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Von der Insel aufs Festland

In Zeiten großer Krisen werden Utopien am meisten verworfen, weil sie im Dickicht der Probleme in besonderer Weise der Realität zu widersprechen scheinen. Dass Utopien aber mehr sind, als nur Wunschfantasien, ihrem unentgehbaren Scheitern auch ein produktives Moment innewohnt, davon handelt die Betrachtung von Millay Hyatt mit dem Titel: "Von der Insel aufs Festland".

Von Millay Hyatt |
    Die in den USA geborene Autorin promovierte 2006 mit einer Dissertation über das Utopische und Utopiekritische bei Hegel und Deleuze. Millay Hyatt lebt heute als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin.

    Von der Insel aufs Festland
    Über das produktive Scheitern von Utopien
    Von Millay Hyatt

    "Der innerste Kern der Utopie, wo sie am dynamischsten politisch ist, ist genau unsere Unfähigkeit, sie uns vorzustellen, unser Unvermögen, sie herzustellen als Vision, unser Scheitern daran, das Andere dessen, was ist, zu entwerfen - ein Scheitern, welches uns wieder allein lassen muss mit dieser Geschichte, wie ein Feuerwerk, das sich im Nachthimmel wieder auflöst."

    Fredric Jameson sagt es! Die Utopie existiert nicht. Das ist ihre Definition (u-topus, kein Ort). Und doch kehrt sie immer wieder, gleich einer Untoten. In Zeiten des Triumphs (der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, des Kapitalismus über den Sozialismus im späten 20. Jahrhundert) wie in Zeiten der Krise (der feudalen Weltordnung im 16. Jahrhundert, des Kapitalismus Anfang des 21. Jahrhunderts) drängt sie sich immer wieder auf.

    Die Utopie existiert nicht. Was existiert, sind Vorstellungen und Bilder davon, was wäre, wenn sie existierte. Die Utopie ist ein Bild davon, was nicht existiert. Sie ist ein in sich gestülpter Widerspruch, ein Paradox. Wer an die Utopie appelliert, wer in Bild oder Schrift eine Utopie entwirft, demonstriert damit, dass es diesen guten Ort nicht gibt. Somit ist die Utopie ein Kippbild, in dem das Positive sich nicht lange halten kann, bevor es sich ins Negative kehrt: Ihre Darstellung ist der schmerzhafte Hinweis darauf, dass es eine enorme Kluft, eine scheinbar unüberbrückbare Distanz gibt, zwischen der Realität und dem Wunsch nach einer anderen, schöneren, besseren Welt. Die Utopie tut immer weh.

    Kritiker und Feinde der Utopie zeigen gerne auf ihr Scheitern. Sie haben recht: Utopien - also Umsetzungsversuche utopischer Ideen und Bilder - scheitern ständig und reißen ihre Anhänger mit ins Verderben. Neben den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche kleinere Beispiele, die Ikarier, zum Beispiel, die, inspiriert von Étienne Cabets Roman "Reise nach Ikarien", im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, um sozialistische Gemeinschaften zu gründen. Diese gingen nach einigen Jahren wegen internen Streits und Überschuldung auseinander.
    Da sieht man's wieder. Der Krisenkapitalismus, in dem wir momentan leben, scheitert dagegen nicht. Der Kapitalismus hat kein gesellschaftliches Ziel, versucht nichts zu erreichen, kann also auch nicht als gesellschaftliches System scheitern. Der Kapitalismus hat keine Ansprüche, außer den des wirtschaftlichen Wachstums, und wenn es damit nicht funktioniert, dann scheitern einzelne Menschen, scheitern Unternehmen, im Extremfall gehen auch Regierungen bankrott, der Kapitalismus scheitert aber noch lange nicht. Die Utopie dagegen will eine bessere Welt und verfehlt dabei immer wieder ihr Ziel.

    Das Entwerfen utopischer Bilder scheitert. Auch wenn es lediglich um die erfundenen Figuren und Gesellschaftssysteme geht, die ein Autor in einem Buch niedergeschrieben hat, in einem Versuch, sich eine andere, bessere Welt zumindest vorzustellen - dies missrät auch öfter, als es gelingt. Stephen Greenblatt hat in seinem Buch "Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare", gezeigt, wie sich in Thomas Morus' gattungsgründendem Werk "Utopia" (1516) Unfreiheit und Hierarchien durch die Hintertür in eine angeblich egalitäre, freie Gesellschaft einschleichen. So dauert der Arbeitstag in Utopia sechs Stunden - ist also nicht einmal halb so lang wie der durchschnittliche Arbeitstag eines englischen Handwerkers im frühen 16. Jahrhundert.

    So weit, so utopisch. Doch im Text verstreut finden sich eine Vielzahl von Einschränkungen und Ausnahmeregelungen, die zusammengerechnet den Arbeitstag wieder aufblähen. So soll die Freizeit nicht "in Üppigkeit" und "Trägheit" verbracht werden, sondern in erbaulichen Aktivitäten oder freiwilliger Mehrarbeit. Zu guter Letzt arbeiten die Utopier, unter dem Strich, ähnlich lange wie die Engländer in der realen Welt, welche die Utopie eigentlich auf den Kopf stellen wollte. Für Greenblatt stellt die schleichende Einschränkung einer anfangs absoluten Freiheit eines der grundlegenden Merkmale von Utopien dar.



    Eine andere Besonderheit von Utopien ist, dass sie nicht gut altern. Die Vorstellung einer idealen Welt mag in einer Epoche begeistern, schreckt aber in der nächsten oft ab. Nicht viele heutige Leser werden sich vom politischen System in Francis Bacons "Nova Atlantis" aus dem 17. Jahrhundert überzeugen lassen: Ein rigider Staatsapparat organisiert und kontrolliert die Menschen in effizienter Aufgeklärtheit, macht die Gesellschaft zu einem Perpetuum mobile. Die Bewohner sind züchtig, fleißig, in der Wissenschaft dem Rest der Welt weit voraus. Aus unserer Sicht werden hier Probleme gelöst, die die Probleme anderer sind, mit Modellen, die uns heute eher dystopisch als utopisch erscheinen müssen.

    Zu seiner Zeit war das Buch durchaus wirkungsmächtig - so war sie ausschlaggebend für die Gründung der britischen Akademie der Wissenschaften, die Royal Society. Insofern wäre es ungerecht, Bacons utopischem Entwurf Versagen vorzuwerfen, trotzdem kann "Nova Atlantis" als Paradebeispiel nicht nur für das Vergängliche an Utopien dienen, sondern auch für ein ästhetisches Problem utopischer Literatur: Dadurch, dass der Autor vor allem den Zustand einer vollendeten Gesellschaft in all ihren verwaltungstechnischen und architektonischen Einzelheiten beschreibt, leidet die Darstellung einer schönen, friedlichen, glücklichen Welt an einem Mangel an Spannung: Oft fehlt die Reibung, der Konflikt, das, was eine Geschichte interessant macht.

    Von jeher ist ein Problem literarischer Utopien die dürftige Dramaturgie. Die Einbettung in einem Reisebericht, in der der Protagonist den Nicht-Ort "findet" und sich von Einheimischen durch ihn führen lässt, kaschiert nur oberflächlich die Tatsache, dass es im utopischen Diskurs nicht um Narration, sondern um Deskription geht: Utopien haben eine größere Verwandtschaft mit Landkarten als mit Erzählungen. Fredric Jameson, einer der interessantesten zeitgenössischen Utopietheoretiker, schreibt:



    "Eine der wesentlichen Beschränkungen der utopischen Form scheint die Unvereinbarkeit zwischen Handlungen oder Ereignissen und der zeitlosen Erstreckung des Nicht-Ortes selbst zu sein. Wenn in Utopia überhaupt etwas passieren kann, wenn reale Unordnung, Veränderung, Transgression, das Neue, kurz: Wenn Geschichte überhaupt möglich ist, dann kommt uns der Zweifel, ob es wirklich eine Utopie sein kann, und ihre Institutionen verkehren sich langsam in ihr Gegenteil, eine eher dystopische Repression der einmaligen existenziellen Erfahrung unseres individuellen Lebens."

    Es geht also weniger darum, dass Utopien "unrealistische Fantasien" sind, und deswegen verdammt sind, in der Übersetzung in die Wirklichkeit fehlzuschlagen, sondern eher, dass schon der Versuch, eine andere, bessere Welt glaubhaft und verlockend darzustellen, uns an die Grenzen unserer Einbildungskraft bringt. Wie eingangs von Jameson betont, zeigen Utopien vor allem eins: die kognitive Verstrickung in der eigenen Realität.

    In William Morris' "Kunde von Nirgendwo" gibt es zwar zum Beispiel kein Geld, keine Lohnarbeit, keine Polizei und keine Gerichte, aber Frauen sind für die Hausarbeit zuständig, kulturelle Unterschiede werden immer noch mit nationalen Identitäten gleichgesetzt, und der Bezug zu den Dingen ist erstaunlich konsumorientiert, obwohl (oder vielleicht auch gerade weil) sie in den Läden kostenlos und uneingeschränkt erhältlich sind. Wenn man sich unter dem Entwurf einer Utopie die Freiheit vorstellt, ungehalten und ohne bremsendes Realitätsprinzip zu fantasieren, dann zeigt die literarische Utopie auf, wie festgenagelt Autoren wie Leser doch sind in einer solchen "Realität". Jameson schreibt:

    "Der erkenntnistheoretische Wert der Utopie liegt darin, dass sie uns die Mauern spüren lässt, die unseren Geist umschließen, die unsichtbaren Grenzen, die sie uns durch bloße Induktion zu erkennen gibt, sowie die Art und Weise, in der unsere Einbildungskraft an der Produktionsweise selbst festhängt, im Schlamm der Gegenwart, in der unsere utopischen Flügelschuhe stecken, überzeugt davon, es handele sich um die Schwerkraft an sich."

    Zu fragen wäre demnach, in welchem Schlamm wir heute stecken, den wir mit einem unveränderlichen Naturgesetz verwechseln - wobei die Antwort darauf bei der Beurteilung der eigenen Zeit freilich nie erschöpfend sein kann. Ein oft wiederholtes Zitat von Jameson aus dem Jahre 1989 lautet:

    "Wir können uns heute scheinbar leichter die komplette Zerstörung der Erde und der Natur vorstellen, als den Zusammenbruch des Spätkapitalismus."

    Dieser Satz ist womöglich heute noch zutreffender als vor zwanzig Jahren, wenn man bedenkt, inwieweit die ernst zu nehmende Perspektive eines ökologischen Zusammenbruchs bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist - und wie, trotz Finanzkrise, große postkapitalistische Visionen Mangelware sind. Zwar schwappten 2008/2009 Ängste über den Kollaps des kapitalistischen Systems hoch, die sich auch zeitweilig in utopische Fantasien über eine mögliche bessere Welt danach äußerten. Aber auch hier ist man schnell zur Tagesordnung zurückgekehrt.

    Spiegelt sich Jamesons These also in den heutigen utopischen Entwürfen wieder? Eine Bestandsaufnahme dessen, was gegenwärtig unter der Rubrik "Utopie" läuft, zeigt eine Bandbreite von Ideen und Modellen, die eines gemeinsam haben: Sie wollen keine neuen Welten schaffen, stattdessen bestimmte Verhältnisse in dieser verändern. Es sind lokale, lösungsorientierte Ansätze, die heute mit einem utopischen Glanz versehen werden. Ob in der Kunst, der Literatur, oder in angewandten Bereichen wie Architektur, Design oder Stadtplanung hält man sich im Gegensatz zu den gesamtgesellschaftlichen Utopien der Vergangenheit an Konkretes:



    Ökologisch, partizipativ, zeitlich und räumlich situiert werden im Hier und Jetzt Lösungen für aktuelle Problemlagen entworfen. Ein gemeinschaftlich betriebener Biobauernhof etwa, ein billiger Laptop für Kinder in Entwicklungsländern oder ein energieautarkes Hotel, wo die Gäste für ihren Beitrag zur Biogasproduktion bei jedem Toilettenbesuch bezahlt werden. Das sind die "utopischen Projekte" des frühen 21. Jahrhunderts - Experimente, die sich innerhalb eines bestimmten, von der Aktualität vorgegebenen Rahmen bewegen, dort Freiräume abstecken und neue Handlungsweisen entwickeln.

    Ernst Bloch macht in "Das Prinzip Hoffnung", seinem großen Werk über das utopische Begehren, eine wesentliche Unterscheidung zwischen - wie er sie nennt - konkreten und abstrakten Utopien. Die Begrifflichkeiten sind dem hegelschen Denken geschuldet und werden exakt anders herum zugeordnet, wie man es nach dem Vorhergehenden vielleicht erwarten würde: Nach Bloch sind es die abstrakten Utopien, die kompensatorisch auf aktuelle Problematiken reagieren, die Lösungen aufstellen, ohne das herrschende System grundsätzlich infrage zu stellen. (Dieser Haltung ist auch das schnelle Altern von Utopien verschuldet -nichts erscheint verstaubter als ein Rezept für etwas, das man nicht mehr braucht.)

    Konkrete Utopien dagegen schaffen völlig neue Bedingungen, unter denen gegenwärtige Nöte an Bedeutung verlieren. Bloch nennt das Beispiel der Frühsozialisten (von Marx und Engels bekanntlich als Utopisten verschrien), denen es in erster Linie darum gegangen sei, dem Arbeiter einen angemessenen Lohn zu sichern - dies stelle eine abstrakte Utopie dar. Dagegen ging es Marx darum, die Lohnarbeiten an sich zu überwinden - nach Bloch eine konkrete Utopie. Ob dies den Frühsozialisten gerecht wird, sei dahingestellt, der Punkt ist, dass nach dieser Theorie die Bemühungen um Lohnerhöhungen in einem ansonsten unangetasteten, ausbeuterischen System abstrakt bleiben müssen, weil das wahre Problem nicht erkannt und angegangen wird.


    Konkret für Bloch ist nicht das Frickeln, sondern die Umwälzung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. So argumentiert übrigens auch der Berichterstatter aus "Utopia", Hythlodäus, im Roman von Thomas Morus:

    "Dass [die gesellschaftlichen Übel] aber von Grund auf geheilt werden und ein gedeihlicher Zustand der Dinge herbeigeführt werde, dazu ist keine Hoffnung vorhanden, solange jeder sein Privateigentum für sich hat. Denn während du auf der einen Seite Heilung schaffst, verschlimmerst du die Wunden auf vielen andern Seiten, und so entsteht aus der Heilung des Einen die Krankheit des Andern, weil dem Einen nicht zugelegt werden kann, ohne dass es einem Andern weggenommen wird."

    Es handelt sich hier um den alten Zwist zwischen Reformern und Revoluzzern, der hier als eine Gegenüberstellung verschiedener Ebenen aufgelöst werden soll: Es kann nicht darum gehen, die kleinen, zielgerichteten Visionen und Projekte als "abstrakt" abzuweisen. Zwar kann man aus einer bestimmten Perspektive heraus behaupten, dass viele der "Utopien" von heute nicht viel mehr sind als Pflaster auf dem faulen, zerstörerischen Körper des Kapitalismus.

    Aber: Im Einzelnen schaffen sie neue Möglichkeiten, sie verändern und retten Leben und es wäre eine weltfremde Arroganz, dies zu verkennen. Anstatt als "abstrakte Utopien" können wir diese lösungsorientierten Experimente schlicht als mutiges und kreatives politisches Denken und Handeln verstehen. Um die Schärfe des Begriffs der Utopie zu bewahren, sollten sie aber nicht mit dieser verwechselt werden. Zwar sind die zwei Ebenen eng miteinander verknüpft - gewagte, erfinderische Praxis braucht große Visionen, und die wahnwitzigen Bilder neuer Welten entbehren jeder Spannung, wenn sie nicht überkippen sollen in reale Taten.



    Aber wenn das eine mit dem anderen gleichgeschaltet wird, und es wird behauptet, dass der Biobauernhof oder der Mikrokredit schon der utopische Horizont sind, darüber hinaus zu fantasieren sei nicht mehr zeitgemäß, dann haben wir es mit der völligen Kapitulation vor den aktuellen Rahmenbedingungen zu tun und wühlen tatsächlich nur noch im Schlamm der Gegenwart herum. Um aus diesem Schlamm heraus zu kommen - oder ihn zumindest nicht mehr mit der naturgegebenen Schwerkraft zu verwechseln - sind verwegene Bilder, ist das unverschämte Verlangen nach einer radikal anderen Welt vonnöten.

    Wenn wir aber - nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und in Hinblick auf die Tradition der schwerfälligen, zentralistischen, die Freiheit einengenden Utopien - um spannende utopische Bilder verlegen sind, dann kann die Bricolage der vielen kleinen Experimente uns in einem bestimmten Punkt als Inspiration dienen. Denn sie haben sich, im Großen und Ganzen, von einem alten utopischen Grundmuster verabschiedet: die Utopie als Insel, abgeschottet von der realen Welt.

    "Da war eine Mauer. ...Wie alle Mauern war sie ambivalent, besaß zwei Gesichter. Was innerhalb und außerhalb lag, hing davon ab, auf welcher Seite man stand. Von der einen Seite aus gesehen umschloss die Mauer ein karges, fünfzehn Hektar großes Gelände, das als Hafen von Anarres bezeichnet wurde. (...) Die Mauer schloss nicht nur den Landeplatz ein, sondern auch die Schiffe, die aus dem Weltraum kamen, die Leute, die mit den Schiffen kamen, die Welten, von denen sie kamen, und den Rest des Universums. Sie schloss das Universum ein und ließ Anarres draußen, in Freiheit. Von der anderen Seite aus gesehen schloss die Mauer Anarres ein: Der ganze Planet war im Inneren, ein großes Gefangenenlager, von anderen Welten und Menschen abgeschnitten, in Quarantäne."

    So beginnt die berühmte "ambivalente Utopie" von Ursula K. Le Guin, "Planet der Habenichtse", die auch als "Die Enteigneten" erschienen ist. Sie setzt somit ein wesentliches Begehren der utopischen Imagination in Szene, nämlich die klare, räumliche Trennung des Reichs der Freiheit und Gerechtigkeit von dem der Abhängigkeit und der Unterdrückung - während gleichzeitig auf die potenzielle Verkehrung, die in diesem Konstrukt lauert, hingewiesen wird.

    Utopien werden seit Morus gerne auf Inseln verortet, später, mit dem Science-Fiction-Genre, kommen dann auch entfernte Planeten hinzu - also möglichst entlegene Orte, die Sicherheit vor der schlechten Außenwelt bieten. Diese Abschottung soll dem zarten Pflänzchen des utopischen Experiments einen geschützten Raum bieten, in dem es unbehelligt wachsen kann. So wird die Utopie als steriles Labor angelegt, in dem etwas Neues nur geschaffen werden kann, wenn Einflüsse von Außen konsequent ferngehalten werden. Morus beschreibt hier den Gründungsakt, der aus der Landspitze Abraxa die Insel Utopia machte:

    "Utopus, dessen Name als Sieger nämlich, die Insel führt - denn früher hieß sie Abraxa - der den ländlich rauen und rohen Stamm dahin gebracht hat, dass er an Kultur und Humanität fast allen übrigen Völkern voranleuchtet, hat, alsbald nach seinem ersten Betreten des Landes und erfolgtem Siege, auf der Seite, wo das Land mit dem Festlande zusammenhing, einen Landausstich von fünfzehntausend Schritt Breite herstellen und so das Meer ringsherum fließen lassen."

    Diese Abgrenzung von der Außenwelt ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Utopie als radikales Gegenmodell positionieren kann. Die Entfernung vom Festland, von der schlechten Realität, schafft die Möglichkeit einer distanzierten und verkehrenden Perspektive auf diese. Insofern ist eine Utopie, die nicht in irgendeiner Weise inselartig ist, schwer vorstellbar, auch wenn es genügend Beispiele utopischer Fiktionen gibt, die ihr gesellschaftliches Experiment nicht auf eine buchstäbliche Insel verorten.

    Aber auch die Verlegung der utopischen Gesellschaft in die ferne Zukunft, wie zum Beispiel in Edward Bellamys "Rückblick aus dem Jahre 2000", bedient sich einer Strategie der Entfernung und der Isolation, wenn auch im zeitlichen und nicht im räumlichen Sinne. Dabei bleibt, wie in dem Zitat von "Planet der Habenichtse" schon angedeutet, die Inselartigkeit als formale Voraussetzung der Utopie nicht ohne Auswirkungen auf die Beschaffenheit der idealen Gesellschaft. Die Entfernung und die Isolation dienen nämlich nicht nur dem Experimentieren und der Ermöglichung einer Außenperspektive, die Inselartigkeit gräbt sich auch tief in die Definition der guten Gesellschaft ein, die ihre Qualität nur in der Abgeschiedenheit aufrecht erhalten kann.

    Eine ideale Gesellschaft, so die utopische Haltung, ist eine, die gegen Beeinflussung von außen gefeit ist. In dem auf der Insel von "Nova Atlantis" geltendem Ausreiseverbot und der strengen Kontrolle des Fremdenverkehrs äußert sich somit ein wesentliches Merkmal der utopischen Imagination. Die Insel - genauer: der Graben zwischen der utopischen Insel und der verdorbenen Realität auf dem Festland - versinnbildlicht den utopischen Wunsch, die Welt in zwei streng trennbare Bereiche zu teilen: gut und schlecht. Jameson schreibt in Bezug auf Morus' "Utopia":

    "Der Vorgang [der Trennung der Insel vom Festland] ist natürlich nicht nur einer der Disjunktion, sondern auch einer der Exklusion. In der Tat, das andere grundlegende Merkmal der utopischen Ökonomie ermöglicht die Verlegung vieler der unangenehmen Tätigkeiten, die zum Markt und zum Kommerz gehören, nach draußen vor die Stadtmauer. Dieser lokalen Exklusion innerhalb Utopias entspricht eine allgemeinere, die die Beziehungen von Utopia mit der Außenwelt bestimmt: Nicht nur Geld ist ausgeschlossen, sondern auch Gewalt wird ausgestoßen und dann jenseits des illustren Kreises, der das utopische Gemeinwesen trägt, wiederhergestellt. Dieser Akt von Disjunktion und Exklusion, der die Utopie als Genre begründet, ist gleichzeitig die Quelle all dessen, was an ihr problematisch ist."
    Wir sehen also, die Abtrennung ist immer auch ein Ausschluss, eine Verdrängung des Negativen nach draußen vor die Tore der guten Stadt. In Morus' Werk wird das Unhaltbare dieses Verfahrens besonders deutlich: Zwar gibt es innerhalb Utopias keinen Handel mit Geld, wohl aber Außenhandel, Geld wird auch eingesetzt, um feindliche Staaten zu bestechen und um Söldner anzuheuern, damit die Utopier ihre eigenen Kriege nicht selbst führen müssen.

    So schließt die Utopie nicht nur ein, sondern versucht auch ihre schmutzigen Geschäfte auszuschließen, was das gesamte utopische Projekt fragwürdig erscheinen lassen muss. Was kann eine Freiheit sein, die sich einmauern muss? Und was eine Gerechtigkeit, die ihr Unrecht bloß nach draußen vor die Stadttore verschiebt? An diesen Fragen scheiterte so manch eine Utopie, ob als Fiktion oder realer Umsetzungsversuch.

    Es ist das Zusammenschweißen, das hermetische Sichverschließen der Utopie, das einerseits bei uns, die wir die Freiheit zu lieben gelernt haben, ein Unbehagen hervorruft, und andererseits die Utopie zur Erstarrung und zum Ersticken verdammt. Zwar setzt die Utopie auf Distanzbildung und eben nicht auf den frontalen Kampf, sie versucht, den krassen Gegensatz zu vermeiden.

    Diese aber stellt sich ein, sobald die Distanz zum schlechten Festland als Schutzwall verstanden wird und dann sind es nur noch wenige Schritte von der Utopie bis zum Kerker. In dem Sinne sprach Walter Benjamin im Hinblick auf die präzise konstruierte utopische Gesellschaft des Charles Fourier vom "Stacheldrahtglück".

    Aber es ist eben dieses Merkmal, welches die neuen "bescheidenen Utopien" abgeworfen haben. Bedingt auch durch ihre Lösungsorientierung mischen sie sich direkt in das widersprüchliche Durcheinander der Realität und werkeln dort, ohne sich zu sehr um Abgrenzungen und klare Definitionen zu sorgen. Guerillagärtner pflanzen in Großstadtbrachen Gemüse an, Open-Source-Programmierer tüfteln Software aus, um sie umsonst zur Verfügung zu stellen, argentinische Arbeiter besetzen Fabriken und verwalten sie erfolgreich selbst - diese "utopischen" Projekte finden nicht auf Inseln statt, sondern mitten im rasenden Herz der kapitalistischen Gesellschaft, der sie durch ihre Existenz trotzen - aber wovon sie sich auch nicht vollkommen abgrenzen.

    Der utopische Kern dieser Versuche besteht aus dem Ergreifen des Augenblicks, um im Hier und Jetzt einen Spalt Freiheit und Solidarität zu öffnen, ungeachtet der vermeintlichen Geschlossenheit und Allgegenwärtigkeit eines Systems der Ausbeutung und Entsolidarisierung. Dieses Insistieren auf das Hier und Jetzt hat durchaus utopische Tradition:

    Der Titel von Samuel Butlers utopischem Roman von 1872, "Erewhon", ist ein doppeltes Anagramm der Worte "nowhere" und "now here" und zeigt, ähnlich wie Utopia von Morus, auf die inhärente Spannung im utopischen Denken zwischen absoluter Gegenwärtigkeit und radikaler Abwesenheit. Seit jeher ziehen sich eine Dringlichkeit und ein Wille zur eigenmächtigen Aktualisierung durch das utopische Denken.

    Anstatt sich geduldig der Reform gesellschaftlicher Systeme zu widmen oder die Realisierung von Selbstbestimmung und Gemeinsinn auf die Zeit nach dem Ende des Kapitalismus zu vertagen, setzen die kleinen utopischen Projekte von heute in der Gegenwart an, übersetzen ihr Verlangen unumwunden in Taten. Sie schaffen diffus abgegrenzte Räume der Freiheit, die vom Rest der Welt weder durch Gräben noch Sperranlagen geschieden sind.

    Strukturell sind sie keiner strengen Dichotomie und keinem Identitätszwang verhaftet, und fürchten sich nicht davor, von der Realität kontaminiert zu werden. Stattdessen haben sie die Möglichkeit, wie eine gutartige Krankheit, alles um sich herum anzustecken. Das macht sie alltäglich, widersprüchlich, auch enttäuschend. Sie sind von der Insel aufs Festland gezogen.


    Inwiefern kann nun dieser Sprung über den Graben als Inspiration für große utopische Visionen dienen, solche eben, die gesamtgesellschaftlich denken wollen? Man könnte hier eine Möglichkeit andeuten. Anstatt die Utopie als entfernt und in sich geschlossen zu denken, könnte die jetzige, hiesige Realität utopisiert werden, indem wir uns die Geografie unserer Orte ohne die Kontrollinstanzen des Staates und des Kapitals vorstellen.

    Wenn in der klassischen Utopie die Distanz und die klare Abgrenzung das "Nicht" und das "Gut" der utopischen Gesellschaft garantieren, dann könnte in einer neuen Konzeption der Abzug von Grenzen und Hindernissen, die unsere Orte strukturieren, an diese Stelle treten. Eine Landkarte ohne politische Grenzen - wie sähe das aus? Wie eine Wetterkarte vielleicht, oder wie die Satellitenperspektive bei Google Maps. Eine größere Herausforderung für die Einbildungskraft wird es dann schon, sich die Länder der Welt, die nicht mehr Länder wären, ohne Slums und Sweatshops auszumalen, die Städte ohne Banken und Regierungsviertel.

    Was wäre das für eine Welt? Sie hätte keine Asylantenheime, keine Rüstungsfabriken, keine ausufernden Millionärsvillen. Was hätte sie stattdessen, was wäre in ihr wichtig, wie wären ihre Räume angeordnet? Vermutlich würden, wenn wir dieses Gedankenspiel verfolgen, alle möglichen Dinge - Steine, Tiere, Freundschaften, Architektur, Sprache - viel stärker zum Vorschein kommen, sobald die Bedeutungssysteme von Nation und Kapital nicht mehr greifen.

    Wären diese Dinge nicht realer, intensiver, unmittelbarer, sobald sie ihren Status als Waren verloren hätten? Stünde die "einmalige existenzielle Erfahrung unseres individuellen Lebens" also, die Jameson in dem utopischen Genre gefährdet sieht, jetzt nicht im Vordergrund, wie sie es eben im real existierenden Kapitalismus nicht tut?

    Wir sind wieder im Schlamm der Gegenwart angekommen, in der behauptet wird, dass die Realität, wie wir sie jetzt leben, die einzige ist; eine durchgreifende Änderung ist undenkbar und schon gar nicht umsetzbar. Es mag zwar sein, dass wir die "existenzielle Erfahrung unseres individuellen Lebens" in einer Welt ohne die derzeitig geltenden Grenzen und Machtstrukturen nicht wiedererkennen würden, so radikal anders wäre sie.

    Aber darum geht es gerade in der Utopie: sich dieses radikal andere auszumalen zu versuchen. Mit gefährlichen Bildern zu spielen. Um uns der Mauern, die unseren Geist umschließen, gewahr zu werden und dann, im nächsten Schritt, davon zu befreien. Was liegt jenseits der Mauern? Wie könnte der Nicht-Ort aussehen? Was würden wir dort tun? Würden wir, wie die von Gilles Deleuze und Bruce Chatwin so geliebten Nomaden, uns sanft über die Erde verteilen, anstatt sie brutal aufzuteilen?

    Oder würden wir uns in bestimmte Orte verlieben und, ohne Argwohn gegenüber dem Fremden, dort tiefe Wurzeln schlagen? Eines ist sicher, unsere Versuche würden nicht immer gelingen, aber gerade dazu macht die Utopie Mut: beim Versuch, etwas Anderes, Neues, Besseres zu wagen, das Scheitern zu riskieren. Anstatt im schlammigen Strom der Gegenwart uns treiben zu lassen und so wehrlos mit ins fremdbestimmte Scheitern gerissen zu werden.