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Vor Beginn der Münchener Sicherheitskonferenz
"Ein Weltpolizist existiert nicht mehr"

Das Risiko einer militärischen Konfrontation zwischen den Großmächten ist nach Einschätzung von Wolfgang Ischinger so groß wie seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr. Das liege auch daran, dass die USA sich aus ihrer Rolle als eine große Ordnungsmacht zurückgezogen hätten, sagte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz im Dlf.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, am Rednerpult
    Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, auf einer Veranstaltung im Vorfeld des Treffens (picture alliance / Annegret Hilse / dpa)
    Christoph Heinemann: Wer miteinander redet, der greift in der Regel nicht gleichzeitig zu den Waffen. Stark vereinfacht ist in diesem Satz der Sinn der Münchner Sicherheitskonferenz zusammengefasst. Staats- und Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Offiziere, Fachleute der Nachrichtendienste und aus der Wirtschaft reisen einmal im Jahr nach München, um dort einander zuzuhören und sich miteinander auszutauschen. Von Norden vielleicht mal abgesehen, bietet der Blick in fast jede andere Himmelsrichtung Anlass zur Sorge. Nordkorea, China, Naher Osten, Iran, Türkei, Russland, USA, Afrika, oder anders ausgedrückt atomares Säbelrasseln, Hegemoniebestrebungen, Migration, Klimawandel, Wassermangel und verhaltensoriginelle Staatenlenker, deren Rhetorik mit dem Begriff pubertär noch höflich beschrieben wäre. Mittendrin eine Europäische Union, die nicht so recht weiß, was sie eigentlich will. Es gibt also einiges zu besprechen im Hotel Bayerischer Hof in München.
    Botschafter Wolfgang Ischinger leitet die Münchner Sicherheitskonferenz. Er hat als Staatssekretär im Auswärtigen Amt gearbeitet, war oberster Vertreter Deutschlands in den USA, jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen.
    Heinemann: Herr Ischinger, Blick zurück. Vor einem Jahr bezog die Trump-Truppe die Regierungsbüros in Washington. Was hat sich seither verändert?
    Ischinger: Vor einem Jahr kann man die Stimmung unter den westlichen Entscheidungsträgern so beschreiben, dass man den Eindruck hatte, wir nähern uns dem Abgrund, wir nähern uns dem Ungewissen – eine bedrückte Stimmung angesichts der neuen Figur in Washington. Ich denke, dass jetzt, ein Jahr später, wir richtig liegen, wenn wir als Motto für den Bericht, den wir vor ein paar Tagen vorab vorgestellt haben, und auch als Motto für die Konferenz jetzt gewählt haben: "Hin zum Abgrund – und zurück?" Mit anderen Worten: Es gibt hoffentlich – ich hoffe, ich behalte recht – Anzeichen dafür, dass sich die Dinge etwas beruhigt haben. Die NATO existiert weiter. Es sind amerikanische Truppen in Europa zur Rückversicherung der Europäer da. Wir haben erlebt, dass es in Washington zu einem Abgang der allzu radikalen Veränderer gekommen ist aus der Regierung. Es haben sich doch anscheinend die in der Sache eher durchgesetzt, die für Kontinuität und amerikanische Verlässlichkeit sind. Also nicht ganz so schlimm vielleicht wie noch vor einem Jahr.
    "Die Kontakte, die es früher zuhauf gab, sind im Wesentlichen eingefroren"
    Heinemann: Herr Ischinger, wenn Sie gestatten: Das Wort Abgrund möchte ich noch mal aufgreifen. Drohen gegenwärtig große internationale militärische Konflikte?
    Ischinger: Wir haben noch nie seit dem Ende der Sowjetunion eine so hohe Gefahr auch einer militärischen Konfrontation zwischen Großmächten gehabt. Das Misstrauen beispielsweise zwischen der Militärführung in Washington und in Moskau ist abgrundtief! Es könnte gar nicht schlimmer sein. Die Kontakte, die es früher zuhauf gab, sind im Wesentlichen eingefroren. Die Gefahr von Missverständnissen, denken Sie an die Vorgänge in und um Syrien, denken Sie an die Vorgänge in und um Nordkorea, die Gefahr von Fehlkalkulationen, von ungewollten eskalatorischen Manövern ist größer, als ich sie in Erinnerung habe über die letzten 30 Jahre hinweg.
    Heinemann: Welche Rolle spielt dabei die Rhetorik? Oder mal anders gefragt: Wieso wirkt dieses Urwaldverhalten in der Politik auf manche Menschen anziehender als diese vermittelnde harte Arbeit, Ihre Arbeit, der Diplomatinnen und Diplomaten?
    Ischinger: Na ja, Stichwort Populismus. Es ist natürlich anscheinend in manchen Kulturen, ich denke, das gilt nicht für Deutschland, aber in manchen Kulturen einfacher, die Leute auf die eigene politische Seite zu ziehen, wenn man den harten Mann markiert – siehe die Art und Weis e, wie sich der türkische Präsident präsentiert, siehe die Art und Weise, wie sich Präsident Putin innenpolitisch hohe Zustimmungsraten Jahr für Jahr sichert, obwohl es seiner Wirtschaft nun wirklich nicht besonders gut ergangen ist in den letzten längeren Jahren. Das ist eine unglückselige Entwicklung. Immer häufiger, so ist mein Eindruck, wird versucht, nicht nur mit Waffen zu drohen, sondern den Waffeneinsatz tatsächlich zu praktizieren, um eigene Interessen durchzusetzen. Woran liegt das? – Es liegt daran, dass eine große Ordnungsmacht, ein Weltpolizist, um es salopp auszudrücken, in der Form, wie wir ihn längere Jahre, vielleicht Jahrzehnte hatten, nicht mehr existiert. Die USA haben sich doch in sichtbarer Weise von dieser früheren Rolle zurückgezogen, insbesondere im Nahen und Mittleren Osten.
    Hinsichtlich China laute das Zauberwort Reziprozität
    Heinemann: Und es gibt einen Dritten im Bunde. Reagiert die internationale Gemeinschaft angemessen auf chinesische Hegemoniebestrebungen?
    Ischinger: Das Zauberwort lautet Reziprozität. Wenn wir Europäer als ein Staatenverbund, eine Einheit von 500 Millionen Menschen, die Interessenvertretung von 500 Millionen gegenüber China ernst meinen, dann müssen wir das Zauberwort Reziprozität benutzen. Das was China bei uns darf, darf China dann, wenn wir das auch in China dürfen. Das ist der schlichte Satz. Wenn allerdings die Europäische Union weitermacht, so wie sie es bisher praktiziert, dass sie sich auseinanderdividieren lässt, dass sie nicht imstande ist, China gegenüber mit einer Stimme eben nicht nur in der Handelspolitik, sondern auch in außenpolitischen und anderen Fragen aufzutreten, dann ist es kein Wunder, wenn die 28 europäischen Kleinstaaten von China natürlich entweder ignoriert, oder schlicht ausmanövriert werden.
    "Langfristig gibt es kein besseres Projekt als das westliche Projekt der Beteiligung der Bürger"
    Heinemann: Hat vielleicht auch damit zu tun, Herr Ischinger, dass das Beispiel China ja zeigt, dass Wohlstand auch unter autoritären Regimen entstehen kann, und zwar in Rekordzeit. Sind Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit noch so alternativlos, wie im Westen häufig behauptet wird?
    Ischinger: Ich glaube, schlussendlich auf die lange Sicht ja. Schauen Sie, in China ist man jetzt zu dem Ergebnis gekommen, man hat in der Tat in den letzten 30 Jahren große Fortschritte gemacht bei der Erfüllung der materiellen Notwendigkeiten bei einer riesigen Zahl von in Armut lebenden hunderten von Millionen Chinesen. Jetzt kommt die schwierigere Phase, die nicht materiellen Bedürfnisse dieser Chinesen – ich spreche jetzt vom Internet, ich spreche von Beteiligung, ich spreche von politischer Partizipation – anzupacken. Da wollen wir dann mal sehen, ob die Alleinherrschaft der Partei, so wie man sich das vermutlich in Peking immer noch vorstellt, unangefochten weitergeht. Ich glaube, langfristig gibt es kein besseres Projekt als das westliche Projekt der Beteiligung der Bürger, des in den Mittelpunkt Stellens der Würde des Einzelnen, die Freiheitsrechte. Ich persönlich habe keinen Zweifel daran, dass unser Modell das langfristig richtige ist, auch wenn es schwierig ist und es natürlich nicht so einfach ist wie in Peking, wo dann ein Mann oder vielleicht das Politbüro mit acht Mann Entscheidungen durchpeitscht, über die man bei uns tage-, wochen-, monate-, vielleicht jahrelang ringt – siehe die vielen, vielen Seiten des jetzigen Koalitionsvertrages. Da kann einem in der Tat Angst und Bange über die Effizienz demokratischer Prozesse werden.
    "Ich bin der Meinung, in den Außenbeziehungen liegt die Zukunft der EU"
    Heinemann: Vielleicht bietet auch ein anderes Phänomen Anlass zur Sorge, denn alle Wahlergebnisse in mehreren EU-Staaten, auch in Deutschland, lassen ja den Wunsch einer Renationalisierung der Politik erkennen. Was heißt das für die internationalen Beziehungen?
    Ischinger: Das ist für die internationalen Beziehungen, für die Vertretung außenpolitischer Interessen schlicht und ergreifend barer Unsinn, ein Holzweg. Es ist weder sachlich, noch perspektivisch vorstellbar, dass die Vertretung außenpolitischer Interessen europäischer Kleinstaaten durch den Rückweg in die Idylle des 19. Jahrhunderts besser vertreten werden könnten. Der einzige Weg, um die Interessen unserer europäischen Bürger in einer globalisierten Welt, in einer vernetzten Welt zu vertreten, ist ja eben nicht weniger Integration, sondern eher mehr Integration. Und, Herr Heinemann, es mag ja sein, dass die Bürger keine Lust haben, sich aus Brüssel vorschreiben zu lassen, wie die Krümmung der Gurke aussieht. Aber alle Umfragen zeigen, alle Umfragen zeigen, dass die europäischen Bürger, übrigens einschließlich die im Vereinigten Königreich, einen Wunsch an die Europäische Union haben, nämlich dass die Europäische Union schützt. Das hat ja auch Emmanuel Macron so ausgedrückt. Also wenn es gelingt, eine Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union so zu formulieren und durchzusetzen, die dem Bürger das Gefühl gibt, seine Sicherheit, seine innere Sicherheit, seine Sicherheit vor Terrorismus, seine Sicherheit vor Kriminalität, seine Sicherheit vor äußeren Gefahren wird durch die Europäische Union gestärkt und gefestigt, dann kriegen wir ein ganz neues Lebensgefühl für die Europäische Union hin. Ich bin der Meinung, in den Außenbeziehungen liegt die Zukunft der EU.
    Heinemann: Botschafter Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Ischinger: Auf Wiederhören! – Danke Ihnen.