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Vor 100 Jahren geboren
Jessica Mitford - "Königin der Nestbeschmutzer"

Sie war das sprichwörtliche "rote Schaf" ihrer einflussreichen adligen Familie: Jessica Mitford ließ die starre Welt der britischen Aristokratie hinter sich, wanderte in die USA aus und schrieb sich als radikale, engagierte Journalistin in die amerikanischen Bestsellerlisten.

Von Michael Kleff |
    Die St.-Nikolaus-Kirche und das Herrenhaus Asthall Manor in den Cotswolds, Oxfordshire
    Auf dem idyllischen Landsitz Asthall Manor verbrachten Jessica Mitford und ihre Geschwister die Kindheit (imago stock&people)
    "Ich bin normal, meine Frau ist normal - aber von meinen Töchtern ist eine verrückter als die andere." So soll David Mitford über seine sechs Töchter gestöhnt haben. Nur zwei von ihnen lebten ein für Angehörige der Oberschicht normales Leben, sie waren verheiratet und führten Landhäuser. Die übrigen vier schockierten jede auf ihre Art durch wilden Lebensstil und extravagante politische Haltungen.
    Eine bewunderte Adolf Hitler. Eine weitere heiratete den britischen Faschisten-Führer Oswald Mosley - und wurde von einer dritten Schwester angezeigt. Die vierte - Jessica Mitford - riss aus und wurde Kommunistin. Sie war das sprichwörtlich "rote Schaf" ihrer einflussreichen adligen Familie. Für ihre Biografin Susanne Kippenberger spiegelt sich in ihrem Leben ein ganzes Jahrhundert:
    "Das fängt an beim Ersten Weltkrieg, die britische Aristokratie, also die Goldenen Zwanziger Jahre, auch die Armut, die in Großbritannien ganz extrem war, der britische Faschismus, der deutsche Nationalsozialismus, der spanische Bürgerkrieg, überhaupt der Zweite Weltkrieg, der Kommunismus in den USA, anschließend die Kommunistenhetze durch McCarthy, dann der Vietnamkrieg, die ganzen Bürgerrechtsverletzungen in den 50er-Jahren schon, und dann die Bürgerrechtsbewegung. Also, es ist eigentlich ungeheuerlich, was sie alles miterlebt und teilweise auch mitgestaltet hat."

    Adolf Hitler mit seiner britischen Freundin Unity Mitford im Englischen Garten in München.
    Adolf Hitler mit seiner britischen Freundin Unity Mitford - Jessicas Schwester - im Englischen Garten in München. (Imago / United Archives International)
    Ihre Schwester war "vernarrt in die Faschisten"
    Jessica Mitford, geboren am 11. September 1917 in der Nähe von Oxford, wuchs in einem grundkonservativ geprägten Elternhaus auf. Dennoch entdeckte sie schon früh ihr Interesse am Sozialismus. In der Pubertät begann die jüngere Schwester Unity, eine Wand des gemeinsamen Zimmers mit Hakenkreuzen und Hitlerbildern zu dekorieren, während Jessica die andere mit Hammer und Sichel schmückte.
    "1933 war ich 15. Meine Schwester Unity 18. Sie war völlig vernarrt in die Faschisten. Sie ging nach Deutschland, traf Hitler und schloss sich diesem Kreis an. Ich hasste dieses Gedankengut und wurde Kommunistin. Das hatte wohl auch noch etwas mit dem Einfluss der Generation zu tun, in der ich aufwuchs."
    Die Dreißigerjahre waren eine wahnsinnig politische Zeit. Es gab eine Menge faszinierender Ideen, die man beim Lesen aufgriff. Jessica Mitford litt darunter, dass ihre Eltern sie nicht zur Schule gehen und zu Hause unterrichten ließen. Sie war noch keine 20, als sie mit dem Sozialisten Esmond Romilly, einem Neffen von Winston Churchill, durchbrannte, um im spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen.
    Als Kommunistin geriet sie ins Visier von McCarthy
    Nach ihrer Heirat ging sie mit ihm in die USA. Nachdem Romilly bei einem Kriegseinsatz gegen Nazideutschland gefallen war, heiratete Mitford den Bürgerrechtsanwalt Robert Treuhaft und zog nach Kalifornien: "Unser Leben in Oakland war viele Jahre lang geprägt vom Kampf gegen Polizeigewalt und für die Rechte der Schwarzen. Es ging dabei auch um Dinge wie Wohnung und Arbeit. Das macht einem Rassismus nachhaltig bewusst."
    Inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde Jessica Mitford vom FBI als mögliche Staatsfeindin überwacht und vor das "Komitee für unamerikanische Umtriebe" geladen. In dieser Zeit fing sie mit dem Schreiben an und machte sich schnell einen Namen als wortmächtige Journalistin, die Artikel und Bücher über die Gesellschaft ihrer Wahlheimat schrieb.
    "Der Tod als Geschäft" über die Machenschaften der Bestattungsbranche stand 1963 fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste. Es war eine frühe Form des investigativen Journalismus und trug ihr den Namen "Königin der Nestbeschmutzer" ein. Ihre provokante und humorvolle Art machte Jessica Mitford zu einer begehrten Rednerin - nicht nur bei ihren Buchvorstellungen.
    Dazu Susanne Kippenberger: "Das hat auch wieder was mit ihrer Herkunft zu tun, dass sie so als Adlige groß geworden ist mit einem ungeheuren Selbstbewusstsein. Aber sie war sich überhaupt nicht zu schade, die Flugblätter zu verteilen und die ganze Kernerarbeit zu machen."

    Jessica war die einzige Mitford-Tochter, die sich von ihrer Familie und der konservativen Adelsgesellschaft distanziert hatte - auch wenn sie im Alter den Kontakt zu den Schwestern wieder aufnahm. Jessica Mitford starb 1996 mit 79 Jahren. Bis zu ihrem Tod blieb sie eine Kämpferin und resümierte: "Wie wohl die meisten bedauere ich nur, dass ich bei den Dingen, für die ich mich eingesetzt habe, nicht besser war. Aber man kann nicht mehr tun, als sein Bestes zu versuchen."