Die Fördertürme der Bergwerke bestimmen das Bild von Lissitschansk. Seit 1795 wird in der ostukrainischen Stadt Steinkohle abgebaut. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass sich nicht alle Räder der Fördertürme drehen. Im Kapustin-Schacht im Norden bewegt sich was, weiter südlich über der Priwalnjanskaja-Grube auch, ebenso im Melnikow-Bergwerk. Aber über dem Schacht Nowodruscheskaja rührt sich nichts. Dabei gäbe es für die nächsten 100 Jahre genug Kohle. Seitdem Krieg herrscht in der Ostukraine wird nur noch in drei von vier Bergwerken Kohle gefördert.
"Hier gab es Separatistenverbände und Kämpfe, zwei Bergwerke wurden beschossen, eine Frau wurde getötet, zwei wurden schwer verletzt." Wladimir Iwanischin hat bis vor ein paar Jahren noch selbst untertage gearbeitet. Dann wurde er Gewerkschaftschef für alle vier Bergwerke. Damals war die Welt noch in Ordnung. Bis zum Sommer 2014, als von Russland unterstützte Separatisten eine Stadt nach der anderen in der Ostukraine gewaltsam besetzten.
"Die Stromversorgung war zerstört. Aber unsere Leute sind sogar während der Kriegshandlungen zur Arbeit gekommen."
In Lissitschansk sind nicht - wie anderswo wegen der Gefechte - Bergwerke voll Wasser gelaufen. Der größte Schaden, den der Krieg immer noch anrichtet, ist der, den man nicht sofort sieht. Zum Beispiel, dass sich jetzt 70 Prozent der Bergwerke auf dem besetzten Territorium, den sogenannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken befinden und nur noch 30 Prozent auf dem nicht besetzten Gebiet der Ukraine. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind gekappt, denn die Ukraine hat eine Blockade über das besetzte Gebiet verhängt, was Vizeparlamentspräsidentin Oksana Syroid vollkommen richtig findet:
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Briten im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland Handel betrieben hätten. Denn das hätte schließlich der Wirtschaft des Feindes gedient. Aber bei uns gibt es unglaubliche Beispiele: Der ukrainische Staat hat zwei Jahre lang Beschäftigte der ukrainischen Eisenbahn bezahlt, die aber ausschließlich auf dem besetzten Gebiet gearbeitet haben. Und diese Züge haben russische Waffen und russische Soldaten transportiert."
Drastische Folgen für den Dombass
Die Blockade hat für den früher einheitlichen Donbass drastische Folgen. Ersatzteile für die Fördertechnik kamen bislang aus Russland und den heute besetzten Gebieten. Was jetzt unter und über Tage kaputt geht, kann nicht repariert werden. Bergbau-Gewerkschafter Iwanischin nennt Beispiele.
"Förderbänder aus Gummi werden nicht in der Ukraine hergestellt, sondern in Kursk, also in Russland, und wir haben kein Recht, sie dort zu kaufen. Abbaumaschinen kommen aus dem Ural oder aus Tula, also auch aus Russland. In den Maschinenbaubetrieben in Gorlowska und in Druschkowska wurde ukrainische Ausrüstungstechnik hergestellt, aber Gorlowka ist völlig zerstört und Druschkowska teilweise. Die Blockade, der Krieg und der Wirtschaftskrieg zwischen Russland und der Ukraine schaden uns sehr."
Wegen der verschlissenen Technik, die nicht modernisiert, sondern nur geflickt werden kann, sind die Fördermengen auf unter 20 Prozent gesunken - und damit die Einnahmen. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden: Die Bergwerke können die Energiekosten nicht bezahlen, ebenso wenig die Beiträge für den Rentenfond oder die Steuern an die Kommune. Eine Besserung ist nicht in Sicht, weiß auch Eduard Schtscheglakow, Vorsitzender im örtlichen Parlament.
"Wir sind 20 bis 30 Kilometer von der Front entfernt. Die Kämpfe können sich jederzeit verschärfen. Wer kommt damit Kapital? Nicht mal ein inländischer Investor."
In Lissitschansk haben Granaten eine Schule zerstört, wie durch ein Wunder wurde niemand getötet. Anders als in den besetzten Gebieten gewannen die Regierungstruppen in der Bergarbeiterstadt wieder die Oberhand, berichtet der Kommunalpolitiker Schtscheglakow.
"In den Außenbezirken gab es Kämpfe. Der Strom fiel aus, die Gas- und die Wasserversorgung. Die Leute in den Wohnblocks saßen so lange in den Kellern. Ungefähr nach zwei Monaten, am 24. Juli 2014, rückten die ukrainischen Streitkräfte und die Nationalgarde an und beendeten die Besatzung."
Wer vor dem Krieg geflohen war, kehrte wieder zurück. Zusätzlich kamen 25.000 Binnenflüchtlinge, die die Stadt nun mehr schlecht als recht mit versorgt.
Keine Hilfe in Sicht
Die staatlichen Bergwerke können derzeit noch nicht einmal ihre Selbstkosten decken, erhalten aber von der Regierung in Kiew trotzdem keine Hilfe. Unverständlicherweise, findet der Oppositionspolitiker Eduard Schtscheglakow.
"Meiner Meinung nach schützt unsere Regierung nicht unsere einheimische Wirtschaft, es gibt keinen Protektionismus. Mir ist nicht klar, warum sie uns für die Bergwerke kein Geld gibt, aber Kohleimporte aus den USA, Polen oder Südafrika bezahlt."
Das vor kurzem verabschiedete Gesetz über die Reintegration des Donbass verschlimmbessert die Lage für die Bürger in der Ost-Ukraine. Die Menschenrechtsorganisation "Recht auf Schutz" versucht, den Binnenflüchtlingen zu helfen, Entschädigungsansprüche für zerstörtes Eigentum durchzusetzen. Die Aktivistin Darina Tolkatsch – eine Juristin - befürchtet, dass jetzt überhaupt keiner mehr Kompensationszahlungen bekommt.
"Im Gesetz wird allein Russland für die Kriegsschäden verantwortlich gemacht. Für die Bürger heißt das, dass sie jetzt vor einem ukrainischen Gericht Klage gegen die Russische Föderation einreichen müssen. Wie das funktionieren soll, erklärt niemand."
Künftig gibt es drei unterschiedliche Zonen in der Ukraine: Eine besetzte mit den selbstausgerufenen Volksrepubliken. Eine sichere - die freie Ukraine. Und eine Pufferzone, für die man spezielle Ausweise vom neuen Oberkommando der Streitkräfte braucht. Diese Pufferzone werden die Oblaste, also die Gebiete Donezk und Lugansk bilden, wo die Bevölkerung bislang zwar nahe am okkupierten Gebiet, aber doch fast so normal wie im Rest der Ukraine lebte. Jetzt wird dort quasi Kriegsrecht herrschen, sagt die Juristin Darina Tolkatsch.
"Eine Verhängung des Kriegszustandes enthält normalerweise den Anspruch auf Evakuierung. Künftig dürfen die Sicherheitsorgane Zivilisten in dieser Pufferzone, im gesamten Donezker und Lugansker Gebiet, mit Waffengewalt festnehmen, Durchsuchungen durchführen und Eigentum beschlagnahmen, Häuser, Wohnungen und Autos zum Beispiel. Außerdem dürfen im ganzen Land künftig Telefonate abgehört und E-Mails mitgelesen werden."
"Das Gesetz ist reiner Populismus"
In der Präambel des Reintegrationsgesetzes wird Russland als Aggressor bezeichnet, was für die meisten Abgeordneten der Werchowna Rada eine Genugtuung ist, sofern sie mit Ja gestimmt haben. Wer es aber kritisiert, wird schnell als Agent des Kremls abgestempelt. Pawel Lissjanksi von der Ostukrainischen Menschenrechtsorganisation nimmt trotzdem kein Blatt vor den Mund.
"Das Gesetz ist reiner Populismus. Es ist ein Zeichen, dass der Präsidentschaftswahlkampf angefangen hat. Im kommenden Jahr ist die Wahl. Man will Punkte sammeln. Nur: Die Menschen in den besetzten Gebieten werden weiter keine Renten bekommen, auch nicht die ausstehenden Löhne, die ihnen Kiew noch für 2014 zahlen müsste. Es geht nicht um Reintegration, sondern einzig um die Ausweitung der Vollmachten der Sicherheitskräfte."
Auch ohne Krieg hat die Ukraine schon viele Grubenunglücke erlebt. Jetzt ist in den Bergwerken von Lissitschansk nur wenige Kilometer von der Front entfernt noch nicht einmal Geld für die Stabilisierungsbauten untertage vorhanden. Die Unfallrisiken steigen und obendrein die Lohnschulden. Deshalb schlägt der Gewerkschaftschef Wladimir Iwanischin Alarm.
"Wenn es nicht einmal ordentliche Rettungsmasken gibt, müsste die Arbeit untertage eigentlich gestoppt werden. Aber wohin sollen die Leute dann? Wovon sollen sie leben? Wir haben zu wenig Kohle gefördert und verkauft, deswegen haben sich Lohnschulden aufgehäuft: seit Dezember 2015 bis heute 133 Millionen Griwna."
Das sind umgerechnet vier Millionen Euro. 21 Monate lang erhielten die Bergleute ihren Lohn nur teilweise.
Kein Gehalt, keine Perspektive
Maxim Jakiwez hat die Nase voll und hängte seinen Helm und die Grubenlampe an den Nagel. Seit ein paar Wochen fährt er nicht mehr mit seinen Kollegen untertage.
"Du kommst zur Arbeit und die Traktoren sind nicht einsatzbereit. Viele von uns haben die Ersatzteile für die Maschinen und sogar den Diesel aus eigener Tasche bezahlt, nur damit wir arbeiten können. Und keiner hat uns die Auslagen erstattet. Ich war wirklich bedient."
Für die Pizzeria, in der wir uns treffen, hat Maxim Jakiwez, der ehemalige Bergmann, das Mobiliar geschreinert, Tische und Stühle. Weil der ohnehin magere Verdienst im Schacht nicht mehr ausgezahlt wurde, konnte er seine dreiköpfige Familie kaum noch ernähren.
"Unseren Lohn bekommen wir häppchenweise, sie haben Schulden bei uns von 2015, 2016 und 2017. Alles in allem fehlen mir drei bis vier Monatsgehälter."
Dass die Förderleistung sank, war nicht Schuld der Bergleute. Die schuften eher mehr als weniger. Statt sich mit der Bahn Untertage zu bewegen, müssen sie die kilometerlangen Strecken laufen, etliche Förderbänder sind kaputt, also wird die Kohle in Waggons geschippt. Ein chinesischer Investor hat sich wieder zurückgezogen, erzählt der Gewerkschaftschef Iwanischin, der 3.500 Bergleute vertritt.
"Weil ein großer Teil des Donbass verloren ging, wegen des Krieges und der ganzen Unsicherheit haben die Chinesen auch die Reparaturzentren nicht mehr gebaut."
Für den Ex-Bergmann Jakiwez war der Job ein einziges Minusgeschäft.
"Keiner berücksichtigt, dass die Löhne für 2016, die erst 2018 gezahlt werden, jetzt viel weniger wert sind, wegen der Inflation. Die Nebenkosten für die Wohnung und für Lebensmittel sind schließlich gestiegen."
Massenhafte Abwanderung
Der 39-Jährige zeigt stolz seine neue Arbeitsstelle: eine Werkstatt in einer Industriebrache. Dem Gebäude fehlt das Dach, er hat es mit dicken Plastikplanen abgedeckt. In einem Kämmerchen dahinter baut Vitali einen Barhocker zusammen. Vitali ist ebenfalls ein ehemaliger Bergmann, der sich bei Maxim auch als Tischler versucht. Er ist unzufrieden. Vielleicht wird aus Vitali noch ein Handwerker, vielleicht macht er es aber wie die meisten, die in der Ostukraine nicht mehr Lohn und Brot finden: Sie gehen fort. Viele ausgerechnet in das Land, das ihnen die Misere beschert hat: nach Russland.
Auch aus dem benachbarten Sewerodonezk, einem Chemiestandort, ziehen sie massenhaft weg.
"Vor dem Beginn des Krieges im Februar 2014 hatten wir 7.000 Mitarbeiter, heute sind es 3.500. Die Leute sind gegangen, in die westlichen Landesteile, nach Russland, Europa, mancher ging in Rente", sagt Walerij Tschernysch, der oberste Gewerkschafter des Unternehmens ASOT, eines Chemiekonzerns, der dem Oligarchen Dmitri Firtasch gehört. Firtasch ist einer der reichsten Männer des Landes und besitzt außerdem Agrarbetriebe, Gasstationen, Banken und einen Fernsehsender - wie jeder Oligarch, der in der Ukraine etwas auf sich hält. Obwohl es dringend nötig wäre, kann Dmitri Firtasch derzeit nicht selbst nach dem Rechten sehen, denn er sitzt in Österreich fest. Seit März 2014, als Russland bereits die Krim okkupiert hatte und dann nach der Ostukraine griff.
Für ihn persönlich dürften die Probleme mit seinen Chemiebetrieb in Sewerodonezk gegenwärtig das kleinere Übel sein. Dort muss man ohne ihn zusehen, wie man ohne Stromversorgung weiter produziert.
"Unser Gebiet ist nicht mehr an das zentrale ukrainische Energienetz angeschlossen", erläutert der Gewerkschaftsboss das drängendste Problem.
"Seit dreieinhalb Jahren dauert dieser Zustand nun schon an. Und uns macht der hohe Gaspreis zu schaffen, seitdem es nicht mehr aus Russland, sondern aus Europa kommt. Vermutlich verdienen daran bei uns wieder jede Menge Leute mit."
Wie früher Dmitri Firtasch, der seinen Reichtum Erdgasgeschäften mit Moskau verdanken soll. Firtasch werden bis heute enge Kontakte zu Russland nachgesagt. Bei dem Auslieferungsantrag, den die USA an Österreich gestellt haben, geht es um ein Titangeschäft. Firtasch soll für Schürf-Lizenzen in Indien Schmiergeld bezahlt haben, um das Titan dann dem amerikanischen Luftfahrtkonzern Boeing verkaufen zu können.
Vernichtung der Industrie in der Ukraine
Wie seine Mitarbeiter den Krieg in der Ostukraine überstehen, kümmerte den mehrfachen Milliardär jedenfalls nicht sonderlich. 2.000 Mann sollten mit Beginn des Krieges ihre Arbeit verlieren, die Gewerkschafter um Walerin Tschernysch verhinderten die Massenentlassung, vereinbarten stattdessen, die Anlagen wieder besser auszulasten. Was leichter gesagt als getan war.
"Während der Kämpfe sind viele Überlandleitungen zerstört worden. Wir warten seit über drei Jahren, um wieder an das landesweite Stromnetz angeschlossen zu werden. Erst hieß es Ende 2016, dann Frühling, dann Winter 2017 und jetzt reden sie von Ende des Jahres."
Während der Gefechte 2014 trafen Geschosse auch das Chemiewerk. Eine Katastrophe wurde verhindert, weil schon zuvor alle Gefahrengüter in Waggons oder Zisternen abtransportiert wurden. Während der Wiederaufbau des Stromnetzes auf sich warten lässt, müssen die Betriebe im Osten auf teures Erdgas ausweichen, das sie in den Ruin treibt.
"Unsere Anlagen sind rund 50 Jahre alt und verbrauchen viel mehr Strom als moderne. Wenn die Regierung die einheimischen Produzenten unterstützen würde, müsste sie uns das Gas, das hier in der Ukraine gefördert wird, viel günstiger verkaufen. Aber so schließen immer mehr Betriebe. Das ist die Vernichtung der Industrie in der Ukraine."
Der Gewerkschafter weiß nicht, wer der ostukrainischen Wirtschaft mehr schadet: der Krieg oder die Regierung in der Hauptstadt Kiew. Dabei haben die ASOT-Chemiewerke die ukrainische Armee unterstützt - mit Fahrzeugen, Ärzten. Sie haben den Sicherheitskräften das Kinderferienheim und andere Gebäude überlassen. Dass der Krieg kostet, versteht er, doch manch andere Schwierigkeit scheint Tschernysch hausgemacht.
"Wir wissen nicht, wer voriges Jahr im März das Kommando gegeben hat, unsere drei Düngemittelbetriebe nicht mehr mit Erdgas zu beliefern. Wir mussten schließen! Die Bauern waren stinksauer, dass sie keinen Dünger bekamen. Aber fest steht, dass jemand daraus seinen Nutzen zog: Denn in diese Lücke sprangen ausgerechnet russische Lieferanten, die noch dazu ihren Dünger zu Niedrigpreisen auf unserem Markt anboten und ihn damit kaputt machten."
Erinnerungen an bessere Zeiten
Waleri Tschernysch's Gewerkschaftsverband hatte gerade 65-jähriges Jubiläum, eine Erinnerung an bessere Zeiten. Der Donbass war einst eine mächtige Industrieregion mit Maschinen- und Bergbau, Chemieindustrie und riesengroßen Feldern.
"Wenn unsere Betriebe wieder normal arbeiten könnten, müssten wir nicht mit ausgestreckter Hand woanders betteln. Aber die Ukraine gibt ihren Bürgern nicht zu verstehen, dass sie sich für sie interessiert."
Wie sein Kollege von der Bergbaugewerkschaft vermutet er, dass zu viele vom Krieg profitieren. Kiews Entscheidung, jegliche Wirtschaftskontakte zu den sogenannten Volksrepubliken und Russland zu verbieten, schadet zusätzlich, findet der Kommunalpolitiker Eduard Schtscheglakow aus Lissitschansk.
"Wir reden hier von Bürgern der Ukraine auf dem Gebiet, das die Regierung nicht kontrolliert. Aber sie hat diese Territorien ja nicht aufgegeben. Doch die Blockade dürfte ihnen genau dieses Gefühl vermitteln, dass ihre Regierung sich von ihnen abgewendet hat."
Dass mit dem neuen Gesetz über die Reintegration der Donbass eher geteilt als vereint wird, steht für die Juristin Darina Tolkatsch fest. Die Politik führe etwas ganz anderes im Schilde.
"Das Gesetz nützt vor allem dem Präsidenten, denn die faktische Ausrufung des Kriegszustandes in einigen Oblasten erlaubt der Regierung, die Wahlen nächstes Jahr abzusagen."