Die Maschinen laufen langsam wieder auf Hochtouren. In Deutschland, beim einstigen Exportweltmeister, brummt es. Die Unternehmen in den klassischen Exportbranchen: Auto-, Elektro- und Maschinenbauindustrie - sind recht gut beschäftigt. Der Maschinenbau meldete, im Mai seien real sage und schreibe 61 Prozent mehr Aufträge hereingekommen als im – zugegeben – schlechten Mai 2009. Der Chefvolkswirt des Maschinenbauverbandes, Ralph Wiechers, war von den Daten selbst überrascht:
"Bei diesen hohen Zuwächsen wird uns im Verband, aber auch in den Unternehmen, natürlich schwindelig. Weil gestern noch tiefe Einbrüche, heute schon diese rasanten Anstiege. Das stellt die Unternehmen vor riesige Herausforderungen hinsichtlich ihrer Prozesse, hinsichtlich ihrer Organisation."
Es ist noch gar nicht so lange her, da versuchte die Industrie, mit Hilfe von Kurzarbeit den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern. Jetzt können die Aufträge gar nicht mehr schnell genug abgearbeitet werden. Die Folge: Überstunden und Urlaubssperre. Das Gleiche auch in der Autoindustrie. Daimler etwa hat gerade die Kurzarbeit in Sindelfingen beendet, seinem größten Pkw-Werk. Wegen der anziehenden Nachfrage gerade nach der gewinnträchtigen S-Klasse. BMW prüft, die Werksferien zu verkürzen. Zeitarbeiter werden engagiert, um die Stammbelegschaft zu ergänzen. Die Branche hat im ersten Halbjahr im Inland ihre Pkw-Produktion um 23 Prozent ausgeweitet. Die Pkw-Exporte schnellten um 44 Prozent nach oben. Deutsche Autos sind wieder gefragt. Vor allem im Ausland. Matthias Wissmann, der Präsident des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie, frohlockte bei der Vorlage der Halbjahresbilanz:
"Wir sehen eine Erholung auf wesentlichen internationalen Automobilmärkten, die deutlich schneller verläuft, als viele - auch wir - das noch Anfang des Jahres erwartet haben."
Doch die Exportnation Deutschland muss sich immer häufiger Kritik gefallen lassen. Deutschlands Stärke gehen zu stark zu Lasten seiner Handelspartner, heißt es. Einer der lautesten Kritiker: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dort wächst die Angst vor einer abermaligen Rezession. Die Industrie hat dort im Mai - zum ersten Mal seit neun Monaten – wieder weniger Aufträge bekommen. Der Auftragseingang sank um 1,3 Prozent. Auf dem Arbeitsmarkt sind im Juni 125.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.
Hinzu kommt, die Vereinigten Staaten leben seit Jahren über ihre Verhältnisse, führen mehr Waren ein als sie exportieren. Seit zehn Jahren schwankt das amerikanische Leistungsbilanzdefizit zwischen drei und gut fünf Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Deshalb reiste im Juni Präsident Obama mit der Forderung zum G20-Gipfel nach Toronto: Länder mit Außenhandelsüberschuss müssten Konsum und Binnennachfrage stärken. Namen nannte er keine. Doch allen war klar: Gemeint ist Deutschland. Und in Europa rügte die französische Finanzministerin Christine Lagarde die deutsche Exportmacht – kein Wunder: Ist der deutsche Außenhandelsüberschuss mit Frankreich doch der größte in der EU. Jährlich kaufen die Franzosen für 27, 28 Milliarden Euro mehr deutsche Waren ein als die Deutschen französische. Christine Lagarde will die Deutschen bewegen, dies zu ändern und appellierte dabei an den Geist der europäischen Verträge, den Geist des gegenseitigen Gebens und Nehmens:
"Ich werfe den Deutschen nicht Egoismus vor. Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren sehr angestrengt, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dabei stützen sie sich auf einen großen Motor: den Export. Aber in einer Krise muss sich jeder anstrengen, und diese Anstrengung muss geteilt werden, erst recht in einer solidarischen Wirtschaftsgemeinschaft. Deutschlands Beitrag könnte sein, selbst mehr zu konsumieren. Das würde uns helfen. Denn die Deutschen sind unsere wichtigsten Handelspartner."
Immerhin konnte Frau Lagarde damit klarstellen: Es gehe ihr nicht darum, die deutschen Exporte künstlich zu drosseln. Da wäre auch der deutsche Wirtschaftsminister vor. Rainer Brüderle hat immer noch den Verdacht, die Kritik an der deutschen Exportleistung sei eine Kritik an der Wettbewerbsfähigkeit, an Fleiß und Kreativität der Beschäftigten und der Unternehmen. Noch Ende Juni unterstellte er Kritikern, sie wollten die deutsche Regierung dazu bringen, Deutschlands Wettbewerbsposition künstlich zu verschlechtern.
"Nun gibt es einige, die stellen unser erfolgreiches Exportmodell infrage. Die sagen: Erhöht drastisch die Löhne. Macht noch mehr Konjunkturprogramme. Meine Damen und Herren! Das ist der falsche Weg. Das wäre eine Art schleichende Griechenlandisierung der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht."
Auch Ökonomen debattieren darüber, ob Deutschland zu stark auf den Export setzt und dabei die Binnenkonjunktur vernachlässige. Michael Heise, Chefvolkswirt der Allianz, gehört zu denen, die die zunächst als Fundamentalkritik herübergekommenen Vorwürfe der französischen Finanzministerin für nicht gerechtfertigt halten. Heise vergleicht beide Volkswirtschaften und macht einige Unterschiede deutlich:
"Der französische Export verläuft nicht ganz so stark wie der deutsche, aber im wesentlichen ist auch Frankreich eine Wirtschaftsmacht auf den globalen Märkten geworden, und insofern ist diese Kritik für mich nicht ganz verständlich gewesen. Solche Äußerungen helfen nicht, eben auch die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs weiter zu verbessern, auch darum muss es gehen. Und nicht den Wettbewerber zu kritisieren."
Heiner Flassbeck, Chefökonom bei der UNCTAD, der UN-Organisation für Handel und Entwicklung in Genf, hält die französische Vorgehensweise, die Löhne zu erhöhen, für sinnvoller:
"Wir haben eine extrem schwache Binnennachfrage, wir haben extrem schwache Investitionen im internationalen Vergleich. Vergleichen sie das mal mit Frankreich, das eine vernünftige Lohnpolitik gemacht hat. Konsum und Investitionen sind beide wesentlich höher als in Deutschland. Die Binnennachfrage ist ganz vernünftig gestiegen. Die Exporte sind auch gestiegen, aber nicht so explodiert wie in Deutschland. Da sind die Exporte explodiert. Und der Rest ist Katastrophe."
Doch ganz gerechtfertigt ist der Vorwurf nicht, Deutschlands Erfolg gehe auf Kosten der Nachbarn. Immerhin, so haben Ökonomen berechnet, fließen aus jedem Euro, den Deutschland im Export einnimmt, 45 Cent in den Import – von Zulieferungen aus dem Ausland. Ein Beispiel: Audi lässt sämtliche Motoren in Ungarn bauen. In jedem exportierten Audi steckt also ein gutes Stück Import.
Und klar ist auch, dass deutsche Exporterfolge oft nur so strahlen können, weil andere Fehler machen und dann in die Krise rutschen. Darauf weist der Darmstädter Volkswirt Volker Caspari hin. Deutschland müsse wegen seines Exports kein schlechtes Gewissen haben:
"Wenn wir Überschüsse produzieren und die als Ersparnisse dem Kapitalmarkt zur Verfügung stellen, also sprich: die Deutschen sparen, bringen es auf ihr Sparbuch und die Banken es wieder ausleihen können, heißt das ja nicht, dass man in anderen Ländern sich verschulden muss. Sondern das kann durchaus sein, dass in anderen Ländern dann Investitionsprojekte durchgeführt werden mit diesen Kapitalüberschüssen, die man in Deutschland produziert. Das ist ja für diese Länder ein Vorteil. Wenn die die natürlich in Projekte investieren, die anschließend platzen, dann ist es deren Problem. Also, wenn ich Häuser baue in Spanien, die anschließend nicht vermietet werden können, dann hat doch der deutsche Sparer daran keine Schuld, sondern der spanische Investor."
Dennoch wirkt Deutschland gelegentlich nicht ganz unschuldig an der Misere seiner Handelspartner. So verlangte die Bundesregierung quasi in einem Atemzug vom EU-Partner Griechenland, ein drastisches Sparprogramm aufzulegen. Und drang zugleich beim NATO-Partner Griechenland darauf, Rüstungsgüter aus Deutschland zu kaufen.
Das wirkt schizophren. Andererseits wollen deutsche Politik und deutsche Wirtschaft natürlich nicht auf Wettbewerbsvorteile verzichten, die sich dann ergeben, wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Dazu gehört, dass in Deutschland die Rente mit 67 Gesetz ist, während die Franzosen gegen ein Renteneintrittsalter von 62 Jahren auf die Straße gehen.
Ökonomen sind sich inzwischen auch weitgehend einig, dass Deutschland nicht gezwungen werden könne, seine Wettbewerbsposition zu verschlechtern und die Exportmengen zurückzufahren. So meint Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des IMK, des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung:
"Es geht nicht um Beschneidung der Exporte oder um Beschneidung der Qualität oder der Wettbewerbsfähigkeit. Das steht alles nicht zur Debatte. Zur Debatte steht, wie viel Deutschland importiert. Das Gleichgewicht in der deutschen Außenhandelsbilanz muss wieder dadurch hergestellt werden, dass wir mehr importieren, nicht dass wir mehr exportieren. Und dazu gehört natürlich eine wesentlich kräftigere Binnennachfrage als wir sie derzeit haben."
Denn zu bedenken bleibt auch: Je abhängiger eine Wirtschaft vom Export ist, umso abhängiger ist sie auch von der Weltkonjunktur. Kühlt die ab, bricht die Wirtschaft ein. Schon 2008 waren die Wachstumsimpulse nur aus dem Inland gekommen, der Export hatte sogar leicht gebremst, das Bruttoinlandsprodukt hatte da schon nur noch um 1,3 Prozent zugelegt. Im vergangenen Jahr war dann der Exporteinbruch um 15 Prozent maßgeblich für den Absturz der Gesamtwirtschaft um fünf Prozent verantwortlich.
Die Gretchenfrage ist deshalb: Wie schafft man es, die heimischen Unternehmen zum Investieren und die Verbraucher zum Konsumieren zu bewegen? Und das in einer Zeit, in der die Staaten weltweit hoch verschuldet sind? Muss man die Wirtschaft weiter stimulieren? Und wenn, wie lange? Wie lange kann der Staat sich das leisten? Ist die Schaffung von Arbeitsplätzen der richtige Weg? Oder erst einmal höhere Löhne?
Für Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung ist die Antwort eindeutig: Der Staat muss die Wirtschaft weiter anschieben:
"Wir haben bei den öffentlichen Investitionen einen ungeheuren Nachholbedarf. Wir sind das größere europäische Land, dass am wenigsten investiert. Wir machen nur noch halb so viel wie der Durchschnitt unserer westeuropäischen Partner. Das hat Konsequenzen für unsere öffentliche Infrastruktur, die zusehens verfällt. Wir könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir könnten eine bessere Infrastruktur bekommen. Und wir könnten die Stimulanz der Binnenkonjunktur erreichen."
Ihre Investitionen haben die Unternehmen in der Krise tatsächlich stark zurückgefahren. Das aber ist eine gefährliche Entwicklung, die sich Deutschland auf Dauer nicht leisten kann, meint Allianz-Chefvolkswirt Heise. Denn die deutsche Wirtschaft sei wie kaum eine andere abhängig davon, dass ihr Kapitalstock, also auch ihre Produktionsanlagen, hocheffizient blieben und die Qualifikation der Beschäftigten, in der Fachsprache der Volkswirtschaft das Humankapital, auf höchstem Niveau gehalten werden:
"Deswegen kommt alles darauf an, dass wir eben Humankapital und Sachkapital weiter massiv fördern. Wir stellen fest, dass die Investitionen eingebrochen sind in Deutschland, so wie in vielen Ländern auch im Zuge der Krise, aber das kann kein nachhaltiges Niveau sein. Unser Kapitalstock wächst in Deutschland nur noch sehr moderat, wenn man es gesamtwirtschaftlich sieht. In der Industrie dürfte er stagnieren. Das kann kein Rezept sein für ein hoch entwickeltes Land, das auf den globalen Märkten eine so enorme Position erlangt hat. Da ist es erforderlich, dass wir unseren Kapitalstock modernisieren und stärker erweitern als das jetzt zur Zeit passiert. Daher kommt sehr, sehr viel auf die Investitionsbedingungen an."
Hier geht es also um die Rahmenbedingungen, die dann vom Staat gesetzt werden müssen. Dazu zählen auch Investitionen in den Arbeitsmarkt. So hat die Verlängerung der Kurzarbeiterreglung im vergangenen Jahr den Arbeitsmarkt stabilisiert. Die Arbeitnehmer hatten ja auch durch ihre Lohnzurückhaltung zuvor maßgeblich dazu beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft in der Krise nicht noch weiter abgerutscht ist. Aber auf Lohndumping hätten sich die Arbeitnehmer nicht eingelassen, sagt Wolfgang Rhode, Vorstandsmitglied der IG Metall:
"Wir denken, dass die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Maschinenbaus auf einem technologischen Wettbewerbsvorsprung basiert. Wir können nicht feststellen, dass in irgendeiner Weise Wettbewerbsvorteile über Lohndumping oder Lohnmoderation geschehen ist, sondern das ist Wettbewerbsfähigkeit über Technologieführerschaft, wenn Sie so wollen."
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung empfiehlt den Arbeitnehmern aber auch weiterhin, sich bei ihren Lohnforderungen zurückzuhalten. Ökonom Horn hält das nicht für ein Allheilmittel:
"Ich finde es bemerkenswert, dass der Sachverständigenrat in jeder Situation Lohnzurückhaltung fordert. Er hat es in der Krise gefordert, er hat es im Aufschwung gefordert. Eigentlich fordert er es immer. Das kann nicht lange die richtige Lohnpolitik sein. Ich meine, dass über die Stimulanz der Binnenkonjunktur, wenn dann die Konjunktur gut läuft, eben auch deutlich stärkere Lohnerhöhungen drin sein müssen, sodass die Arbeitnehmer wieder mindestens proportional am Leistungsfortschritt der Volkswirtschaft beteiligt werden, dass wir also Löhne haben, die mit der Produktivität steigen und nicht dahinter zurückbleiben. Dann erst steigen ja auch die Einkommen signifikant. Und mit diesen stärkeren Einkommen haben wir dann eben auch die Binnenkonjunktur, die wir brauchen."
Dass mit steigenden Löhnen automatisch auch die Konsumneigung steigt, das ist in Deutschland nicht selbstverständlich. Denn Sparen ist eine deutsche Tugend: Im Schnitt legten die Deutschen im ersten Quartal dieses Jahres von 100 Euro 15,20 Euro zurück.
In den unteren Einkommensschichten bleibt zum Sparen ohnehin nichts übrig, das Geld fließt gleich in den Konsum. Wettbewerbsfähig bleiben, auch in der Lohnquote, um so mehr Beschäftigung und mehr Konsum zu schaffen – das ist deshalb der Ansatz des Bundeswirtschaftsministers. Rainer Brüderle.
Brüderle ist auch der Ansicht, mehr Binnennachfrage über höhere Investitionen verlange auch mehr Offenheit gegenüber neuen Technologien: Die seien in Deutschland so stark umstritten, dass die Unternehmen gezwungen seien, ins Ausland auszuweichen.
"Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland investieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein nach Rückwärts gerichtetes Denken schaden unserem Land. Die Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie oder der Gentechnik auflösen. Wer in Deutschland nicht investieren darf, wird quasi zum Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz."
Zudem wissen Ökonomen, dass ein Staat, der die Konjunktur mit viel Geld fördert, seinen Bürgern Angst machen kann: Angst vor öffentlicher Überschuldung. Die Folge: Die private Sparneigung steigt, die private Nachfrage erstickt. Michael Heise von der Allianz:
"Das ganze Thema Eurokrise, Staatsbankrotte im Euroraum, Überforderung des deutschen. Fiskus mit Rettungsprogrammen und ähnliches ist natürlich ein Thema, das auf dem Konsumenten lastet, ihn verunsichert und ihn veranlasst, eher ein bisschen mehr zur Seite zu legen. Ich hoffe, dass wir dieses Thema überwinden können. Dazu gehört meines Erachtens auch eine sinnvolle und mittelfristige Konsolidierung. Die wird wieder mehr Sicherheit schaffen, und dann wird auch die Sparquote im Zuge der Konjunkturerholung wieder etwas zurückgehen. Das würde dann auch helfen, um mehr Binnendynamik zu schaffen."
Auch deshalb also ist eine Rückführung der Staatsschulden angesagt. Das sehen die Vereinigten Staaten zwar anders und wollen die Wirtschaft noch länger mit mehr Geld stützen. Doch dafür haben die Bürger in Deutschland kein Verständnis, denn das würde auch bedeuten, die Staatsschulden weiter aufzublähen. Deshalb konnte sich der G20-Gipfel im kanadischen Toronto auch nur auf die vieldeutige Formulierung verständigen, einen ausbalancierten Sparkurs einzuschlagen, ohne das Wirtschaftswachstum zu ersticken.
Dass man in den USA den Weg aus einer Rezession in der kräftigen Ankurbelung der Wirtschaft sieht, in einer Flutung des Marktes mit Liquidität – diese Haltung ist historisch bedingt. Das Trauma der Amerikaner ist die Depression der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da Trauma vor allem der Deutschen ist ein anderes: Sie haben die Auswirkungen der Hyperinflation in dieser Zeit im kollektiven Gedächtnis. Deshalb ist für sie die Stabilität des Geldes, eine harte Währung, so wichtig.
Dabei mögen sie manchmal etwas übereifrig sein: Zumindest hat Deutschland in den letzten Jahren immer unter der von der EZB für tragbar gehaltenen Preissteigerungsrate von unter, aber nahe zwei Prozent gelegen. Die Nachbarn in der Währungsunion sehen das aber nicht als hilfreich an, meint Gustav Horn:
"Diese niedrige Inflationsrate ist ja die Ursache auch dafür, dass wir die großen Außenhandelsüberschüsse haben, weil wir, wie das als Ökonomen nennen, gegenüber anderen Ländern real abgewertet haben, das heißt wir haben ständig unsere preisliche Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Das kann man mal machen, das kann man aber nicht ständig machen, wenn man in einer Währungsunion ist. Da muss man sich an Stabilitätskriterien halten, sonst bricht die Währungsunion auseinander."
Die aktuellen Schwierigkeiten in der Euro-Währungsunion jedenfalls sind auch durch Mentalitätsunterschiede bedingt. Die Währungsunion hat vor allem den südlichen Peripherieländern einen vorübergehenden Wohlstandszuwachs beschert. Ihre Wettbewerbsfähigkeit haben sie in dieser Zeit jedoch vernachlässigt. Daran müssen sie arbeiten, mahnt Allianz-Chefvolkswirt Heise:
"Das bedeutet insbesondere, dass man die Lohnentwicklung wieder in Einklang bringt mit der Produktivitätsentwicklung. Das ist in den letzten Jahren aus dem Ruder gelaufen, und dass man auch den Staat saniert, konsolidiert, damit der Staat wieder handlungsfähiger wird. Auch das trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei."
Deutschland, aber auch die anderen, stärkeren Länder im Euroraum aber müssen auf ihre Weise dabei helfen, mahnt Gustav Horn:
"In einem Binnenmarkt kann man sich nicht isolieren von den anderen. Das heißt, ob man will oder nicht, man muss gemeinsame Aktionen machen. Das heißt unter den gegenwärtigen Umständen für mich, dass man eine abgestimmte Finanzpolitik machen sollte. das heißt jene Länder, deren Verschuldung relativ hoch ist, die müssen auf einen Sparkurs gehen, sicherlich Griechenland, Spanien, Portugal. Aber jene Länder, die keine Probleme haben mit der Staatsverschuldung oder nur wenig, die müssen erst langsam folgen beim Ausstieg aus der Konjunkturstimulanz. Und dazu gehören eben Deutschland, die Niederlande, Österreich und auch Frankreich."
Kommt es nicht dazu, bleibt Deutschland die Exportnation Nummer eins in Europa. Dann bleibt Deutschland sicher auch dies: die Rolle als größter Nettozahler in der EU. Und die Rolle als größter Geldlieferant für Rettungspakete aller Art. Irgendwie müssen die Kunden der deutschen Wirtschaft ja an Geld kommen.
"Bei diesen hohen Zuwächsen wird uns im Verband, aber auch in den Unternehmen, natürlich schwindelig. Weil gestern noch tiefe Einbrüche, heute schon diese rasanten Anstiege. Das stellt die Unternehmen vor riesige Herausforderungen hinsichtlich ihrer Prozesse, hinsichtlich ihrer Organisation."
Es ist noch gar nicht so lange her, da versuchte die Industrie, mit Hilfe von Kurzarbeit den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern. Jetzt können die Aufträge gar nicht mehr schnell genug abgearbeitet werden. Die Folge: Überstunden und Urlaubssperre. Das Gleiche auch in der Autoindustrie. Daimler etwa hat gerade die Kurzarbeit in Sindelfingen beendet, seinem größten Pkw-Werk. Wegen der anziehenden Nachfrage gerade nach der gewinnträchtigen S-Klasse. BMW prüft, die Werksferien zu verkürzen. Zeitarbeiter werden engagiert, um die Stammbelegschaft zu ergänzen. Die Branche hat im ersten Halbjahr im Inland ihre Pkw-Produktion um 23 Prozent ausgeweitet. Die Pkw-Exporte schnellten um 44 Prozent nach oben. Deutsche Autos sind wieder gefragt. Vor allem im Ausland. Matthias Wissmann, der Präsident des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie, frohlockte bei der Vorlage der Halbjahresbilanz:
"Wir sehen eine Erholung auf wesentlichen internationalen Automobilmärkten, die deutlich schneller verläuft, als viele - auch wir - das noch Anfang des Jahres erwartet haben."
Doch die Exportnation Deutschland muss sich immer häufiger Kritik gefallen lassen. Deutschlands Stärke gehen zu stark zu Lasten seiner Handelspartner, heißt es. Einer der lautesten Kritiker: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dort wächst die Angst vor einer abermaligen Rezession. Die Industrie hat dort im Mai - zum ersten Mal seit neun Monaten – wieder weniger Aufträge bekommen. Der Auftragseingang sank um 1,3 Prozent. Auf dem Arbeitsmarkt sind im Juni 125.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.
Hinzu kommt, die Vereinigten Staaten leben seit Jahren über ihre Verhältnisse, führen mehr Waren ein als sie exportieren. Seit zehn Jahren schwankt das amerikanische Leistungsbilanzdefizit zwischen drei und gut fünf Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Deshalb reiste im Juni Präsident Obama mit der Forderung zum G20-Gipfel nach Toronto: Länder mit Außenhandelsüberschuss müssten Konsum und Binnennachfrage stärken. Namen nannte er keine. Doch allen war klar: Gemeint ist Deutschland. Und in Europa rügte die französische Finanzministerin Christine Lagarde die deutsche Exportmacht – kein Wunder: Ist der deutsche Außenhandelsüberschuss mit Frankreich doch der größte in der EU. Jährlich kaufen die Franzosen für 27, 28 Milliarden Euro mehr deutsche Waren ein als die Deutschen französische. Christine Lagarde will die Deutschen bewegen, dies zu ändern und appellierte dabei an den Geist der europäischen Verträge, den Geist des gegenseitigen Gebens und Nehmens:
"Ich werfe den Deutschen nicht Egoismus vor. Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren sehr angestrengt, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dabei stützen sie sich auf einen großen Motor: den Export. Aber in einer Krise muss sich jeder anstrengen, und diese Anstrengung muss geteilt werden, erst recht in einer solidarischen Wirtschaftsgemeinschaft. Deutschlands Beitrag könnte sein, selbst mehr zu konsumieren. Das würde uns helfen. Denn die Deutschen sind unsere wichtigsten Handelspartner."
Immerhin konnte Frau Lagarde damit klarstellen: Es gehe ihr nicht darum, die deutschen Exporte künstlich zu drosseln. Da wäre auch der deutsche Wirtschaftsminister vor. Rainer Brüderle hat immer noch den Verdacht, die Kritik an der deutschen Exportleistung sei eine Kritik an der Wettbewerbsfähigkeit, an Fleiß und Kreativität der Beschäftigten und der Unternehmen. Noch Ende Juni unterstellte er Kritikern, sie wollten die deutsche Regierung dazu bringen, Deutschlands Wettbewerbsposition künstlich zu verschlechtern.
"Nun gibt es einige, die stellen unser erfolgreiches Exportmodell infrage. Die sagen: Erhöht drastisch die Löhne. Macht noch mehr Konjunkturprogramme. Meine Damen und Herren! Das ist der falsche Weg. Das wäre eine Art schleichende Griechenlandisierung der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht."
Auch Ökonomen debattieren darüber, ob Deutschland zu stark auf den Export setzt und dabei die Binnenkonjunktur vernachlässige. Michael Heise, Chefvolkswirt der Allianz, gehört zu denen, die die zunächst als Fundamentalkritik herübergekommenen Vorwürfe der französischen Finanzministerin für nicht gerechtfertigt halten. Heise vergleicht beide Volkswirtschaften und macht einige Unterschiede deutlich:
"Der französische Export verläuft nicht ganz so stark wie der deutsche, aber im wesentlichen ist auch Frankreich eine Wirtschaftsmacht auf den globalen Märkten geworden, und insofern ist diese Kritik für mich nicht ganz verständlich gewesen. Solche Äußerungen helfen nicht, eben auch die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs weiter zu verbessern, auch darum muss es gehen. Und nicht den Wettbewerber zu kritisieren."
Heiner Flassbeck, Chefökonom bei der UNCTAD, der UN-Organisation für Handel und Entwicklung in Genf, hält die französische Vorgehensweise, die Löhne zu erhöhen, für sinnvoller:
"Wir haben eine extrem schwache Binnennachfrage, wir haben extrem schwache Investitionen im internationalen Vergleich. Vergleichen sie das mal mit Frankreich, das eine vernünftige Lohnpolitik gemacht hat. Konsum und Investitionen sind beide wesentlich höher als in Deutschland. Die Binnennachfrage ist ganz vernünftig gestiegen. Die Exporte sind auch gestiegen, aber nicht so explodiert wie in Deutschland. Da sind die Exporte explodiert. Und der Rest ist Katastrophe."
Doch ganz gerechtfertigt ist der Vorwurf nicht, Deutschlands Erfolg gehe auf Kosten der Nachbarn. Immerhin, so haben Ökonomen berechnet, fließen aus jedem Euro, den Deutschland im Export einnimmt, 45 Cent in den Import – von Zulieferungen aus dem Ausland. Ein Beispiel: Audi lässt sämtliche Motoren in Ungarn bauen. In jedem exportierten Audi steckt also ein gutes Stück Import.
Und klar ist auch, dass deutsche Exporterfolge oft nur so strahlen können, weil andere Fehler machen und dann in die Krise rutschen. Darauf weist der Darmstädter Volkswirt Volker Caspari hin. Deutschland müsse wegen seines Exports kein schlechtes Gewissen haben:
"Wenn wir Überschüsse produzieren und die als Ersparnisse dem Kapitalmarkt zur Verfügung stellen, also sprich: die Deutschen sparen, bringen es auf ihr Sparbuch und die Banken es wieder ausleihen können, heißt das ja nicht, dass man in anderen Ländern sich verschulden muss. Sondern das kann durchaus sein, dass in anderen Ländern dann Investitionsprojekte durchgeführt werden mit diesen Kapitalüberschüssen, die man in Deutschland produziert. Das ist ja für diese Länder ein Vorteil. Wenn die die natürlich in Projekte investieren, die anschließend platzen, dann ist es deren Problem. Also, wenn ich Häuser baue in Spanien, die anschließend nicht vermietet werden können, dann hat doch der deutsche Sparer daran keine Schuld, sondern der spanische Investor."
Dennoch wirkt Deutschland gelegentlich nicht ganz unschuldig an der Misere seiner Handelspartner. So verlangte die Bundesregierung quasi in einem Atemzug vom EU-Partner Griechenland, ein drastisches Sparprogramm aufzulegen. Und drang zugleich beim NATO-Partner Griechenland darauf, Rüstungsgüter aus Deutschland zu kaufen.
Das wirkt schizophren. Andererseits wollen deutsche Politik und deutsche Wirtschaft natürlich nicht auf Wettbewerbsvorteile verzichten, die sich dann ergeben, wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Dazu gehört, dass in Deutschland die Rente mit 67 Gesetz ist, während die Franzosen gegen ein Renteneintrittsalter von 62 Jahren auf die Straße gehen.
Ökonomen sind sich inzwischen auch weitgehend einig, dass Deutschland nicht gezwungen werden könne, seine Wettbewerbsposition zu verschlechtern und die Exportmengen zurückzufahren. So meint Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des IMK, des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung:
"Es geht nicht um Beschneidung der Exporte oder um Beschneidung der Qualität oder der Wettbewerbsfähigkeit. Das steht alles nicht zur Debatte. Zur Debatte steht, wie viel Deutschland importiert. Das Gleichgewicht in der deutschen Außenhandelsbilanz muss wieder dadurch hergestellt werden, dass wir mehr importieren, nicht dass wir mehr exportieren. Und dazu gehört natürlich eine wesentlich kräftigere Binnennachfrage als wir sie derzeit haben."
Denn zu bedenken bleibt auch: Je abhängiger eine Wirtschaft vom Export ist, umso abhängiger ist sie auch von der Weltkonjunktur. Kühlt die ab, bricht die Wirtschaft ein. Schon 2008 waren die Wachstumsimpulse nur aus dem Inland gekommen, der Export hatte sogar leicht gebremst, das Bruttoinlandsprodukt hatte da schon nur noch um 1,3 Prozent zugelegt. Im vergangenen Jahr war dann der Exporteinbruch um 15 Prozent maßgeblich für den Absturz der Gesamtwirtschaft um fünf Prozent verantwortlich.
Die Gretchenfrage ist deshalb: Wie schafft man es, die heimischen Unternehmen zum Investieren und die Verbraucher zum Konsumieren zu bewegen? Und das in einer Zeit, in der die Staaten weltweit hoch verschuldet sind? Muss man die Wirtschaft weiter stimulieren? Und wenn, wie lange? Wie lange kann der Staat sich das leisten? Ist die Schaffung von Arbeitsplätzen der richtige Weg? Oder erst einmal höhere Löhne?
Für Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung ist die Antwort eindeutig: Der Staat muss die Wirtschaft weiter anschieben:
"Wir haben bei den öffentlichen Investitionen einen ungeheuren Nachholbedarf. Wir sind das größere europäische Land, dass am wenigsten investiert. Wir machen nur noch halb so viel wie der Durchschnitt unserer westeuropäischen Partner. Das hat Konsequenzen für unsere öffentliche Infrastruktur, die zusehens verfällt. Wir könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir könnten eine bessere Infrastruktur bekommen. Und wir könnten die Stimulanz der Binnenkonjunktur erreichen."
Ihre Investitionen haben die Unternehmen in der Krise tatsächlich stark zurückgefahren. Das aber ist eine gefährliche Entwicklung, die sich Deutschland auf Dauer nicht leisten kann, meint Allianz-Chefvolkswirt Heise. Denn die deutsche Wirtschaft sei wie kaum eine andere abhängig davon, dass ihr Kapitalstock, also auch ihre Produktionsanlagen, hocheffizient blieben und die Qualifikation der Beschäftigten, in der Fachsprache der Volkswirtschaft das Humankapital, auf höchstem Niveau gehalten werden:
"Deswegen kommt alles darauf an, dass wir eben Humankapital und Sachkapital weiter massiv fördern. Wir stellen fest, dass die Investitionen eingebrochen sind in Deutschland, so wie in vielen Ländern auch im Zuge der Krise, aber das kann kein nachhaltiges Niveau sein. Unser Kapitalstock wächst in Deutschland nur noch sehr moderat, wenn man es gesamtwirtschaftlich sieht. In der Industrie dürfte er stagnieren. Das kann kein Rezept sein für ein hoch entwickeltes Land, das auf den globalen Märkten eine so enorme Position erlangt hat. Da ist es erforderlich, dass wir unseren Kapitalstock modernisieren und stärker erweitern als das jetzt zur Zeit passiert. Daher kommt sehr, sehr viel auf die Investitionsbedingungen an."
Hier geht es also um die Rahmenbedingungen, die dann vom Staat gesetzt werden müssen. Dazu zählen auch Investitionen in den Arbeitsmarkt. So hat die Verlängerung der Kurzarbeiterreglung im vergangenen Jahr den Arbeitsmarkt stabilisiert. Die Arbeitnehmer hatten ja auch durch ihre Lohnzurückhaltung zuvor maßgeblich dazu beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft in der Krise nicht noch weiter abgerutscht ist. Aber auf Lohndumping hätten sich die Arbeitnehmer nicht eingelassen, sagt Wolfgang Rhode, Vorstandsmitglied der IG Metall:
"Wir denken, dass die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Maschinenbaus auf einem technologischen Wettbewerbsvorsprung basiert. Wir können nicht feststellen, dass in irgendeiner Weise Wettbewerbsvorteile über Lohndumping oder Lohnmoderation geschehen ist, sondern das ist Wettbewerbsfähigkeit über Technologieführerschaft, wenn Sie so wollen."
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung empfiehlt den Arbeitnehmern aber auch weiterhin, sich bei ihren Lohnforderungen zurückzuhalten. Ökonom Horn hält das nicht für ein Allheilmittel:
"Ich finde es bemerkenswert, dass der Sachverständigenrat in jeder Situation Lohnzurückhaltung fordert. Er hat es in der Krise gefordert, er hat es im Aufschwung gefordert. Eigentlich fordert er es immer. Das kann nicht lange die richtige Lohnpolitik sein. Ich meine, dass über die Stimulanz der Binnenkonjunktur, wenn dann die Konjunktur gut läuft, eben auch deutlich stärkere Lohnerhöhungen drin sein müssen, sodass die Arbeitnehmer wieder mindestens proportional am Leistungsfortschritt der Volkswirtschaft beteiligt werden, dass wir also Löhne haben, die mit der Produktivität steigen und nicht dahinter zurückbleiben. Dann erst steigen ja auch die Einkommen signifikant. Und mit diesen stärkeren Einkommen haben wir dann eben auch die Binnenkonjunktur, die wir brauchen."
Dass mit steigenden Löhnen automatisch auch die Konsumneigung steigt, das ist in Deutschland nicht selbstverständlich. Denn Sparen ist eine deutsche Tugend: Im Schnitt legten die Deutschen im ersten Quartal dieses Jahres von 100 Euro 15,20 Euro zurück.
In den unteren Einkommensschichten bleibt zum Sparen ohnehin nichts übrig, das Geld fließt gleich in den Konsum. Wettbewerbsfähig bleiben, auch in der Lohnquote, um so mehr Beschäftigung und mehr Konsum zu schaffen – das ist deshalb der Ansatz des Bundeswirtschaftsministers. Rainer Brüderle.
Brüderle ist auch der Ansicht, mehr Binnennachfrage über höhere Investitionen verlange auch mehr Offenheit gegenüber neuen Technologien: Die seien in Deutschland so stark umstritten, dass die Unternehmen gezwungen seien, ins Ausland auszuweichen.
"Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland investieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein nach Rückwärts gerichtetes Denken schaden unserem Land. Die Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie oder der Gentechnik auflösen. Wer in Deutschland nicht investieren darf, wird quasi zum Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz."
Zudem wissen Ökonomen, dass ein Staat, der die Konjunktur mit viel Geld fördert, seinen Bürgern Angst machen kann: Angst vor öffentlicher Überschuldung. Die Folge: Die private Sparneigung steigt, die private Nachfrage erstickt. Michael Heise von der Allianz:
"Das ganze Thema Eurokrise, Staatsbankrotte im Euroraum, Überforderung des deutschen. Fiskus mit Rettungsprogrammen und ähnliches ist natürlich ein Thema, das auf dem Konsumenten lastet, ihn verunsichert und ihn veranlasst, eher ein bisschen mehr zur Seite zu legen. Ich hoffe, dass wir dieses Thema überwinden können. Dazu gehört meines Erachtens auch eine sinnvolle und mittelfristige Konsolidierung. Die wird wieder mehr Sicherheit schaffen, und dann wird auch die Sparquote im Zuge der Konjunkturerholung wieder etwas zurückgehen. Das würde dann auch helfen, um mehr Binnendynamik zu schaffen."
Auch deshalb also ist eine Rückführung der Staatsschulden angesagt. Das sehen die Vereinigten Staaten zwar anders und wollen die Wirtschaft noch länger mit mehr Geld stützen. Doch dafür haben die Bürger in Deutschland kein Verständnis, denn das würde auch bedeuten, die Staatsschulden weiter aufzublähen. Deshalb konnte sich der G20-Gipfel im kanadischen Toronto auch nur auf die vieldeutige Formulierung verständigen, einen ausbalancierten Sparkurs einzuschlagen, ohne das Wirtschaftswachstum zu ersticken.
Dass man in den USA den Weg aus einer Rezession in der kräftigen Ankurbelung der Wirtschaft sieht, in einer Flutung des Marktes mit Liquidität – diese Haltung ist historisch bedingt. Das Trauma der Amerikaner ist die Depression der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da Trauma vor allem der Deutschen ist ein anderes: Sie haben die Auswirkungen der Hyperinflation in dieser Zeit im kollektiven Gedächtnis. Deshalb ist für sie die Stabilität des Geldes, eine harte Währung, so wichtig.
Dabei mögen sie manchmal etwas übereifrig sein: Zumindest hat Deutschland in den letzten Jahren immer unter der von der EZB für tragbar gehaltenen Preissteigerungsrate von unter, aber nahe zwei Prozent gelegen. Die Nachbarn in der Währungsunion sehen das aber nicht als hilfreich an, meint Gustav Horn:
"Diese niedrige Inflationsrate ist ja die Ursache auch dafür, dass wir die großen Außenhandelsüberschüsse haben, weil wir, wie das als Ökonomen nennen, gegenüber anderen Ländern real abgewertet haben, das heißt wir haben ständig unsere preisliche Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Das kann man mal machen, das kann man aber nicht ständig machen, wenn man in einer Währungsunion ist. Da muss man sich an Stabilitätskriterien halten, sonst bricht die Währungsunion auseinander."
Die aktuellen Schwierigkeiten in der Euro-Währungsunion jedenfalls sind auch durch Mentalitätsunterschiede bedingt. Die Währungsunion hat vor allem den südlichen Peripherieländern einen vorübergehenden Wohlstandszuwachs beschert. Ihre Wettbewerbsfähigkeit haben sie in dieser Zeit jedoch vernachlässigt. Daran müssen sie arbeiten, mahnt Allianz-Chefvolkswirt Heise:
"Das bedeutet insbesondere, dass man die Lohnentwicklung wieder in Einklang bringt mit der Produktivitätsentwicklung. Das ist in den letzten Jahren aus dem Ruder gelaufen, und dass man auch den Staat saniert, konsolidiert, damit der Staat wieder handlungsfähiger wird. Auch das trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei."
Deutschland, aber auch die anderen, stärkeren Länder im Euroraum aber müssen auf ihre Weise dabei helfen, mahnt Gustav Horn:
"In einem Binnenmarkt kann man sich nicht isolieren von den anderen. Das heißt, ob man will oder nicht, man muss gemeinsame Aktionen machen. Das heißt unter den gegenwärtigen Umständen für mich, dass man eine abgestimmte Finanzpolitik machen sollte. das heißt jene Länder, deren Verschuldung relativ hoch ist, die müssen auf einen Sparkurs gehen, sicherlich Griechenland, Spanien, Portugal. Aber jene Länder, die keine Probleme haben mit der Staatsverschuldung oder nur wenig, die müssen erst langsam folgen beim Ausstieg aus der Konjunkturstimulanz. Und dazu gehören eben Deutschland, die Niederlande, Österreich und auch Frankreich."
Kommt es nicht dazu, bleibt Deutschland die Exportnation Nummer eins in Europa. Dann bleibt Deutschland sicher auch dies: die Rolle als größter Nettozahler in der EU. Und die Rolle als größter Geldlieferant für Rettungspakete aller Art. Irgendwie müssen die Kunden der deutschen Wirtschaft ja an Geld kommen.