Wird einem auf diese Weise der sichere Grund und Boden entzogen, geht auch die Heimat, jene erste Welt, mit zugrunde. Wo eine intakt gebliebene Heimat – seien es die Weißdornbäume in Illiers, sei es die in Lindenblütentee getunkte Madeleine – es Proust erlaubt hatte, die verlorene Zeit seiner Kindheit und Jugend wiederzufinden, da findet Améry sie nicht nur nicht wieder, seine "Recherche du temps perdu" führt zu einer Zerstörung des Verlorenen. Zur "stückweisen Demontierung" dessen, was er glaubte, sein Eigen nennen zu können, von dem er jedoch lernen musste, dass es ihm nicht zukommt. In Antwerpen
"erzählten wir von heimischen Bergen und Flüssen, wischten uns verstohlen die Augen. Was für ein Seelenschwindel! Es waren Reisen nach Hause mit gefälschten Papieren und gestohlenen Ahnentafeln."
Denn Heimat existierte nicht mehr, und die Heimatsehnsucht überlagerte sich mit Heimathass, der zugleich "das Stück eigenen Lebens austilgte, das mit ihr verbunden war."
"Der Heimathass tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte. Ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand. Therapie hätte nur die geschichtliche Praxis sein können, ich meine: die deutsche Revolution und mit ihr das kraftvoll sich ausdrückende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr. Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit, als schließlich die nationalsozialistische Macht von außen gebrochen wurde."
Améry resümiert bündig:
"Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen."
Und wenn diese Gesellschaft wiederum ihren Widerruf nicht zurücknimmt, bleibt dieser oder jener der von ihr Hinausgestoßene und seine Heimkehr etwas, was eigentlich nicht vorgesehen war - auf beklemmende Weise bezeugt durch die Häftlingsnummer auf dem linken Unterarm. "Mir ist nicht wohl in diesem friedlichen, schönen, von tüchtigen und modernen Menschen bewohnten Lande", heißt es in seinem Essay "Ressentiments".
Gemeint ist Deutschland, durch das er während der 50er-Jahre einige Male reist. Ihm ist nicht wohl in dieser "mustergültigen Sauberkeit", unwohl ebenso unter den aufgeräumten Landesbewohnern, mehr als unwohl bei Gesprächen wie dem mit einem süddeutschen Geschäftsmann, der ihn davon zu überzeugen sucht, dass es Rassenhass in seinem Land nicht mehr gebe. Das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach; als Beweis nannte er die großzügige Wiedergutmachungspolitik der Regierung.
Améry muss erfahren, dass abermals die Gesellschaft dabei ist, ihm und seiner Geschichte allen Grund und Boden zu entziehen. Man will von der "elenden Odyssee" durch "Tortur und Lagerhaft" im Grunde nichts wissen – "Objektive Wissenschaftlichkeit hat aus der Beobachtung von uns Opfern in schöner Detachiertheit bereits den Begriff 'KZ-Syndrom' gewonnen" –, ebenso ist die gesellschaftliche Nachkriegswirklichkeit längst auf kollektives Vergessen des Gewesenen ein- und ausgerichtet.
Wo also das deutsche Volk dem jüdischen nichts mehr nachträgt, da, so Améry, scheint er als Jude und Opfer an "geschichtlich schon abgeurteiltem Hass" festzuhalten, wenn er bekundet, dass er zur Minderheit derer gehört, die da nachtragen – die "hartnäckig Deutschland seine zwölf Jahre Hitler" nachtragen und ihr Ressentiment weder loswerden können, noch wollen. Eine Seelenlage von miserabler Reputation, wie er weiß, die nicht erst seit Friedrich Nietzsches "Genealogie der Moral" als das Kennzeichen unterlegener Opfernaturen gilt, denen, wie Nietzsche schreibt, "die Tat versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten."
Nun - welche Ungeheuerlichkeiten menschliche Tat begehen kann, hatte Améry erleben müssen, hatte den "schrankenlosen Triumph des Überlebenden über den, der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird" erfahren. Vor diesem Hintergrund aber kommt für ihn dem Ressentiment der Hinausgestoßenen und Unterlegenen moralische Überlegenheit zu, da es sowohl auf der Unabgegoltenheit von Leid und Qual beharrt wie auch hartnäckig Einspruch erhebt gegen deren flagrantes Vergessen durch die Gesellschaft. Kein Plädoyer für Rache oder Hass richtet sich sein Essay vielmehr als ein Appell an die Gesellschaft, diesem Vergessen zu widerstehen und des Vergangenen eingedenk zu sein. Améry formuliert:
"Gestachelt von den Sporen unseres Ressentiments würde das deutsche Volk empfindlich dafür bleiben, dass es ein Stück seiner nationalen Geschichte nicht vor der Zeit neutralisieren lassen darf, sondern es zu integrieren hat".
Dass es, mit anderen Worten, die Zeit des Nationalsozialismus als sein "negatives Eigentum" in sich aufzuheben hat – "aufheben" im doppelten Wortsinn verstanden als bewahren wie auf eine andere, geschichtlich höhere Stufe heben und es dadurch außer Kraft setzen. Die Bedingung wiederum dafür, dass sich die Gesellschaft schließlich doch dazu bereit fände, jenen Widerruf von damals zurückzunehmen und den von ihr Hinausgestoßenen eine wirkliche Rückkehr zu gestatten. "Das Erlebnis der Verfolgung war im […] Grunde das einer äußersten Einsamkeit", bekennt Améry, "um die Erlösung aus dem noch immer andauernden Verlassensein von damals geht es mir".
"Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung. Die Forderung, erhoben vom deutschen, dem eigentlich siegreichen und von der Zeit schon wieder rehabilitierten Volke, hätte ein ungeheures Gewicht, schwer genug, dass sie damit auch schon erfüllt wäre. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, wozu das Volk einst nicht die Kraft oder nicht den Willen hatte und was später im politischen Mächtespiel als nicht mehr bestandsnötig hat erscheinen müssen: die Auslöschung der Schande."
"Bewältigungsversuche eines Überwältigten" hatte Améry seinen Essayband untertitelt. Denn etwas anderes als Versuche zu erkunden und zu bezeugen, "wie es bestellt ist um einen Überwältigten", waren für ihn ohnehin weder denkbar noch lebbar. Ein Erfolg für ihn als Autor werden sie dennoch, als der Band im Frühjahr 1966 erscheint. Bereits im Sommer folgt eine zweite Auflage. Noch im Mai hieß es in einem Brief, dass ihm nichts "Schlimmeres passieren könnte, als zum Berufsjuden beziehungsweise Berufs-KZler gemacht zu werden".
Trotzdem – Améry missachtet den Erfolg keineswegs, verschafft dieser ihm doch einen tragfähigen Boden für seine schriftstellerische Existenz. Von Brüssel aus, wo er mit seiner zweiten Ehefrau Maria Leitner lebt, reist er in den nächsten Jahren regelmäßig in die Bundesrepublik zu Vorträgen, Lesungen, Diskussionen und Tagungen. Immer wieder jedoch meldet sich das durch die Lagerhaft beschädigte Herz, melden sich Unsicherheit und soziale Unruhe, als drohe stets erneuter Widerruf. Ebenso wiederholen sich Nervenkrisen, Depressionen, "Lebens- und Todesangst vereinigten sich zu einem dumpfen Gefühl des Überdrusses, Kampfesmüdigkeit", 1974 ein erster Suizidversuch.
Erfolg und wachsende Anerkennung können nicht verhindern, dass überhand nimmt, was er in seinem 1976 veröffentlichten Essay "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" mit dem Wort "Todesneigung" bezeichnet hat. "Es ist ein langer Prozess des Sich-Hinneigens, der Annäherung an die Erde, ein Aufsummieren vieler Ziffern von Demütigungen, auch Abneigung dem Leben und dem Sein gegenüber." Denn in der Welt wieder heimisch zu werden, gelingt dem aus ihr Hinausgestoßenen nicht. "Weiterleben – aber wie?" wird mehr und mehr zur Frage "Weiterleben – warum?"
Während einer Lesereise findet sie am 17. Oktober 1978 in einem Hotel in Salzburg ihre definitive Antwort. "Es ist nicht leicht, aber dennoch die Erlösung", heißt es im Abschiedsbrief an seine Frau. Seine Urne – bittere Ironie der Geschichte – wird in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in Wien beigesetzt. Auf dem Grabstein ist neben dem Namen sowie den Geburts- und Sterbedaten seine Häftlingsnummer 172364 eingraviert. Ein biografisches Kürzel, das alles enthält. In seinem Essay "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein" hatte Jean Améry geschrieben:
"Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten."
"Meine liebe Mizzi, mit großer Freude habe ich gestern Deinen Brief über ein jüdisches Komitee erhalten. Ja, ja, ich bin es schon, Hans Mayer, den Ihr in Antwerpen gekannt habt. Nur die Grüße an Gina kann ich nicht mehr bestellen, denn sie ist tot. Sie ist mir gestorben, mein Mädchen, ohne deportiert gewesen zu sein, hier ihrem Herzfehler erlegen, in der unmittelbaren Folge meiner Verhaftung. Sie war der ganze Gewinn meines Lebens gewesen, das einzige, was mir nicht fehlschlug."
Schreibt im Herbst 1945 Hans Mayer, der sich zehn Jahre später Jean Améry nennen wird, an die nach New York emigrierte Freundin. Im April ’44 war seine Frau Regine an Herzversagen gestorben, er selbst im Januar ’44, fünf Monate nach seiner Verhaftung, nach Auschwitz verbracht worden. Von den 25.437 aus Belgien deportierten Juden ist er einer der 615 Überlebenden, die im Frühjahr 1945 nach Belgien zurückkehren.
"Mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt."
Als "Ausweis" die Häftlingsnummer 172.364, die bleibend auf seinem linken Unterarm eintätowiert ist. Eine bloße Erfassungsnummer - kein Name, keine Herkunft, keine Zukunft, wie es die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes vorgesehen hatte. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, als er sich nach "642 Tagen in deutschen KZ-Lagern" in seiner von der Gestapo leergeräumten Brüsseler Wohnung wiederfindet,
"noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte."
"Weiterleben - aber wie?" lautet die Kardinalfrage, vor die sich der ins belgische Exil zurückverschlagene österreichische Jude unweigerlich gestellt sieht und deren existenzielle Tragweite auszumessen der Essayist und Schriftsteller seine verbleibende Lebens- und Denkkraft aufbieten wird.
"In Träumen gibt es manchmal so etwas: Man befindet sich in einem fremden Land. Die Sprache der Bewohner ist ebenso unverständlich wie ihre Sitten. Was immer man anstellt, es geht schlecht aus. Man fühlt dumpf und unter Stöhnen, daß man so unmöglich weiterleben kann - und erwacht. Es war ein Albtraum gottseidank. Wir sind nicht aus solchem Stoff wie dem zu Träumen. Es verlangt uns nach Wachheit und einer Sicherheit, die wenig zu schaffen hat mit spießbürgerlicher Sekurität. Die Frage 'Weiterleben – aber wie?' ist darum keine von dieser Epoche uns gestellte. Sie ist die Grundfrage unseres Daseins."
Vor allem wird sie die Grundfrage desjenigen, dem der Albtraum traumatische Wirklichkeit geworden war, dem die selbstverständliche, nahezu traumwandlerische Sicherheit, mit der sich ein jeder von uns im Wachzustand des Normalen in seiner Welt und Wirklichkeit bewegt, gründlich oder abgründlich abhanden kam. Einem solchen Menschen ist nichts mehr selbstverständlich - weder die Umwelt, noch der Mitmensch, am wenigsten ein Selbst, das sich von selbst versteht. Etwa als Hans Chaim Mayer, geboren am 31. Oktober 1912 in Wien, dort und in seiner Umgebung als guter Österreicher mit "weißen Wadenstrümpfen und ledernen Kniehosen" aufgewachsen.
Biografische Selbstverständlichkeiten, auf die das Selbst im Normalfall sicher bauen kann - sie werden zu bloßen Schimären, wird diesem Selbst das jedem Menschen selbstverständlich eingeräumte Anrecht, darauf zu bauen, von einem Tag auf den anderen von Um- und Mitwelt entzogen. "Ist es schon aus? Sicher. Er weiß es, und bleibt dennoch in Wien - bis man ihn jagen wird wie einen Hasen."
An die zwanzig Meldezettel finden sich aus der letzten Phase seiner Wiener Zeit - "abgemeldet am 31.12.1938" ist auf dem letzten Meldezettel vermerkt. Unter der Rubrik: "ausgezogen nach", steht ein Fragezeichen in einer ansonsten leeren Spalte. Denn jener Hans Chaim Mayer, im Jahr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich in eine ebenso ungesicherte wie albtraumhafte Wirklichkeit ausgezogen, existiert fortan nicht nur in Wien nicht mehr weiter.
"Ein Österreicher starb im Dezember 1938. Er mag ruhen in seinem Unfrieden",
notiert der zum französisch klingenden Jean Améry Gewordene viele Jahre später.
"Nichts unterscheidet mich von den Leuten, unter denen ich meine Tage verbringe, als eine schwankende, manchmal stärker, manchmal schwächer fühlbare Unruhe. Doch ist es eine soziale Unruhe, keine metaphysische. Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft: denn sie und nur sie hat mir die existenzielle Gleichgewichtsstörung verursacht, gegen die ich aufrechten Gang durchzusetzen versuche. Sie und nur sie hat mir das Weltvertrauen genommen. Die metaphysische Bedrängnis ist eine elegante Sorge von höchstem Standing. Sie bleibt Sache derer, die da immer wussten, wer und was sie sind, warum sie es sind, und dass sie es bleiben dürfen."
"Nur die Gesellschaft" – ein "nur" allerdings von ausschlaggebender Tragweite, denn "wer und was" ein Mensch ist, konstituiert sich für Améry nirgendwo sonst als dort. Nicht in der Selbstständigkeit eines "solus ipse", eines für sich und an sich bestehenden, weltlosen Selbst, sondern nur in der Welt und in Anerkennung durch die anderen. Wer er ist, sein kann oder sein darf, erfährt der Mensch einzig in diesem allemal prekären Anerkennungsspiel der Menschen untereinander, in das er mit Beginn seines Daseins eintritt, ohne Gewähr, wie es für sein weiteres In der Welt-sein ausgehen wird.
"Die Hölle, das sind die anderen", hatte Jean-Paul Sartre zugespitzt - Améry weiß dies zu bestätigen, aber ebenso weiß er, dass wir uns als Menschen immer auch in der Erwartung und im Vertrauen darauf begegnen,
"dass der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt: dass er meinen physischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert".
"Weltvertrauen" nennt es Améry, diesen Kredit, den wir uns als soziale Wesen gleichsam unbesehen auf Treu und Glauben wechselseitig einräumen. Von Vertrauen, einem "schwer zu fassenden, aber grundsätzlichen Vertrauen in das Menschliche aller Menschen", hat auch Hannah Arendt gesprochen, ohne das menschliches Miteinandersein schlechterdings nicht möglich ist.
Worte mit Bedacht gewählt angesichts des verheerenden Zivilisationsbruchs, der scheinbar unverbrüchliche Sozialkontrakte außer Kraft gesetzt und das grundsätzliche Vertrauen in das Menschliche aller Menschen in seinen Grundfesten beschädigt hatte. "Weiterleben – aber wie?" heißt vor diesem Hintergrund: "Weiterleben – nach Auschwitz". Es bedeutet, weiterzuleben nach etwas, "was nie hätte geschehen dürfen und womit wir alle nicht mehr fertig werden", wie Hannah Arendt formuliert hat.
Auch Jean Améry wird damit nicht fertig werden. Nicht mit dem Verlust von Weltvertrauen, nicht mit dem Albtraum, der ihm zur traumatischen Wirklichkeit wurde, nicht mit "dieser elenden Odyssee" durch "Tortur und Lagerhaft", deren Erlebnislast er zu tragen hat. "Weiterleben – aber wie?" heißt deshalb für ihn, den Überlebenden von Auschwitz, mit der "Grundkondition des Opferseins" weiterleben zu müssen, und bedeutet für ihn als Autor nach Auschwitz den Versuch, diese Grundkondition mit Hilfe seines Schreibens, so weit es ihm möglich ist, zu bewältigen.
"Bewältigungsversuche eines Überwältigten" lautet der Untertitel seines wohl bedeutendsten Essaybands "Jenseits von Schuld und Sühne". Zur selben Zeit, als in Frankfurt der erste Auschwitz-Prozess stattfindet, und fast zwanzig Jahre nach seiner Rückkehr und nach langem Schweigen über das, was ihm widerfuhr, beginnt Améry im Alter von 52 Jahren mit der Niederschrift dessen, was er zunächst sein "rekonstruiertes Auschwitz-Tagebuch" nennt.
Daraus wird schließlich der Band "Jenseits von Schuld und Sühne" mit den fünf Essays: "An den Grenzen des Geistes", "Die Tortur", "Wie viel Heimat braucht der Mensch?", "Ressentiments" sowie "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein". Es sind Essays im strengen und eigentlichen Sinn des Wortes - Denk- und Schreibversuche, die in eigener Sache und mit eigener Stimme sprechen. Im Vorwort zur ersten Auflage, die 1966 erschien, schreibt er:
"Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, musste ich erfahren, dass es einfach unmöglich war. Wo das 'Ich' durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Meditation hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung, oder wenn man so will, zu einer Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz."
So gibt Améry keine Beschreibung der KZ-Wirklichkeit, wie er sie in Auschwitz, Buchenwald und zuletzt Bergen-Belsen erlebt hat, keine Schilderung seiner "642 Tage in deutschen KZ-Lagern". Dies im Unterschied zu seinen Schicksalsgefährten, zu Primo Levi, der mit ihm zeitgleich in Auschwitz war, oder zu Robert Antelme, der als Résistance-Kämpfer in Gandersheim und Buchenwald interniert war.
Beide Schriftsteller hatten 1947, unmittelbar nach ihrer Rückkehr, mit der Niederschrift ihrer Erlebnisse begonnen, Levi in seinem Buch "Ist das ein Mensch?", Antelme in "Das Menschengeschlecht". Dem will Améry zwanzig Jahre danach nicht noch eine weitere Schilderung hinzustellen. In einem Prosafragment lässt er seinen Protagonisten sagen:
"Er dachte selten und nur ungern an seine Kriegs- und Lagererlebnisse, nicht so sehr, weil sie schmerzvolle Erinnerungen gewesen wären - waren doch solche sein hauptsächlicher seelischer Bestand - sondern deshalb, weil diese Lebensstrecke ihm überhaupt nicht mehr zugehörte."
Denn seine Geschichte wie auch die der anderen war unterdessen durch Film, Fernsehen, durch Berichte und Buchpublikationen der breiten Öffentlichkeit bekannt - war zu einer Art "Massenschicksal" geworden. Warum also das Ganze noch einmal erzählen? Statt der Narration wählt Améry daher die Konfession, das persönliche Bekenntnis, wie ihm geschah. Ein Bekenntnis jenseits der Frage von "Schuld und Sühne", vielmehr aufgeschrieben als Zeugnis und als ein Befund, "wie es bestellt ist um einen Überwältigten", um einen, dem das Überwältigt- bzw. Opfersein zur Grundkondition seines weiteren In-der-Welt-seins geworden war.
Die dafür grundlegende Erfahrung macht Améry nicht an seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern fest, sie liegt für ihn in der Erfahrung der Folter begründet - einer Erfahrung, die unauslöschlich seinem Selbst eingebrannt ist:
"Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Ich baumle noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden."
Im Juli ’43 war Améry als Mitglied einer deutschsprachigen, der belgischen Widerstandsbewegung angeschlossenen Gruppe verhaftet worden, die sich um antinazistische Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht kümmerte. Nach einem Verhör im Gestapo-Hauptquartier in Brüssel wird er dem unter SS-Verwaltung stehenden Auffanglager in der Festung Breendonk bei Antwerpen übergeben.
"Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur."
Geschah jenes "fürchterlichste Ereignis", bei dem das Selbst bereits beim ersten Schlag alles Weltvertrauen einbüßt, das heißt sein Vertrauen darauf, dass der andere als Mitmensch es in seinem Sein unversehrt lässt.
"Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs."
Dass diese Grenzen durch den zum Gegenmenschen mutierten anderen so brachial verletzt werden können, dass das eigene Selbst zu einer nur mehr schreienden, schmerzenden Masse "Fleisch" im wahrsten Sinne ent-selbstet wird, dies, so Améry, macht den "Charakter indelebilis" der Folter aus, deren Mal der Gefolterte in seinem weiteren Leben nicht mehr loswird.
Zurück bleibt ein "Staunen über die Existenz des grenzenlos sich behauptenden anderen und Staunen über das, was man selber werden kann: Fleisch und Tod." Zurück bleibt die Fassungslosigkeit des Opfers, dass alles, "was man seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewusstsein oder seine Identität nennen mag", zunichte wird, wenn es in den "Schultergelenken kracht und splittert".
"Dass das Leben fragil ist, diese Binsenwahrheit hat er immer gekannt, und dass man es enden kann, wie es bei Shakespeare heißt, ‚mit einer Nadel bloß’. Dass man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen kann und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren."
Als der "ehemalige Sprachlehrer Hans Mayer", so stand es auf dem Aufnahmeformular, war er in Breendonk gefoltert worden. Als er nach dreimonatiger Einzelhaft im November ’43 in ein Sammellager verlegt wird, erkundigt sich die Militärverwaltung bei der Sicherheitspolizei, ob gegen diesen ehemaligen Sprachlehrer ein Betätigungsverbot zu erlassen sei. Die lakonische Antwort der SS lautet:
"Er ist Jude und wird als solcher von hier abgeschoben."
Nicht länger ein Individuum ist er nun als Jude zum Massensterben in einer staatlich eingerichteten Tötungsmaschinerie bestimmt. Unter der Nummer 379 wird er im Januar ’44 in einem 655 Personen umfassenden Transport nach Auschwitz gebracht. Werk und Wirklichkeit eines politischen Systems, das, so Améry, "die Herrschaft des Gegenmenschen nicht nur praktiziert, wie andere rote und weiße Terror-Regime auch, sondern ausdrücklich als Prinzip statuiert" hatte.
Deshalb macht für ihn die Folter, das heißt das Macht- und Herrschaftsverhältnis zwischen Peiniger und Opfer, dessen innere Gesetzmäßigkeit sich vollzieht als der "schrankenlose Triumph des Überlebenden über den, der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird", die eigentliche Essenz dieses politischen Systems aus. "Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus, aber sie war seine Apotheose", deren höchst reale Wirkungsstätte die Todeslager von Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen, Treblinka oder Majdanek bildeten.
"Staunend hatte der Gefolterte erlebt, dass es in dieser Welt den anderen als den absoluten Herrscher geben kann, wobei Herrschaft sich enthüllte als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht."
Anders als Primo Levi, der in seinem Buch beschreibt, wie ihm einige Verszeilen aus "Dantes Göttlicher Komödie" inmitten der KZ-Hölle Trost zu spenden vermochten, bekennt Améry, dass ihm solch geistiger Zuspruch versagt geblieben ist. Nicht bloß, dass Hölderlin ohnehin den anderen, den Gegenmenschen, und nicht ihm, dem "jüdischen Intellektuellen mit deutschem Bildungshintergrund", gehörte, obsiegt bei ihm die Erfahrung, dass die
"ganze Frage der Wirkung des Geistes dort nicht mehr gestellt werden kann, wo das Subjekt unmittelbar vor dem Hunger- und Erschöpfungstod stehend, nicht nur entgeistet, sondern im eigentlichen Wortsinn entmenscht ist."
Er verlässt das Lager nicht allein mit der Gewissheit, dort die Asche seiner geistigen Welt und bisherigen Identität zurückzulassen, sondern ebenso mit dem Wissen um die Grenzen des Geistes selbst, das heißt mit dem desillusionierten Bewusstsein, dass dessen Sinnentwürfe angesichts einer bodenlos nihilistischen Wirklichkeit Schall und Rauch sind – trügerische Selbstmystifikationen des Geistes.
"Ein paar Lagerwochen haben genügt, um diese Entzauberung zu bewirken."
Ein Gefühl, das sich nach seiner Rückkehr aus Krieg und Lagerhaft noch einmal verschärft und auch mit den Jahren seines längst etablierten Exils in Belgien nicht verblassen wird. "Wieviel Heimat braucht der Mensch?", fragt er in seinem gleichnamigen Essay. Heimat – ein gleichfalls verbranntes Wort, zu dem sich der Heimatlose jedoch bekennt, zumal der Heimatverlust für ihn, "den das Dritte Reich vertrieb", eine Wunde bleibt, die mit der Zeit keineswegs vernarbt, eine "schleichende Krankheit, die mit den Jahren schlimmer wird".
Jenseits von Nostalgie und Sentimentalität gilt auch ihm Heimat als jene erste Welt, in die wir als Kind hineinwachsen und deren vielfältige Ingredienzien den unverwechselbaren Fond ausmachen, aus dem wir noch im Erwachsenenalter schöpfen. "Was wäre Joyce ohne Dublin", fragt er in seinem Essay, "Joseph Roth ohne Wien, Proust ohne Illiers?" Den Bodensatz und die Grundbedingung dafür aber bildet für ihn: "Sicherheit". Sicherheit, die im Vertrauen darauf gründet, dass Heimat Heimat bleibt, darauf, dass Heimat sich nicht in "Feindheimat" verwandelt, in der, so Améry, "keine Hand sich erhob, ihn zu schützen".
Wird einem auf diese Weise der sichere Grund und Boden entzogen, geht auch die Heimat, jene erste Welt, mit zugrunde. Wo eine intakt gebliebene Heimat – seien es die Weißdornbäume in Illiers, sei es die in Lindenblütentee getunkte Madeleine – es Proust erlaubt hatte, die verlorene Zeit seiner Kindheit und Jugend wiederzufinden, da findet Améry sie nicht nur nicht wieder, seine "Recherche du temps perdu" führt zu einer Zerstörung des Verlorenen. Zur "stückweisen Demontierung" dessen, was er glaubte, sein Eigen nennen zu können, von dem er jedoch lernen musste, dass es ihm nicht zukommt. In Antwerpen
"erzählten wir von heimischen Bergen und Flüssen, wischten uns verstohlen die Augen. Was für ein Seelenschwindel! Es waren Reisen nach Hause mit gefälschten Papieren und gestohlenen Ahnentafeln."
Denn Heimat existierte nicht mehr, und die Heimatsehnsucht überlagerte sich mit Heimathass, der zugleich "das Stück eigenen Lebens austilgte, das mit ihr verbunden war."
"Der Heimathass tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte. Ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand. Therapie hätte nur die geschichtliche Praxis sein können, ich meine: die deutsche Revolution und mit ihr das kraftvoll sich ausdrückende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr. Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit, als schließlich die nationalsozialistische Macht von außen gebrochen wurde."
Améry resümiert bündig:
"Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen."
Und wenn diese Gesellschaft wiederum ihren Widerruf nicht zurücknimmt, bleibt dieser oder jener der von ihr Hinausgestoßene und seine Heimkehr etwas, was eigentlich nicht vorgesehen war - auf beklemmende Weise bezeugt durch die Häftlingsnummer auf dem linken Unterarm. "Mir ist nicht wohl in diesem friedlichen, schönen, von tüchtigen und modernen Menschen bewohnten Lande", heißt es in seinem Essay "Ressentiments".
Gemeint ist Deutschland, durch das er während der 50er-Jahre einige Male reist. Ihm ist nicht wohl in dieser "mustergültigen Sauberkeit", unwohl ebenso unter den aufgeräumten Landesbewohnern, mehr als unwohl bei Gesprächen wie dem mit einem süddeutschen Geschäftsmann, der ihn davon zu überzeugen sucht, dass es Rassenhass in seinem Land nicht mehr gebe. Das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach; als Beweis nannte er die großzügige Wiedergutmachungspolitik der Regierung.
Améry muss erfahren, dass abermals die Gesellschaft dabei ist, ihm und seiner Geschichte allen Grund und Boden zu entziehen. Man will von der "elenden Odyssee" durch "Tortur und Lagerhaft" im Grunde nichts wissen – "Objektive Wissenschaftlichkeit hat aus der Beobachtung von uns Opfern in schöner Detachiertheit bereits den Begriff 'KZ-Syndrom' gewonnen" –, ebenso ist die gesellschaftliche Nachkriegswirklichkeit längst auf kollektives Vergessen des Gewesenen ein- und ausgerichtet.
Wo also das deutsche Volk dem jüdischen nichts mehr nachträgt, da, so Améry, scheint er als Jude und Opfer an "geschichtlich schon abgeurteiltem Hass" festzuhalten, wenn er bekundet, dass er zur Minderheit derer gehört, die da nachtragen – die "hartnäckig Deutschland seine zwölf Jahre Hitler" nachtragen und ihr Ressentiment weder loswerden können, noch wollen. Eine Seelenlage von miserabler Reputation, wie er weiß, die nicht erst seit Friedrich Nietzsches "Genealogie der Moral" als das Kennzeichen unterlegener Opfernaturen gilt, denen, wie Nietzsche schreibt, "die Tat versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten."
Nun - welche Ungeheuerlichkeiten menschliche Tat begehen kann, hatte Améry erleben müssen, hatte den "schrankenlosen Triumph des Überlebenden über den, der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird" erfahren. Vor diesem Hintergrund aber kommt für ihn dem Ressentiment der Hinausgestoßenen und Unterlegenen moralische Überlegenheit zu, da es sowohl auf der Unabgegoltenheit von Leid und Qual beharrt wie auch hartnäckig Einspruch erhebt gegen deren flagrantes Vergessen durch die Gesellschaft. Kein Plädoyer für Rache oder Hass richtet sich sein Essay vielmehr als ein Appell an die Gesellschaft, diesem Vergessen zu widerstehen und des Vergangenen eingedenk zu sein. Améry formuliert:
"Gestachelt von den Sporen unseres Ressentiments würde das deutsche Volk empfindlich dafür bleiben, dass es ein Stück seiner nationalen Geschichte nicht vor der Zeit neutralisieren lassen darf, sondern es zu integrieren hat".
Dass es, mit anderen Worten, die Zeit des Nationalsozialismus als sein "negatives Eigentum" in sich aufzuheben hat – "aufheben" im doppelten Wortsinn verstanden als bewahren wie auf eine andere, geschichtlich höhere Stufe heben und es dadurch außer Kraft setzen. Die Bedingung wiederum dafür, dass sich die Gesellschaft schließlich doch dazu bereit fände, jenen Widerruf von damals zurückzunehmen und den von ihr Hinausgestoßenen eine wirkliche Rückkehr zu gestatten. "Das Erlebnis der Verfolgung war im […] Grunde das einer äußersten Einsamkeit", bekennt Améry, "um die Erlösung aus dem noch immer andauernden Verlassensein von damals geht es mir".
"Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung. Die Forderung, erhoben vom deutschen, dem eigentlich siegreichen und von der Zeit schon wieder rehabilitierten Volke, hätte ein ungeheures Gewicht, schwer genug, dass sie damit auch schon erfüllt wäre. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, wozu das Volk einst nicht die Kraft oder nicht den Willen hatte und was später im politischen Mächtespiel als nicht mehr bestandsnötig hat erscheinen müssen: die Auslöschung der Schande."
"Bewältigungsversuche eines Überwältigten" hatte Améry seinen Essayband untertitelt. Denn etwas anderes als Versuche zu erkunden und zu bezeugen, "wie es bestellt ist um einen Überwältigten", waren für ihn ohnehin weder denkbar noch lebbar. Ein Erfolg für ihn als Autor werden sie dennoch, als der Band im Frühjahr 1966 erscheint. Bereits im Sommer folgt eine zweite Auflage. Noch im Mai hieß es in einem Brief, dass ihm nichts "Schlimmeres passieren könnte, als zum Berufsjuden beziehungsweise Berufs-KZler gemacht zu werden".
Trotzdem – Améry missachtet den Erfolg keineswegs, verschafft dieser ihm doch einen tragfähigen Boden für seine schriftstellerische Existenz. Von Brüssel aus, wo er mit seiner zweiten Ehefrau Maria Leitner lebt, reist er in den nächsten Jahren regelmäßig in die Bundesrepublik zu Vorträgen, Lesungen, Diskussionen und Tagungen. Immer wieder jedoch meldet sich das durch die Lagerhaft beschädigte Herz, melden sich Unsicherheit und soziale Unruhe, als drohe stets erneuter Widerruf. Ebenso wiederholen sich Nervenkrisen, Depressionen, "Lebens- und Todesangst vereinigten sich zu einem dumpfen Gefühl des Überdrusses, Kampfesmüdigkeit", 1974 ein erster Suizidversuch.
Erfolg und wachsende Anerkennung können nicht verhindern, dass überhand nimmt, was er in seinem 1976 veröffentlichten Essay "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" mit dem Wort "Todesneigung" bezeichnet hat. "Es ist ein langer Prozess des Sich-Hinneigens, der Annäherung an die Erde, ein Aufsummieren vieler Ziffern von Demütigungen, auch Abneigung dem Leben und dem Sein gegenüber." Denn in der Welt wieder heimisch zu werden, gelingt dem aus ihr Hinausgestoßenen nicht. "Weiterleben – aber wie?" wird mehr und mehr zur Frage "Weiterleben – warum?"
Während einer Lesereise findet sie am 17. Oktober 1978 in einem Hotel in Salzburg ihre definitive Antwort. "Es ist nicht leicht, aber dennoch die Erlösung", heißt es im Abschiedsbrief an seine Frau. Seine Urne – bittere Ironie der Geschichte – wird in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in Wien beigesetzt. Auf dem Grabstein ist neben dem Namen sowie den Geburts- und Sterbedaten seine Häftlingsnummer 172364 eingraviert. Ein biografisches Kürzel, das alles enthält. In seinem Essay "Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein" hatte Jean Améry geschrieben:
"Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten."