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Vorlesen in Vilnius

Sturla Jon, Hauptheld des Romans "Der Botschafter" von Bragi Olafsson, ist Lyriker. Da er von seinen Lyrikbänden nicht leben kann, verdingt er sich als Hausmeister. Sein jüngster Gedichtband ist soeben in Island erschienen, als er zu einem Literaturfestival nach Litauen eingeladen wird. Diese Einladung ist für ihn der Auslöser, fortan keine Lyrik mehr zu schreiben, sondern Erzählungen oder einen Roman und zwar speziell einen über diese Reise. Die Leser von Bragi Olafssons Roman sind also gleichzeitig Zeugen seiner Entstehungsgeschichte.

Von Antje Strubel |
    Was Sturla Jon in Litauen erlebt, ist zum einen die sattsam bekannte Last, gemischt mit der weniger bekannt gemachten Lust, als Autor an Literaturfestivals teilzunehmen; es gibt viel Alkohol, die teilweise verschrobenen, teilweise eitlen, im Grunde aber immer ruhmsüchtigen Literaten, die überfreundlichen Praktikantinnen, die einen vom Bahnhof abholen, die besorgten oder vergilbten und immer gestressten Veranstalter. Da ist die viele Zeit der Vormittage, die Sturla Jon in den Straßen von Vilnius verbringt, da sind die sterilen Hotelzimmer, die Lobbys, in denen der Kaffee nicht schmeckt, die Lobbys, in denen es keinen Kaffee gibt, die Lobbys, in denen man um keinen Preis Kaffee trinken will. Da sind der Neid und die Bewunderung auf die Texte der Kollegen, und das große Bewusstsein, dass dieses Ereignis nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung überhaupt interessiert.

    Die Reise nach Litauen ist für Sturla Jon aber auch eine Geschichte der Verwechslungen, Diebstähle und Plagiate. Bevor er nach Litauen fährt, kauft er sich einen teuren Mantel, der seine Schultern so schützen soll wie das Cover eines Buches das Buch gewöhnlich vor dem Verstauben schützt, wie der Lyriker befindet. Dieser außergewöhnliche Mantel wird ihm allerdings am ersten Abend in Vilnius geklaut. Und so, wie sich von einem Buch, das kein Cover hat, schlecht sagen lässt, wer der Autor ist, scheint auch dem Lyriker ohne Mantel die eigene Existenz in den Straßen von Vilnius immer unwirklicher zu werden. Er lässt sich treiben und landet in einem Strip-Lokal. Er lernt mysteriöse Russen kennen, später findet er sich volltrunken mit der Stripperin in einer dunklen Gasse wieder, und erst, als er ihren intensiven Knoblauchgeruch wahrnimmt, wird ihm die groteske Situation bewusst: das Glücksgeld, das er in einer Spielhalle gewonnen hatte und für eine unvergessliche Erinnerung an diese Reise ausgeben wollte, will er in diesem Moment für die Stripperin ausgeben.

    Daheim in Island kommt unterdessen die Frage auf, wer der wirkliche Autor seines jüngst erschienen Gedichtbands ist. Sturla Jons Vater berichtet dem Sohn am Telefon von einem Zeitungsartikel, in dem man ihn des Plagiats bezichtigt. Dem Lyriker wird öffentlich vorgeworfen, die Gedichte seines neuen Bandes von seinem Cousin abgeschrieben zu haben. Der Cousin, mit dem Sturla Jon in die Schule ging, dichtete selber heimlich und nahm sich mit zwanzig das Leben. Seine Gedichte bewahrte er in einer eleganten Ledermappe auf, die Sturla Jon nach dem Tod des Cousins erbte. Dessen Gedichte hatte er schon vor 20 Jahren gelesen und verinnerlicht, seither liegt die Mappe in seinem Schreibtisch. Den Cousin selbst konnte er nie so richtig leiden, was einerseits daran lag, dass der gepumptes Geld nicht zurückgab, andererseits an der nagenden Eifersucht auf die sprachliche Schönheit seiner heimlich produzierten Texte. Sturla Jon erfährt durch den Artikel außerdem, dass sein Cousin vor dem Suizid ein Verhältnis mit seiner Mutter hatte, einer Alkoholikerin, die erstaunlich selbstbewusst ist und weise amüsante Sätze von sich gibt.

    Der Lyriker, der halb ironisch mit dem Gedanken spielt, für ein paar Tage tatsächlich so etwas wie ein isländischer Nationaldichter zu sein und sein Land in der Fremde zu vertreten, stürzt sich in Bier und Schnaps, in Gespräche mit einer verführerischen weißrussischen Dichterin und ist schließlich auf der Flucht. Nachdem Sturla der Mantel gestohlen wurde, stiehlt er wiederum den teuren Mantel eines amerikanischen Kunsthändlers. Und dieser Kunsthändler ist ausgerechnet der Hauptsponsor jenes Festivals, auf das Jon eingeladen wurde. Man erkennt ihn, beschuldigt ihn des Diebstahls, was Jon zur Abreise zwingt. Bis zu seinem Rückflug checkt er unter einem griechischen Namen in einer kleinen Pension am Stadtrand ein.

    So geht es in diesem Buch um gestohlene Mäntel und gestohlene Gedichte und am Ende um ein gestohlenes Herz. Die weißrussische Dichterin hat es ihrem Kollegen so angetan, dass er ihr nach einer gemeinsamen Nacht in Vilnius nach Weißrussland folgt.

    Bragi Olafsson, der zweimal für den isländischen Literaturpreis nominiert war und Bassist in der Band The Sugarcubes, die Björk bekannt machte, treibt sein Spiel mit der Frage nach dem Ich. Die Reise Sturla Jons dauert nur wenige Tage, aber in dieser Zeit stellen sich das Leben und die eigene Existenz einmal auf den Kopf: Ich ist ein anderer könnte man mit Rimbaud sagen; Sturla Jon wird sich im Mantel des Kunsthändlers fremd. Und er schreibt die Texte eines anderen, auch wenn er sie nicht plagiiert hat. Das Plagiat ist für Olafsson eine Metapher dafür, dass man im eigenen Text jederzeit andere Texte mitschreibt; nicht nur die eines toten Cousins; jedes Gedicht rekurriert auf lyrische Traditionen, greift sie auf oder verwirft sie, wäre ohne sie aber undenkbar. Und das Plagiat wird zum Zeichen dafür, dass das eigene Gedicht nicht mehr als ein Mantel ist, der einen für eine gewisse Zeit einhüllt, dann aber abgelegt wird, um durch das Schreiben eines neuen Gedichts wiederum ein anderer zu werden. Vom Schreiben als Verwandlung handelt der Roman "Der Botschafter", den Tina Flecken gekonnt aus dem Isländischen übersetzt hat. Und ein bisschen handelt dieses Buch auch von der isländischen Geduld. - Einer wahrscheinlich am schlechten Wetter geschulten Geduld. Anders lässt sich die streckenweise zähe Länge dieses Buches nicht erklären.

    Bragi Olafsson: Der Botschafter. S. Fischer, 288 Seiten, 19,95 Euro