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Vor 40 Jahren
Veröffentlichung der Charta 77

Keine Regierung des kommunistischen Ostblocks überbot die tschechoslowakische Führung in den 1970er-Jahren an repressivem Eifer. Zugleich besaßen in keinem Satellitenstaat der Sowjetunion die Dissidenten eine so große internationale Reputation. Das Symbol der Bürgerrechtsbewegung war die "Charta 77".

Von Bert-Oliver Manig |
    Der aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann (r.) tritt am 27.03.77 im Saal des Frankfurter Gewerkschaftshauses in einer Solidaritätsveranstaltung für die Bürgerrechtsbewegung in der CSSR "Charta 77" auf. Auf dem Podium v.l. Studentenführer Rudi Dutschke, Jiri Pelikan (ehemaliger Direktor des Prager Rundfunks) und Adam Michnik (ehemaliger polnischer Studentensprecher).
    Der Liedermacher Wolf Biermann bei einer Solidaritätsveranstaltung für die Bürgerrechtsbewegung in der CSSR "Charta 77" (dpa/ picture alliance /)
    Unter den kommunistischen Diktaturen in Europa war die ČSSR die repressivste. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 schufen Strafprozesse gegen Dissidenten und Berufsverbote für zahllose Akademiker ein Klima der Angst in der Tschechoslowakei. Angesichts dieses Betonkommunismus war die Gründung einer Bürgerrechtsvereinigung in der Tschechoslowakei ein bedeutendes Ereignis: Am 7. Januar 1977 konnte man in zahlreichen führenden internationalen Blättern wie der Neuen Zürcher Zeitung, dem Londoner Guardian oder der Frankfurter Allgemeinen im Wortlaut und vollständig die Gründungserklärung der "Charta 77" lesen:
    "Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und Menschenrechten in unserem Land und in der Welt einzusetzen … Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens."
    Staatssicherheit wurde blamiert
    Mit der Veröffentlichung in der Weltpresse hatten die Bürgerrechtler die allgegenwärtige Staatssicherheit blamiert und sich internationale Aufmerksamkeit gesichert. Einer der Sprecher der Bewegung, der Philosoph Jan Patočka, wurde einige Wochen später vom niederländischen Außenminister Max van der Stoel in dessen Prager Hotelzimmer empfangen, wo Patočka die Zielsetzung der Charta erläuterte:
    "Wir stehen auf dem Boden der Verfassung dieser Republik und ihrer Gesetze. Uns geht es überhaupt nicht um irgendwelche verfassungsmäßigen Änderungen oder Vorschläge, sondern und nur um den modus procedendi, um die Anwendung der gültigen tschechoslowakischen Gesetze."
    Tatsächlich verstieß das Regime fortwährend gegen die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die die ČSSR im August 1975 widerwillig auf Geheiß der Sowjetunion unterzeichnet hatte. Darin hatte sie sich zur Achtung der Menschen- und Bürgerrechte verpflichtet.
    Die strikt am geltenden Recht orientierte Argumentation der Bürgerrechtler war für die um ihre internationale Reputation besorgte Prager Führung überaus störend, zumal Intellektuelle von Weltruf wie Heinrich Böll und Arthur Miller ihr Wort für die Charta-Bewegung erhoben. Auch ihre breite Verankerung in verschiedenen Milieus sahen die Kommunisten als Gefahr an. Einer der Autoren der "Charta 77", Pavel Kohout, erinnerte 2010 daran:
    "Zum ersten Mal seit dem Jahre 1918 waren es Unterschriften von allen Ecken der tschechischen Gesellschaft. Also von allen: von ehemaligen Kommunisten, von Evangelischen, von ehemaligen Trotzkisten, von Katholiken. Also es war alles dabei. Und das war natürlich der große Schrecken des Regimes, dass man also plötzlich alle gegen sich hatte."
    Tatsächlich war der Kreis der 241 Erstunterzeichner der Charta nicht auf die Prager Dissidentenszene beschränkt, in der bürgerliche Intellektuelle wie Václav Havel oder ehemalige Reformkommunisten wie Pavel Kohout und Jiři Hájek dominierten; auch Repräsentanten der jugendlichen Subkultur und einzelne Pfarrer waren vertreten.
    Regime reagierte mit Diffamierungskampagne
    Das Regime reagierte kopflos mit einer wüsten Diffamierungskampagne gegen die Bürgerrechtler, die an die stalinistische Ära erinnerte und nicht einmal vor antisemitischen Tönen zurückschreckte. Unterzeichner der "Charta 77" wurden schikaniert, verhaftet oder ausgebürgert – doch unterdrücken ließ sich die Bewegung nicht mehr. Pavel Kohout erklärte dies so:
    "Das Problem jeder Macht, totalitären Macht, und jeder Staatssicherheit ist, dass, wenn sie nicht töten oder foltern können, dann sind sie verloren. Und sie durften nicht töten und durften nicht foltern, weil die Sowjetunion damals mit dem Helsinki-Abkommen in das europäische Salon gehen wollte und die wirtschaftlichen Errungenschaften wurden der Sowjetunion viel wichtiger als eine Strafe eines Satellitenregimes."
    Bis 1989 bekannten sich fast 2000 mutige Bürger zur "Charta 77", ihre Führer wurden von Millionen Tschechen als legitime Repräsentanten der Nation angesehen. Als die Diktatur zusammenbrach, stand eine geachtete Gegenelite bereit: Charta-Aktivisten übernahmen politische Ämter und Václav Havel wurde zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt.