Das Werk des Architekten Aristide Antonas, geboren 1963, spannt einen Bogen von Philosophie, Kunst und Literatur zur Architektur. Er schreibt Bücher, Theaterskripte und Essays. Seine Architekturarbeiten sind oft Utopien, Fantasien, multimediale Kunstwerke, die intellektuelle Denkmodelle darstellen, wie das "Haus für Nichts" oder "The transformable vertical village".
Antonas' Werke wurden präsentiert bei der Istanbuler Design Biennale, der São Paulo Biennale, bei Display Prag oder im Basler Architekturmuseum. Antonas ist Professor für Architekturdesign und -theorie an der Universität Thessalien und Gastprofessor an der Freien Universität Berlin.
Bei der documenta 14 in Athen spielen Antonas' Modelle und Essays eine wichtige Rolle. Manuel Gogos bespricht mit dem Architekten die Rolle der Architektur Athens im künstlerischen und politischen Kontext der documenta 14. Manuel Gogos ist freier Radioautor und Ausstellungsmacher in Bonn und betreibt die Agentur für "Geistige Gastarbeit".
Manuel Gogos: Lieber Aristide Antonas, schön, Sie hier in Berlin zu treffen. Sie kommen gerade aus Athen, wo Sie als Professor für Architektur und Designtheorie lehren. Ihre Arbeit umfasst neben der Philosophie aber auch Kunst. Sie veröffentlichen Romane und Essays. Wenn Sie jetzt aus dem Süden kommen, wie fühlen Sie sich hier in Berlin - einer jener "Hauptstädte der nördlichen Hegemonie", wie Sie schreiben?
Aristide Antonas: Mein Standpunkt ist eher der, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten zwischen Athen und Berlin. Für mein Empfinden teilen die beiden Städte viele Eigenschaften. Und ich genieße meine Aufenthalte, hier wie dort.
"Außerhalb Deutschlands macht das Motto wenig Sinn"
Manuel Gogos: Der spektakuläre Gründungsakt der diesjährigen documenta begann ja im Grunde schon mit dem Exodus nach Athen vor einigen Jahren. Das Credo der documenta lautet "Von Athen lernen". Den "Süden" verstehen die Initiatoren dabei nicht einfach nur als Himmelsrichtung, sondern als "Bewusstseinszustand". Was für ein Bewusstsein könnte das in Ihren Augen sein?
Aristide Antonas: Ich glaube - und darum habe ich mich von Anfang an so für Adam Szymczyks Herangehensweise interessiert - Athen ist nicht der Ort, für den die Deutschen ihn halten. Die Provokation der documenta liegt in dem Gedanken des "Lernens". Kaum jemand auf der Straße würde wohl für möglich halten, dass man von Athen etwas lernen kann. Ist Athen nicht ein Ort des Bösen, eine Art "Vorhölle", wie es in der sogenannten Griechenlandkrise immer gesagt wurde? Ein Ort, wo sich Arbeitslose und Diebe herumtreiben? Es sind diese Klischees, deretwegen die Provokation funktioniert: Was hätten wir von Dieben zu lernen? Das geht direkt an die Adresse des deutschen Publikums. Außerhalb Deutschlands macht das Motto wenig Sinn.
Manuel Gogos: Es gibt da ja eine lange Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Griechenland. In den 1960er-Jahren kamen Hunderttausende griechische Arbeitsmigranten nach Deutschland. Seit den 1970er-Jahren besuchen Millionen von deutschen Touristen jedes Jahr Griechenland. Sie sind ja Architekt von Beruf. Und auch in der Architekturgeschichte gibt es diese intensive Austauschbeziehung. Der berühmte Architekt Karl Friedich Schinkel hat im Auftrag König Ottos I. geplant, die Akropolis in einen modernen Palast umzubauen. Wie sehen Sie die deutsch-griechischen Verbindungen in der Architekturgeschichte?
Aristide Antonas: Das ist von zentraler Bedeutung und darum ist es so wichtig, noch mal auf diese Dinge zurückzukommen: Heute finden wir Schinkels Plan etwas kühn. Wir können uns das kaum vorstellen - den Parthenon als Palast und politisches Zentrum einer modernen Hauptstadt. Aber man muss sich vor Augen halten, in der Zeit, als Schinkel das am Reißbrett entworfen hat, da war das Parthenon keine freistehende Ruine. Es war integraler Bestandteil eines osmanischen Stadtzentrums. Darum waren Schinkels Umgestaltungsideen für diesen Akropolis-Hügel so radikal: In einer Art Reinigungsoperation musste die Ansiedlung dort oben zerstört werden, um das Parthenon als eine Art Neubau hinzustellen. Heute ist nicht mehr leicht zu rekonstruieren, wie erfolgreich die Archäologie darin war: Eine Ruine zu entwerfen, die tatsächlich nichts anderes ist als - eine Ruine! Das ist ein erzromantischer Gedanke: Die Ruine als eine Art materielle Provokation, die die Vergangenheit der Gegenwart entgegenstellt. Heute ist die Akropolis viel mehr als nur eine Ruine. Sie ist ein Gebäude, das ächzt unter der Last seiner Funktionen. Millionen von Menschen aus aller Welt besuchen jedes Jahr dieses Museum, das ist ein immenser finanzieller Faktor.
Manuel Gogos: Heißt das, deutsche Architekten haben diese Ruinen "inszeniert", sie in Szene gesetzt? Waren diese Bilder von der griechischen Antike eigentlich eine Fiktion?
Aristide Antonas: Ich denke, das deutsche Wort "Lichtung" trifft es noch besser. Weil es wirklich darum geht, etwas in ein bestimmtes Licht zu stellen. Die Rahmung macht das Bild aus. Das ist ein Teil seiner Ausstrahlungskraft.
Manuel Gogos: Diese deutschen Architekten hatten ihre Mittsommernachtsträume von Griechenland. Genau wie die Dichter, Goethe zum Beispiel: Im zweiten Teil seines "Faust" verlieben sich ja Faust und Helena ineinander. Und das Kind, das sie zusammen zeugen, heißt Euphorion. War Griechenland also eine Art deutsche Obsession? Oder sogar eine deutsche Erfindung?
Aristide Antonas: Ich denke, es ist wichtig, Athen als eine moderne bayerische Stadt zu sehen. Athen war die Hauptstadt eines neu entstehenden griechischen Staates, die erste wirkliche griechische Großstadt überhaupt. Zugleich aber wurde diese Stadt erdacht von Ottos Architekten. König Otto wollte damit dieser neu entstehenden griechischen Nationalität eine Identität verleihen, es gab da also so eine Art Story, die Story einer Wiedergeburt der griechischen Antike, keine wirklich neue Geschichte - sie kursierte ja längst in ganz Europa - aber es war eine spannende Geschichte von verlorenen Eltern, von der Suche nach dem eigenen Ursprung. Eigentlich war es eine Erforschung des Ursprungs – Erforschung ist vielleicht ein besseres Wort als Erfindung.
Manuel Gogos: Dann lassen Sie uns doch gemeinsam eine Spurensuche betreiben, unterhalb der Akropolis, in dieser mentalen Landkarte Athens. In Ihrem Essay "Constructing the ruins of south" beschreiben Sie Athen selbst als einen Text. Einen Text muss man lesen lernen. Wie kann man diesen Text lesen? In welcher Sprache ist er verfasst? Oder vielleicht auch - in welchen Sprachen?
Aristide Antonas: Von zweien haben wir schon gesprochen: Der Sprache Europas und der Sprache der - sagen wir - der Autochthonen. Was spannend ist im Untergrund Athens - wenn man einfach irgendwo ein bisschen zu graben beginnt - da findest du zwei Arten von Dingen. Das eine sind die Ruinen, wir sprachen davon. Das andere ist die Infrastruktur. Das war der zentrale Widerspruch in der Vision des Königs, auf diesem Ruinenfeld eine moderne Stadt zu gründen. Einerseits wollte er die vergangene Größe wiederherstellen. Andererseits ist klar, dass die Technik, um eine moderne Metropole zu gründen, mit Infrastruktur zu tun hat. Vielleicht war ihm dieser zentrale Widerspruch gar nicht bewusst: dieser Konflikt, dieser Zusammenprall von Ruinen und Infrastruktur. Ich denke, das wäre eine erste Lektion, die uns Athen erteilen könnte: Dass das kein lokales Problem ist, dass das heute überall in der Welt geschieht.
"In Athen findet man überall Ruinen. Das ist nichts Besonderes"
Manuel Gogos: Bedeutet das, wenn man in diesem Feld, diesem Ausgrabungsfeld Athen herumläuft, dass man dann spürt: Einerseits zieht dieser Untergrund Athen permanent in die Vergangenheit hinab; andererseits wird die Stadt an ihrer Oberfläche permanent in Richtung Zukunft getrieben?
Aristide Antonas: Da gibt es tatsächlich eine permanente Spannung. Diese beiden Aspekte fordern sich gegenseitig heraus. Es gibt zwei Arten von Archiven, zum einen die Archive der Archäologen. Die verzeichnen alle Arten von Objekten, das ist ja fast eine Art von Literatur. Aber gleichzeitig gibt es auch die Archive der Infrastruktur, die sind voll von Bürokratieproblemen. Wo darf gebaut werden und wo nicht? In Athen findet man überall Ruinen. Das ist nichts Besonderes. Heute schwindet das Interesse zu graben. Der globale Norden interessiert sich nicht sonderlich für Ruinen. Das wirft die große Frage nach dem Oberirdischen auf.
Manuel Gogos: Wenn die Relikte der Vergangenheit die Gegenwart in ihrem Wachstum hindern, was bedeutet das für die Griechen von heute? Denken Sie, man sollte die große Vergangenheit lieber vergessen und diesen Schatten abschütteln?
Aristide Antonas: Ich glaube, das ist eine sehr wichtige Frage. Meiner Meinung unterscheidet sich das Vergessen, wenn es richtig gemacht wird, gar nicht so sehr vom Erinnern. Ich bin völlig einverstanden, dass sich die Griechen von dem Schatten der Antike befreien müssen. Einem Schatten, der über Europa nach Griechenland kam.
Manuel Gogos: Den eigenen Vater zu "töten", wenn man es so nennen will oder einfach zu vergessen, wie könnte das konkret aussehen? Tabula rasa machen? Vielleicht einige der Monumente in die Luft sprengen, wie die Taliban es machen?
Aristide Antonas: Es gibt einen griechischen Intellektuellen, ich erwähne ihn in meinem Text, Georgios Makris, der hat tatsächlich darüber geschrieben: Den Parthenon in die Luft zu jagen! Das ist in dem Sinne einschlägig, wie es auch der Titel der documenta ist. Aber Makris' Idee funktioniert auch für uns Griechen sehr gut. Weil wir nie in einen abstrakten Raum hineinschreiben, sondern weil da immer jemand ist, der zuhört. Makris war ein moderner Schriftsteller und er wollte mit seinen Zeitgenossen über die Mittel des Modernismus kommunizieren.
Manuel Gogos: Vor ein paar Monaten bin ich selbst in Athen gewesen. Das lag Schnee auf der Akropolis, ein schönes Bild. Als ich in der Stadt herumflaniert bin, hatte ich den Eindruck: Da gibt es nicht nur die Ruinen der Antike. Auch viele Häuser der Athener Mittelklasse verfallen heute zu Ruinen. Athen ist wirklich ein Palimpsest, ein Palimpsest aus Graffitis, die sie auf diese Häuser sprühen. Und wenn man auf den Omonia-Platz geht, kann man auch menschlichen Wesen begegnen, die wie Ruinen aussehen. Denken Sie, Athen ist in seiner großen Depression?
Aristide Antonas: Athen ist auch eine Stadt, wo es einen neuen Aufbruch geben kann, wenn wir unsere Perspektive radikal ändern. Klar wäre es seltsam, wenn einen dieses Palimpsest nicht zur Verzweiflung treiben würde. Aber das Verrückteste in dieser schlimmen Zeit 2010/2011 war: Einerseits gab es Leute, die lebten auf der Straße und starben vor Kälte. Und andererseits gab es all diese Häuser im Athener Zentrum, die standen leer. Wenn man diese Diskrepanz sieht, kann man nicht umhin einzusehen, dass da etwas fundamental falsch läuft. Und dann wird die soziale Frage wieder brandaktuell.
"documenta 14 reist gewissermaßen per Anhalter durch Griechenland"
Manuel Gogos: 2004 kamen ja die Olympischen Spiele nach Athen zurück. Und in diesem Prozess wurde der städtische Raum einer Transformation unterzogen. Ist es mit der documenta heute ähnlich?
Aristide Antonas: Das kann man nicht vergleichen. Das hat wirklich nichts miteinander zu tun. Die Olympischen Spiele waren eine einzige Übertreibung, wie es oft mit diesem Format passiert. Ein Land wird dafür in Beschlag genommen, aber die Räume, die da konstruiert werden, nützen dem Land selber nichts. Die documenta 14 ist interessant, weil sie gewissermaßen per Anhalter durch Griechenland reist. Sie ist in die griechischen Institutionen eingedrungen, um Geld hineinzupumpen, um zu helfen, manche der Schäden wieder gutzumachen, die die Olympischen Spiele angerichtet haben. Es ist also das genaue Gegenteil.
Manuel Gogos: Wie ein UFO, das in der Stadt landet?
Aristide Antonas: Es gibt zwar Leute, die das behaupten, aber ich teile deren Meinung nicht.
Manuel Gogos: Sie klingen einerseits sehr "down to earth" - wie Sie diesen Spuren am Boden folgen, den sozialen Realitäten. Manchmal klingen Sie aber auch sehr abstrakt, als würde Ihr Blick frei in den Himmel gehen. Denken Sie, wir brauchen beides, Erdverbundenheit und die Fähigkeit zur Abstraktion?
Aristide Antonas: Rousseau war auch nicht gerade "down to earth", als er seinen Gesellschaftsvertrag entwarf. Und doch gelang es ihm, unsere Vorstellung davon zu ändern, was ein Staat ist oder eine Bevölkerung. Wie einer mit allen zusammenhängt. Mein Gefühl in der Krise war eigentlich immer diese Hoffnung - mitten in den Zwängen des globalen Systems könnten wir die sozialen Lebensbedingungen neu denken. Um zu sehen, ob sich da nicht doch ein Hoffnungsschimmer findet.
Manuel Gogos: Sie arbeiten ja als Architekt - und als Städteplaner. Hat Sie diese Krise auch inspiriert?
Aristide Antonas: Vielleicht. Schwierig, das zu beantworten, das läuft auf ein Bekenntnis hinaus. Ich hatte einfach die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder abzuwarten, was passiert und nichts zu tun. Oder zu schauen, ob sich dieser Zustand nicht auch ändern lässt. Ich glaube, für die Griechen am Schwersten zu ertragen ist die Verwirrung, in die sie die sogenannte Schuldenkrise gestürzt hat: ‚Wie kann es sein, dass ich irgendjemandem etwas schuldig bin, obwohl ich mir doch gar nichts habe zuschulden kommen lassen.’ Die Leute sollen ja Schulden bezahlen, die der Staat oder die Banken an sie weiterreichen. Aber: Was können sie dafür? Da gibt es ein sehr unmittelbares, sehr spontanes Gefühl von Ungerechtigkeit. Eine Ungerechtigkeit, gegen die du dich nicht verteidigen kannst, weil sie anderswo herkommt, ungreifbar, angesiedelt in einer anderen Sphäre.
Manuel Gogos: In diesem klassischen, bildungsbürgerlichen Diskurs hätte man gesagt: Deutschland schuldet Griechenland unendlich viel. Heute, in Zeiten unter dem ökonomischen Diktat, wird gesagt: Griechenland schuldet Deutschland so viel, dass es seine Schulden nie begleichen kann ...
Aristide Antonas: Das ist die Idee des französischen Filmemachers Godard. Allerdings denke ich, Griechen wie Deutsche werden hier fälschlicherweise als etwas Gegebenes betrachtet. Griechen und Deutsche sind aber keine vorgegebenen Einheiten. Ich bin eigentlich nur an Menschen und Situationen interessiert, in denen all diese vorgeblichen Identitäten zerbrechen.
"Ich sehe Griechenland als eine Art Frontstaat unseres Finanzsystems"
Manuel Gogos: Diese Hegemonie des Nordens, von der Sie sprechen, die überzieht ja den Rest der Welt mit ihren Waren und Geldflüssen. Wetten Sie nun auf Griechenland? Oder dagegen?
Manuel Gogos: Meine ganze Arbeit ist ein einziger Versuch, diese Frage zu vermeiden. Ich meine, eine "Herrschaft des Nordens" geht mit einer Art "Verfassung des Südens" zusammen. Darum arbeite ich intellektuell daran - weil man der Infrastruktur selbst nicht leicht habhaft werden kann. Es ist eine schwierige, in vielerlei Hinsicht sogar unmögliche Arbeit. Das Unsichtbare und Unbegreifbare begreiflich zu machen. Ich sehe Griechenland als eine Art Frontstaat unseres Finanzsystems. Was wir heute in Griechenland erleben, wird bald auch anderswo sichtbar werden. So haben wir eine Chance, Auswege zu finden. Darin können wir also von Athen lernen: Das Zerstörerische auszuwerfen und das Existierende zu reparieren. Und so zu Wertschöpfern zu werden.