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Von Anfang an mit Zwang

Verhaltensforschung. - Jede menschliche Gesellschaft hat eine Art von Polizei. Ohne Zwang scheinen wir nicht zusammenleben zu können. Spieletheoretiker der Universität Wien haben jetzt in Computerexperimenten untersucht, wie es ursprünglich zu diesem Strafvollzug gekommen ist. Der Leiter der Arbeitsgruppe, Professor Karl Sigmund, im Gespräch mit Ralf Krauter.

15.07.2010
    Krauter: Herr Professor Sigmund, muss Strafe sein, um Kooperation zu fördern?

    Sigmund: Es gibt viele andere Arten von Tieren, bei denen Kooperation auch recht hoch ausgeprägt ist, also zum Beispiel bei den Ameisen und bei den Bienen. Aber da ist der Grund für die Kooperation in den Insektenstaaten ein ganz anderer. Er liegt in der engen Verwandtschaft. Hier wird gewissermaßen innerhalb einer riesigen Familie kooperiert. Bei uns ist das nicht so. Beim Menschen gibt es auch sehr viel Kooperation mit Nichtverwandten. Und das ist also zu erklären. Und ein großer Teil dieser Kooperation beruht auf der Androhung von Bestrafung. Und wie dieses Bestrafungssystem aber entstehen konnte, darüber haben wir uns theoretische Gedanken gemacht.

    Krauter: Sie haben jetzt in ihrem virtuellen Experiment, über das sie in "Nature" schreiben, untersucht, inwiefern es einen Unterschied macht, wer diese Strafe verhängt, also entweder ein einzelner oder die ganze Gruppe. Naiv betrachtet würde ich jetzt sagen, muss doch egal sein, weil für den Betroffenen, der bestraft wird, ist der abschreckende Effekt doch derselbe?

    Sigmund: Das ist richtig. Aber die Frage ist, ob man bereit ist, das Bestrafen auch durchzuführen, also aktiv den anderen zu bestrafen. Das ist im allgemeinen ja eine kostspielige Angelegenheit. Es kostet etwas, den anderen zu bestrafen, es kostet Zeit, es kostet Energie, der andere kann zurückschlagen und so weiter. Da ist ein Risiko dabei. Daher ist es oftmals einfacher das nicht zu tun, sich zurückzulegen und zu hoffen, dass irgendein anderer diese Strafe durchführen wird. Aber wenn man das macht, dann ist man auch wieder ein Trittbrettfahrer, gewissermaßen ein Trittbrettfahrer zweiter Ordnung, weil man sich dann darauf verlässt, dass die anderen das Bestrafen übernehmen. Also dann müsste man auch die, die nicht bestrafen, wiederum bestrafen. Und das ist nun manchmal recht schwierig. Gerade dann, wenn alles gut läuft, merkt man ja gar nicht, ob der Nachbar bereit ist, einen Übeltäter zu bestrafen oder nicht. Jedenfalls merkt man das nicht, wenn man das so genannte rear-punishment-Modell verwendet, wo also der einzelne im Nachhinein die Übeltäter bestraft. Da merkt man gar nicht, wenn alle ohnedies brav sind und beisteuern, und so kann es passieren, dass die Gesellschaft gewissermaßen unterwandert wird von Trittbrettfahrern zweiter Ordnung, ohne dass man es richtig merkt. Wenn dann die richtigen Trittbrettfahrer auftauchen, dann kann man sich nicht mehr dagegen wehren, dann ist es schon zu spät.

    Krauter: Die Folgen sind Instabilität, kann man das so sagen? Weil im Prinzip die Basis kooperativen Verhaltens allmählich erodiert?

    Sigmund: Das ist richtig. Und da sieht man auch in den mathematischen Modellen und Computerexperimenten. Dass da so nach einer gewissen Zeit das ganze Bestrafungssystem zusammenbrechen kann. Allerdings, dann, wenn das Bestrafen dem einzelnen überlassen wird, also der auf eigene Faust sozusagen sein Recht durchzusetzen versucht. Eine viel stabilere Form der Bestrafung, die auch wesentlich öfter in der Praxis zu finden ist, ist eine so genannte institutionalisierte Bestrafung. Das wird in dem Artikel als pool-punishment bezeichnet. Da soll man im Vorhinein in einen Bestrafungs-Fonds gewissermaßen einzahlen, noch bevor man weiß, ob überhaupt jemand trittbrettfahren wird oder nicht, nur um diese Mittel dann zur Verfügung zu haben, falls jemand Ausbeuter sein will. Und wenn man da viel eingezahlt hat, dann wird natürlich die Strafe für den betreffenden Trittbrettfahrer sehr hoch sein. Das ist so ähnlich, als würde man für eine Polizei bezahlen, das muss man im Vorhinein, bevor man weiß, ob ein Verbrechen stattfinden wird, und dadurch wird ein gewisser Abschreckungseffekt erzielt. Das ist etwas viel Stabileres, als wenn man im Nachhinein, nachdem das Verbrechen oder die Ausbeutung oder so stattgefunden hat, den Übeltäter zu bestrafen versucht.

    Krauter: Das heißt, provokativ gesagt: das Ersetzen von Selbstjustiz durch die Einführung eines Sheriffs, durch die Erfindung eines Ordnungshüters, ist eigentlich die logische Folge auch der Computermodelle?

    Sigmund: Genau. Das sagen die Computermodelle, die wir machen, Sie haben es sehr gut ausgedrückt, und das sagen auch die Feldforschungen. Also, es gibt in letzter Zeit eine ganze Reihe von Sozialwissenschaftlern, an hervorragender Stelle kann man hier Elinor Ostrom nennen, die Wirtschaftsnobelpreisträgerin des Vorjahres, die schon seit Jahrzehnten das untersucht in einfachen Gesellschaften, also wo keine staatliche Autorität funktioniert, einfache Gesellschaften von Hirten oder von Fischern und so weiter. Und da ist es oft so, dass sie sich im Vorhinein zusammentun und einen Sheriff oder so eine Gruppe von starken Leuten oder so beauftragen, dass sie denjenigen, der die anderen ausbeuten sollte, bestrafen sollen. Das Wichtige ist, dass im Vorhinein Schutz gewährt wird.

    Krauter: Welche konkreten Folgerungen lassen sich denn aus diesen Erkenntnissen ableiten?

    Sigmund: Ja, also, die spieltheoretischen Modelle sind recht einfache Modelle, die gewisse Einsicht gewähren können. Aber an und für sich institutionelles punishment, dass das funktioniert, das wissen wir schon seit sehr langem. Dazu braucht man nicht Computermodelle. Was die Computermodelle zeigen können, und was wir gesagt haben, ist, dass das institutionelle punishment von selbst, gewissermaßen spontan, erzeugt werden kann, ohne dass irgendeine höhere Autorität oder eine staatliche Verfügung oder so das aufdrängt. Also, dass das von den Wurzeln her ganz freiwillig entstehen kann, einfach indem die Leute Versuch und Irrtum machen, und das imitieren, was erfolgreicher ist. Und dieses Resultat ist eben gar nicht selbstverständlich.

    Krauter: Das heißt, soziales Lernen führt dazu, dass sich solche Strukturen herausbilden, die langfristig für stabiles kooperatives Verhalten sorgen können?

    Sigmund: Das ist richtig. Also, diese Untersuchung, die untersucht im Gedankenexperiment eine Situation, bevor es Staaten oder religiöse Autorität und dergleichen gab, um festzustellen, wie das in ganz einfachen Gruppen entstehen konnte. Gedanken, die hoffe ich, bald einmal experimentell überprüft werden. Also, es gibt eine ganze Reihe von experimentellen Untersuchungen von Ökonomen, wo also richtige Leute mit richtigem Geld spielen, und die auch Strafen einander aufbrummen können oder so. Und dabei ist außerordentlich interessant, sich anzuschauen diesen Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Bestrafung. Bisher ist fast ausschließlich diese Selbstjustiz im ökonomischen Experiment untersucht worden. Jetzt hoffe ich, dass es auch Experimente gibt, wo eine solche institutionalisierte Art des Strafens damit verglichen werden kann.