Das schwimmende Hotel entwickelt sich zu einer wichtigen Urlaubsform. Kein Reisemarkt wächst derzeit so rasant wie die Hochsee-Kreuzfahrt. Laut Schätzungen des internationalen Kreuzfahrtverbands CLIA (Cruise Lines International Association) haben 2017 25,8 Millionen Passagiere eine Kreuzfahrt gemacht. Für 2018 werden 28 Millionen Passagiere erwartet.
Die größte Gruppe bilden Nordamerikaner, aber auch Millionen Europäer gehen an Bord. Deutschland ist inzwischen die zweitgrößte Kreuzfahrt-Nation nach den USA. Während Flüchtlinge in der Hoffnung auf ein besseres Leben genau dieses auf Mittelmeerrouten riskieren, kreuzen die Zivilisationsmüden über die Weltmeere, um sich von der quälenden Langeweile ihres Lebens zu erholen. In der Literatur haben David Foster Wallace und Jonathan Franzen das Setting des Kreuzfahrtschiffs zur Gegenwartsdiagnostik entdeckt und die schwimmenden Mekkas zur kritischen Betrachtung des modernen Menschen herangezogen. Auf welchem Kurs befinden sich Zeitgenossen, wenn sie auf schwimmenden Wohnsilos organisierte Kreuzfahrten unternehmen? Wo liegt der Lustgewinn? Michael Reitz untersucht in einem Essay, ob auf diesen organisierten Reisen zur See die menschliche Sehnsucht nach Weite und Wagnis nacherlebt werden kann.
(Wiederholung vom 1.Mai 2016)
Michael Reitz, geboren 1957, studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Er lebt und arbeitet in Köln als Publizist und Hörfunkautor.
"Die Passagiere lernten, sich der neuen Umgebung anzupassen, sodass das Leben auf dem Schiff bald der systematischen Monotonie eines Kasernenbetriebs glich. Damit meine ich nicht, dass es langweilig war, weil es nicht auf alle Aspekte zutreffen würde. Aber Ähnlichkeiten waren nicht zu übersehen. Wie es auf See immer üblich ist, begannen die Passagiere schnell, die Seemannssprache zu imitieren - ein Zeichen dafür, dass sie anfingen, sich wie zuhause zu fühlen. Halb sieben war nicht länger halb sieben, sondern sieben Glasen, acht, zwölf und auch vier Uhr wurden gleichermaßen zu acht Glasen. Und der Kapitän passierte einen Längengrad nicht um neun, sondern bei zwei Glasen."
Im Jahr 1867 unternahm der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain - er hatte vor seiner Autorenkarriere lange Jahre als Lotse auf einem Mississippi-Dampfer gearbeitet - eine Kreuzfahrt durch das Mittelmeer. Zwei Jahre später protokollierte er sie in seinem autobiografischen Bericht "The innocents abroad", zu Deutsch "Die Arglosen im Ausland". Er war damit der erste Autor, der einem Phänomen nachspürte, das zur damaligen Zeit eine Sensation darstellte: die Kreuzfahrten.
Denn Schiffsreisen waren bis dahin ausschließlich im Rahmen des Linienverkehrs zum Transport von Menschen und Gütern unternommen worden. Niemand wäre bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Idee gekommen, freiwillig und zu seinem reinen Vergnügen eine Seefahrt zu unternehmen, denn die galt als gefährlichste Art der Fortbewegung. Allein die Vorstellung, auf offenem Meer ohne jede Aussicht auf Hilfe jämmerlich zu ertrinken, ließ die Menschen an der Schwelle zur Moderne nur dann ein solches Risiko eingehen, wenn es unvermeidbar war.
In dem gehörten Zitat macht Mark Twain deutlich, wie Passagiere auf die Unsicherheit eines solchen Unternehmens reagieren, dass sie gleichzeitig ängstigt und reizt. Es ist die Faszination der sprachlichen Annäherung an das Abenteuer Seefahrt. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Dass Mark Twain nun diese Reise unternehmen konnte, hing mit dem unternehmerischen Ehrgeiz der Peninsular and Oriental Steam Navigation Company, kurz P&O Cruises, zusammen. Die britische Firma bot seit 1844 Luxusreisen per Schiff von England nach Gibraltar, Malta und Athen an und war damit das erste Kreuzfahrtunternehmen.
Knapp vier Jahrzehnte später suchte die größte deutsche Reederei, die Hamburger Hapag, nach einer Lösung für ein ernstes Auslastungsproblem. Denn während der Wintermonate konnte die Haupteinnahmequelle Nordatlantikroute - die hauptsächlich Emigranten in die neue Welt brachte - wegen Vereisung der US-Häfen nicht genutzt werden. Resultat war 1891 die als Vergnügungsreise deklarierte Tour von Cuxhaven nach Alexandria - mit für heutige Zeiten idyllischen 241 Passagieren an Bord. Das Konzept der Hapag schlug ein.
Zunächst kristallisierten sich reiche, ältere Frauen als Zielgruppe heraus
Als Zielgruppe kristallisierte sich sehr schnell eine Klientel heraus, mit der die Erfinder des Konzepts nicht gerechnet hatten. Denn es waren vor allem reiche und ältere Frauen, die der häuslichen Langeweile zu entfliehen suchten. Wenn es irgendwie ging ohne den Ehegatten. Denn sowohl P&O Cruises als auch andere Veranstalter, die alsbald wie Pilze aus dem Boden schossen, hatten eines verstanden: Die Reisenden wollten sowohl den Thrill einer mit der Aura des Gefahrvollen ausgestatteten Passage erleben als auch unterhalten werden.
Deshalb befanden sich neben Luxusrestaurants und Tanzmusikorchestern auf jedem Schiff sogenannte Gentleman Hosts: junge, gut aussehende Männer, die man in der deutschen Sprache bald als Eintänzer bezeichnete und die als Angestellte der Reederei für das Amüsement der Damen ab 50 zuständig waren.
Am Anfang des Kreuzfahrtbusiness' steht die Illusion. Alles sollte - so der Wunsch der Kundschaft - so sein wie daheim. Nur anders, der Luxus noch etwas exklusiver, die gesellschaftlichen Kontakte ein wenig prickelnder, mit einem Hauch von Unschicklichkeit, Wagnis und Verbotenem versehen. Der soziale Habitus, das Vertraute musste auch auf See gewährleistet sein. So befanden sich beispielsweise auf dem 1912 in Dienst genommenen Ozeanriesen "France" an verschwiegenen Stellen des Promenadendecks echte Pariser Laternenpfähle - an die vom Personal ausgeführte Hunde der Passagiere pinkeln konnten.
Die Attraktion auf der "France" waren vor allem Speise- und Tanzsäle, die der Architektur des Barock und Rokoko nachempfunden waren. Für heutige Verhältnisse war das Schiff eine Nussschale, das Bordprogramm ein einziger Langweiler. Zum Vergleich: Die 2009 in Dienst gestellte "Oasis of the Seas", zweitgrößter Kreuzfahrtdampfer weltweit, verfügt über einen Rauminhalt, der zehnmal größer ist als der der "France". Über 6.000 Passagiere werden befördert - dreimal soviel wie auf dem französischen Vorgänger. An Bord befinden sich Seilbahnen, Kinos, mehrere Theater, Whirlpools, ausgedehnte Saunalandschaften und Wellnessareale. Und das alles zwar nicht billig, aber doch zu erschwinglichen Preisen zu haben.
Was steckt dahinter, dass sich zwei Millionen Deutsche pro Jahr - Tendenz steigend - ohne Zwang durchschnittlich 7,8 Tage in eine Situation begeben, die von außen betrachtet klaustrophobisch erscheint: Enge Kabinen, unliebsame Mitpassagiere, denen man schwer ausweichen und ein Verkehrsmittel, das nicht verlassen werden kann? Zumal alles, was auf diesen dahindampfenden Wolkenkratzern zu haben ist, auch zumindest potenziell an Land verfügbar gemacht werden kann.
Der US-amerikanische Soziologe Zygmunt Bauman hat den Vorschlag gemacht, den Menschen der Postmoderne als einen Spieler und Flaneur zu sehen. Dem Homo Ludens des 21. Jahrhunderts steht ein Waren- und Freizeitangebot zur Verfügung, von dem selbst absolutistische Fürsten nur träumen konnten. In seinem 1995 veröffentlichten Buch "Flaneure, Spieler und Touristen" schreibt er:
"Individuen sind in erster Linie und vor allem Organismen, die Erfahrungen machen, die nach neuen Erfahrungen suchen - wobei Erfahren auch durchaus im Sinne von Erleben gemeint ist - und die gegen den Sättigungseffekt immun bleiben -, das heißt, sie sind imstande, einen stetigen Strom an Reizen zu absorbieren und darauf zu reagieren."
Das Flanieren, so Zygmunt Bauman, die Auswahl des Dargebotenen, wird zu einer Grundhaltung des wohlhabenden Bewohners der westlichen Hemisphäre, die umherspazierende Kontemplation zu einem Mechanismus der Selbstoptimierung.
"Das Hauptmodell liegt deshalb eher in der Fitness als in der Gesundheit. Fitness steht für das körperliche und geistige Vermögen des Individuums, einen wachsenden Umfang neuer Erfahrungen aufzunehmen und schöpferisch darauf zu reagieren, für die Fähigkeit, einem schnellen Rhythmus der Veränderungen standzuhalten, und ebenso, durch Selbstüberwachung und Korrektur all seiner Abweichungen'auf Kurs zu bleiben. Die Betonung hat sich vom wie man es macht zum wie man es erfährt verlagert."
Zygmunt Bauman hatte nicht ausdrücklich Kreuzfahrten im Blick, als er diese Gedanken formulierte. Doch in Anlehnung an seine Theorie könnte man Folgendes mutmaßen: Da der Sättigungsgrad bei solch einer Überversorgung an Waren und Events sehr bald erreicht ist und sich eine existenzielle Langeweile einstellt, werden Kreuzfahrten zur Auswegstrategie postmoderner Lebensformen und ihrer Akteure. Postmodern insofern, als Dinge nebeneinander stehen können, die so gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.
Ein künstlich angelegter Wald auf einem Ozeanriesen, der pro Fahrt soviel Schadstoffe ausstößt wie fünf Millionen PKW in der gleichen Zeit, die an Land Wälder zerstören. Simulierte Naturverbundenheit trifft auf den Kitzel der Gefahren eben dieser Natur. Zum Beispiel dadurch, dass Passagiere an einem Geschirr eingehängt über das Oberdeck schweben als sei man in einer Gebirgslandschaft. Oder in der neoklassizistischen Innenarchitektur der Bordbibliothek sitzen, während ein paar Meter weiter eine quietschgelbe Bar zum Drink animiert.
"Tatsächlich scheint etwa die zentrale Bar eine farbenblinde Elster gestaltet zu haben. Angesichts der Hemingway Lounge würde der Namenspatron wohl um sich schießen; der Time Tunnel mit seinem sphärischen Blaustich ist ebenso purer Trash wie das Pooldeck unter Plastepalmen. Immerhin der Ocean Bar am offenen Heck auf Deck 7 gelingt es halbwegs, einen Hauch von Klasse zu simulieren."
Der deutsche Schriftsteller Frank Schulz schrieb im Frühjahr 2015 an einem Detektivroman, der auf See spielen sollte und verordnete sich deshalb eine Mittelmeer-Schiffsreise. Mit der klaren Vorgabe an sich selbst, das Phänomen Kreuzfahrt nicht mit kulturpessimistischen Vorgaben zu betrachten. Die Resultate seiner ethnologischen teilnehmenden Beobachtungen stellte er in einem Essay in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor:
"Der Kunde mag anscheinend nicht länger der eigenen Gier müder König sein, sondern ist liebebedürftiger Bürger. Er scheint sich hier in einem Maße unterhalten, willkommen, ja repräsentiert zu fühlen, von dem etwa eine politische Ideologie nur träumen kann. Da nimmt er den Balkon-Ausblick im Hafen von Alicante auf zwei veritable Schrotthaufen doch gern in Kauf, denn hier an Bord ist noch das Ziel das Ziel: Erfüllung des Wunsches nach Teilhabe. Allabendlicher Genuss der Nestwärme unter den Fittichen der Zeremonienmeister. Geborgenheit. Stallgeruch. Die ganz große Familienfeier. Wo kriegst das zu Hause denn noch?"
Was erlebt der Gast auf See?
Wie erlebt der Gast überhaupt, dass er auf See ist? Zumal in der Branche der Leitspruch kursiert, nirgendwo sei das Meer weiter weg als auf dem Schiff. Um dem entgegenzuwirken, befindet sich auf der schon erwähnten "Oasis of the Seas" eine knapp über dem Meer ausschwenkbare Glaskuppel, in die sechs Personen passen. Für ein paar Minuten kann so das Gefühl vermittelt werden, buchstäblich in Gefahr schweben zu können. Denn die Kuppel könnte bersten, von einem bisher unbekannten Seeungeheuer oder einem plötzlich auftauchenden U-Boot beschädigt werden. Alles denkbar. Denn schließlich hat am 14. April 1912 kurz vor Mitternacht auch kein Mensch für möglich gehalten, dass die als unsinkbar geltende "Titanic" von einem profanen Eisberg zum Massengrab gemacht wird.
Metaphernhaft wird hier deutlich, worin die Anziehungskraft einer Seereise bestehen kann: Abenteuer erleben in einem abgesicherten Modus. So beginnt jede Kreuzfahrt noch vor dem Ablegen mit einer umfangreichen Sicherheitsinstruktion, die gleichzeitig das Schlimmste simuliert, aber auch dessen Irrealität und Handhabbarkeit: das Sinken des Schiffs. Heute lauern weniger Gefahren, die den modernen Menschen hinterrücks überfallen - also sucht man sie auf. Je geringer der Erlebnisreichtum des Alltags ist, desto delikater müssen die Erregungsmöglichkeiten während der Regenerationszeit sein. Allerdings - und das ist das Charakteristikum des Kreuzfahrturlaubs - in einem kalkulierbaren Rahmen. Dahinter steckt eine Logik des Als-Ob: Es könnte jederzeit passieren, dass der Kahn absäuft, den Kapitän der Schlag trifft oder die Mannschaft meutert.
Dass das alles nicht so ganz von der Hand zu weisen ist, zeigt ein besonders makabres Unglück der jüngeren maritimen Geschichte. Im Januar 2012 krachte das Kreuzfahrtschiff "Costa Concordia" vor der italienischen Mittelmeerinsel Giglio gegen einen Felsen unter der Meeresoberfläche. Grund dafür war ein Ritual, das in der italienischen Seefahrt "inchino" genannt wird, Verneigung. Kapitän Francesco Schettino war viel zu nah ans Ufer gefahren, weil er seinen Ausbilder an Land grüßen wollte - mit eben jener ritualisierten Ehrerbietung, bei der die Schiffssirenen ertönen. Unmittelbar nach der Havarie machte sich Schettino mit dem Großteil seiner Offiziere aus dem Staub, 32 Menschen starben bei dem Unfall.
Aus dem Blickwinkel der Kreuzfahrtindustrie betrachtet, ist das Mittelmeer seit Kurzem eine Region, die Umsatzeinbußen produziert. Als ausgesprochen unappetitlicher Beifang der schwimmenden Eventfabriken stellen sich seit einiger Zeit die Flüchtlingsströme aus Nordafrika und dem Nahen Osten ein. Denn die überladenen Boote der Migranten kreuzen die Routen der Vergnügungsdampfer. Und geraten damit in den Blick von Menschen, die unter anderem sieben Tage Abstinenz von der harten Realität der Globalisierung und dem Elend vor der europäischen Haustür gebucht haben. Außerdem ist jedes Schiff nach der internationalen Seerechtsordnung verpflichtet, Menschen, die auf dem Meer in Not geraten, aufzunehmen - für viele Schiffseigner, Veranstalter und mit Sicherheit auch Passagiere eine Horrorvorstellung.
Einige große Reedereien meiden Flüchtlingsrouten
Im Frühjahr 2016 reagierten einige große Reedereien auf den Umstand, dass das Mittelmeer längst zu einem maritimen Friedhof geworden ist. Sie meiden fortan die üblichen Flüchtlingspassagen, Exkursionen zu den griechischen und türkischen Ägäis-Inseln werden in das westliche Mittelmeer umgeroutet. Darf das, was viele Kreuzfahrtpassagiere antreibt, nämlich die Sehnsucht nach einer simulierten vormodernen Zeit mit moderater Gefahrenbegegnung nicht zu realistisch werden?
Denn die Kreuzfahrt folgt noch einer anderen Sehnsucht, einem verborgenen existenziellen Imperativ: Nutze deine Zeit. Der US-Schriftsteller David Foster Wallace veröffentlichte 1996 einen Selbsterfahrungsbericht. "Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich", so der deutsche Titel des Buches, beschreibt die Erfahrungen des Autors während einer einwöchigen Luxus-Cruising-Tour durch die Karibik auf dem Schiff "Nadir". Der damals 33-jährige Schriftsteller notierte:
"Tagaus, tagein bin ich gehalten, alle möglichen Entscheidungen zu treffen über das, was wichtig und richtig ist, und was mir womöglich sogar etwas (Spaß) bringt. Genauer gesagt, zuerst muss ich entscheiden - und mich dann damit abfinden, dass ich aufgrund meiner Entscheidung andere Optionen nicht ausüben konnte. Und während also die Zeit für mich immer schneller vergeht, wird mir allmählich klar, dass sich meine Wahlmöglichkeiten immer mehr reduzieren in Richtung Stillstand, Atrophie und Verfall."
David Foster Wallace argumentiert, dass Kreuzfahrten den Sieg über die menschliche Urangst vor dem Tod suggerieren. Einerseits durch die vom Personal unentwegt ausgeübten Wartungs-, Reinigungs- und Ausbesserungsaktivitäten, andererseits durch das Überangebot an Bespaßungsmöglichkeiten.
"Im Grunde geht es also eher um ein Gefühl, das in einem selbst hergestellt wird und das insofern - als Gefühl eben - nicht mit einer Produktgarantie versehen werden kann."
David Foster Wallace spricht hier von der "palliativen Wirkung totaler Betüddelung". Die wäre mit einem Schlag vorbei - so lässt sich 20 Jahre nach Erscheinen des Buches sagen - wenn der Kunde mit dem nicht zu übersehenden Elend der Boat-People konfrontiert würde: In Casual Clothing mit einem Gin-Tonic an der Reling stehend, während in unmittelbarer Nähe der schippernden Fun- und Eventtempel durstende und erschöpfte, in Seenot geratene Menschen um Trinkwasser betteln.
Die Konfrontation mit dem Tod anderer und dem Memento der eigenen Sterblichkeit wäre unausweichlich. Und damit alle Mühen der Endlichkeitsverleugnung ebenso hinfällig wie die Stimmung der Reisenden.
Schein einer hermetischen Glückswelt
Der Schein einer hermetischen Glückswelt mit klar umrissenem Tagesablauf, professionell getaktetem Erholungs- und Fitnessprogramm muss aufrechterhalten werden.
"Flüchtlinge sind schlecht für das Kreuzfahrtgeschäft", sagte Arnold Donald, Geschäftsführer von Carnival Cruises, im Herbst 2015 während einer Pressekonferenz. Schiffe seiner Linie hatten im selben Jahr zweimal Flüchtlinge an Bord nehmen müssen. Es dürften nicht nur die Kosten sein und das Schockerlebnis, Tote am Strand liegen zu sehen, die den Betriebsfluss der Kreuzfahrten empfindlich stören. Denn die Auswirkungen neoliberaler Wirtschaft, brutaler Globalisierung und katastrophaler Flüchtlingspolitik direkt vor Augen zu haben, widerspricht einem Grundmotiv der Kreuzfahrer. Es lautet: Kontakte ja, aber nicht zu konkret. Im Kreuzfahrtpassagier werden die Charakteristika moderner Kommunikation und sozialen Miteinander-Umgehens besonders deutlich.
Denn der Verdacht drängt sich auf, dass darin einer der Gründe liegt, warum Kreuzfahrten gebucht werden. Denn nirgendwo sonst in der Freizeit- und Urlaubswelt kann und muss der Kommunikationsmodus einer distanten Nähe so ausgelebt werden. Die Flaneure auf See flanieren eben nicht nur durch die Shopping-Mall ihres Cruisers, sondern begutachten und nutzen auch die Möglichkeiten der flüchtigen Kontaktaufnahme. Der US-Soziologe Zygmunt Bauman sieht hierin ein Wesensmerkmal der postmodernen Performance von Geselligkeit:
"Die Begegnungen sind (wenn überhaupt gestattet) fragmentarisch oder episodisch oder beides. Sie sind fragmentarisch, insofern nur ein Teil des Selbst, bei der Begegnung engagiert ist - der Rest bleibt zeitweilig außer Kraft gesetzt. Und sie sind episodisch, insofern jene Begegnungen so inszeniert werden, als hätten sie keine Geschichte und keine Zukunft. Die wichtigste Konsequenz der episodischen Natur der Begegnung ist das Ausbleiben von Konsequenzen. Begegnungen werden mit der Intention der Folgelosigkeit vollführt."
Alles, was nachhaltige und verpflichtende Folgen haben könnte, muss ausgeschlossen werden - deshalb geht man an Bord. Zufälligkeit, Beliebigkeit, möglicher Beziehungsabbruch, keine Verpflichtungen, die über die Dauer der Reise hinausgehen - auf zeitgenössischen Vergnügungsreisen mit dem Schiff ist jeder des anderen Gentleman Host, Eintänzer und Gigolo. In seinem Buch "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" spricht David Foster Wallace in diesem Zusammenhang von einem allgegenwärtigen Genussimperativ, den die Passagiere durch mantramäßige Wiederholung seiner Aussagen befolgen.
"Das Wort, das immer wieder als Erklärung herhalten muss, lautet ausspannen und relaxen. Ausnahmslos jede und jeder beschreibt die vor ihm liegende Woche entweder als wohlverdiente und längst überfällige Belohnung für irgendwelche Belastungen der vergangenen Wochen/Monate/Jahre oder aber als letzte Chance zum Aufladen irgendwelcher psychovegetativen Batterien. Ich kann mir denken, wie dieses Relax-Alibi entsteht. Entscheidend, glaube ich, ist die tief sitzende Scham, die in unserer Gesellschaft jede Form des Müßiggangs begleitet. Daher die Notwendigkeit, das Nichtstun, den Müßiggang umzudeklarieren."
Hinzu kommt ein weiterer Beweggrund: Sind die berühmten kostbarsten Wochen des Jahres schon eine Herausforderung, mit der eigenen begrenzten Ferien- und Lebenszeit sinnvoll umzugehen, so scheint das Zeitmanagement an Bord in noch größerem Maße eine Rolle zu spielen. Denn trotz der Illusion, die schon Mark Twain beschrieb, mit dem Einchecken schlagartig ein anderer Mensch zu sein, der ab sofort maritime Unwägbarkeiten meistern wird, kann eines nicht an Land zurückgelassen werden: das Risiko der Zeitverschwendung. Der Flaneur sucht die Gewissheit, dass das nicht geschehen kann. Und er kann sich sicher sein, dass er beim Ausloten der verborgenen Gebrauchstiefe seiner eigenen Existenz kundige Helfer haben wird. David Foster Wallace machte während seiner Karibik-Kreuzfahrt folgende Beobachtung:
"Denn so sind die Spielregeln: Ich muss mich entscheiden - und später damit leben, dass ich meine Entscheidungen bereue. Nicht so auf der luxuriösen und makellosen "Nadir". Auf einer Kreuzfahrt zahle ich für das Privileg, jede Verantwortung an eigens dafür ausgebildete Profis abgeben zu dürfen, Verantwortung nicht nur für das, was ich an Bord erlebe, sondern auch für die Interpretation des Erlebten."
Zweckgemeinschaften auf hoher See
Sind Religionen Weltdeutungsgemeinschaften, so bilden Passagiere, Crew und Dienstleistungspersonal für eine bestimmte Zeit Zweckgemeinschaften zur Vermeidung von Chaos und Kontingenz. Die schwimmenden Hochhäuser sind Inseln der Verlässlichkeit, deren Kartierung längst abgeschlossen ist. So fiel David Foster Wallace bei seiner karibischen Cruising-Episode auf, dass an zahlreichen Stellen des Schiffes Lagepläne mit dem Hinweis "Sie sind hier" angebracht waren. Dies diente weniger der Vorbereitung eines Evakuierungsplans nach Kollision mit einem Eisberg als der Beruhigung der Gäste. Der Subtext solcher Botschaften lautet: Wir sind immer für dich da, du bist in jeder Situation in Sicherheit.
David Foster Wallaces Bericht entstand zu einer Zeit, als die Kreuzfahrerei in Europa noch eine Randexistenz führte. Die Preise waren viel zu hoch, die Schiffe und damit die Kabinen zu klein. Heute sind Kreuzfahrten längst kein Privileg mehr für Betuchte, der Branche ist es gelungen, mit sinkenden Ticketpreisen ihren Umsatz zu steigern. Die Kundschaft rekrutiert sich zwar immer noch hauptsächlich aus der Generation 40 Plus, doch längst ist der heutige Durchschnittsgast nicht mehr der hanseatische Unternehmer oder Chefarzt. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Exklusivität der Seereise. Der Krimischriftsteller Frank Schulz rechnete deshalb während seiner Recherche mit einer Oktoberfest-Atmosphäre an Bord.
"Schnöde bange ich um die Ergiebigkeit meines Schauplatzes und seines Personals: medioker, dröge, zu bieder - Antiklimax allenthalben. Gut, das Grüppchen Mitvierziger Dialektsprecher vom Typ Kegelclub am Tisch vorm Burger-Grill lacht dreckig, doch umsonst lauern wir auf Randale. Sicher, Socken in perforierten Gummibotten, Radlerhosen und Camp-David-Klamotten. Doch schlimm genug? Mainstream."
Sollte der Kreuzfahrtkunde des 21. Jahrhunderts noch irgendwelche von der Seefahrerromantik gespeiste Vorstellungen haben, so wird er die ziemlich schnell im wahrsten Sinne des Wortes über Bord werfen müssen. Keine braun gebrannten Schiffsoffiziere, die ausgesuchte Gäste zum Captains-Dinner laden. Und auch keine den Enkelgeschichten der Rollator-Oma geduldig zuhörende Stewardess. Denn dazu ist das Personal während einer Zwölf- bis 14-Stunden-Schicht viel zu überfordert.
Warum also auf große Fahrt gehen, wenn alle anheimelnden Spezifika der maritimen Reise längst der Vergangenheit angehören? Folgt man den Selbstaussagen und Marktforschungen der Branche, dann scheint die Fahrt mit einem Schiff immer unwichtiger zu werden. Der Kunde will nicht mehr zu fernen Inseln, zu Hafenstädten, in denen er sich während eines kurzen Landgangs erst mühsam zurechtfinden muss.
Der Trend geht dahin, sich an Bord verwöhnen zu lassen und auszuspannen. Und eben nur noch zu schauen. Beispielsweise in einem ankernden Hochbunker vor Venedig auf Reede liegen und damit den Menschen an Land die Aussicht auf das offene Meer und die Spiele des Lichts vor der Lagunenstadt zu versperren.
Schwimmende Feriendörfer mit mehreren tausend Kajüten
Aus den schwimmenden Feriendörfern mit mehreren tausend Kajüten könnten in absehbarer Zukunft nurmehr embryonale Bettenburgen werden, in denen die Passagiere in Ufernähe der Glückseligkeit entgegenschaukeln - Begegnungen mit Flüchtlingsbooten ausgeschlossen.
Schon jetzt heißen mehrere Dampfer einer großen Reederei entgegen jeder Namensgebungs-Tradition schlicht und schnörkellos "Mein Schiff", wobei das Possessivpronomen offenbar Assoziationen zu Begriffen wie "meine Heimat" oder "meine Familie" freisetzen soll - festinstallierte Gewissheiten, die weder schlingern noch Überraschungen in petto haben.
Karl Marx bemerkte einmal, dass der Kommunismus dann ausgebrochen sei, wenn er morgens Schreiner, mittags Kritiker und abends Koch wäre - ohne allerdings jemals eine dieser Beschäftigungen als Beruf auszuüben. Bei Kreuzfahrten - und das scheint ihre Anziehungskraft auszumachen - verhält es sich ähnlich: Man kann morgens schwimmen, mittags golfen und sich abends in einer Kampfkunst unterweisen lassen, ohne sich auf irgendetwas festlegen zu müssen.
Das wäre zwar nicht Kommunismus, kommt aber dem sehr nahe, was der Neoliberalismus als marktkonforme Demokratie bezeichnet: Der Bürger hat das Recht, hauptsächlich als Konsument ernst- und wahrgenommen zu werden und alle Möglichkeiten des Konsums zu nutzen. Volksherrschaft unter kreuzfahrerischen Voraussetzungen bedeutet hier uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Funktionshebel der Belustigungsmaschine.
Doch auch an Bord lässt sich die Grundambivalenz des Konsumismus nicht wegdiskutieren: Bedürfnisse können zwar befriedigt werden, zurück bleibt aber das Gefühl, dass der existenzielle Hunger niemals komplett über Waren und Dienstleistungen zu stillen ist. David Foster Wallace hat dies so beschrieben:
"Allen Todesverleugnungsstrategien zum Trotz sind wir jetzt in der Lage, jene große Lüge zu durchschauen, die dem Katalog zugrunde liegt: Nämlich das Versprechen, das Kind in mir immer und immer wieder voll zufriedenzustellen. Ich behaupte, ein solches Versprechen kann nur gelogen sein. Was nicht bedeutet, dass ich selbst nicht allzu gern daran glaubte. Jawohl, ich sage: Scheiß auf Buddha und seine vier edlen Wahrheiten. Wenigstens dieses eine Mal soll es der ultimative Traumurlaub werden, dass sogar das ewig quengelnde Kind in mir zufrieden ist."
Im Alten Testament bestraft Gott die sündige Menschheit bekanntlich mit einer Sintflut. Im Angesicht der von Menschen gemachten Klimakatastrophe droht ohne jeden alarmistischen Beigeschmack eine menschengemachte Flutkatastrophe.
Das Hintergrundrauschen dieses ökologischen Verbrechens ist allgegenwärtig. Zwei Möglichkeiten stehen hier zur Disposition, die gleichermaßen legitim sind: entweder man geht dagegen an und versucht zu retten, was zu retten ist.
Oder man findet sich ab, richtet sich in der Misere ein und strebt danach, sein Leben möglichst angenehm - unter anderem während einer Kreuzfahrt - zu verbringen. Wenn auch mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und Ironie, wie es der Krimischriftsteller Frank Schulz empfiehlt:
"Wenn die erd- und zeitgeschichtliche Realität keine Skrupel hat, warum sollte ich welche haben? Der Meeresspiegel steigt, die Zuwachsrate der Branche auch. Gelebte Dystopie. Auf der AIDA Stella zum Beispiel gedeiht ein echter Birkenwald. Warum nicht bald von jedem Tier ein Paar? Um manche Allegorien kommt man gar nicht herum."