"Das Spiel war hübsch, nett, ein bisschen philosophisch, auch ein bisschen kitschig-sensationell- kurz und gut, geschrieben zur Zerstreuung." – So lässig wischt ein Kritiker das Hörspiel "Radau um Kasperl" weg. Nachzulesen in einer Rundfunkzeitung, die die Herausgeber von Benjamins Rundfunkarbeiten ausgegraben und im Kommentarband abgedruckt haben. Nichts von Dauer, nichts von höherem Wert. Nur geschrieben zur Zerstreuung oder nebenbei zum Broterwerb, so der Tenor der Kritik. Tatsächlich war Walter Benjamin darauf angewiesen, Geld durch den Rundfunk zu verdienen. Vor allem bei der "Südwestdeutschen Rundfunk-A. G." in Frankfurt und bei der "Berliner Funkstunde". Es waren seine "einzig ernsthaften" finanziellen Bemühungen, wie er es selbst sagte. Die Frankfurter Universität hatte seine Habilitationsschrift abgewiesen, seine Scheidung war teuer und das väterliche Erbe durch die Inflation bereits 1923 verloren. "Geschrieben zur Zerstreuung" – was als Schmähung gemeint ist, ist in den Augen von Benjamin dagegen ein Lob und trifft genau seine Absicht.
"Der Hörer will Unterhaltung, keine quatschenden Universitätslehrer", propagierte Benjamin in einem seiner Rundfunkgespräche. Und er lieferte Klamauk:
Kasperl: (langsam) "45, das schreib ich mal auf, da fang ich mit einem V an."
Karusselmann: "Schreiben's doch ganz einfach 4 und 5."
Kasperl: "Ja, die 4, das hab ich doch mal gewusst, wie man 4 schreibt."
Karusselmann: "Bitte schön, ich schreib's Ihnen vor: Einen Strich von oben nach unten, noch einen von links nach rechts und zum Schluss noch einen von oben nach unten, macht 4."
Kasperl: "Macht drei."
Karusselmann: "Macht vier."
Karusselmann: "Wenn ich´s Ihnen doch sage, dass das eine Vier ist. Habt´s denn nichts in der Schule gelernt."
Kasperl: "Dös könnt Ihnen so passen, die Leut' frotzeln. Erst haben's gesagt einen Strich, dann sagens noch einen Strich und dann sagens zuletzt noch mal einen. Das macht drei. Und das werdens gleich sehen, wie das drei macht, (man hört den Knall von drei Backpfeifen) eine Watschn und noch eine Watschn. Dös macht drei Watschn. Dem hätten wir das Rechnen mal ausgetrieben."
Er lässt den Hörer hinter die Kulissen schauen
Ein Auszug aus Benjamins Hörspiel "Radau um Kasperl" - aufgenommen beim "Westdeutschen Rundfunk" in Köln 1932 und dort im Archiv aufbewahrt. Die einzige von etwa 80 Rundfunksendungen, bei denen Benjamin mitwirkte, und die bis jetzt in den Archiven gefunden wurde. Und auch die ist nur in einem Ausschnitt erhalten. Das ist Klamauk, das ist Zerstreuung und Komik und erinnert an Karl Valentin und auch an Bertolt Brecht, der bei Valentin Volkstümlichkeit gelernt hat. Und doch zeigt sich Benjamin mit diesem Hörspiel hintergründiger und auch hinterlistiger. Die Herausgeberin Anja Nowak erklärt das so:
"Kasperl, der eigentlich nur auf den Markt gehen wollte, um dort Fisch zu holen, trifft dort Herrn Maulschmidt. Und der hat großes Interesse, Kasperl zum Rundfunk zu bringen. Und wir als Hörer folgen dann Kaspar, der wirklich keine Ahnung hat, was der Rundfunk sein soll, in diesem Prozess, den Rundfunk kennenzulernen, was ist denn der Rundfunk. Er wird dann von Herrn Maulschmidt mit in die Sendeanstalt genommen, und da kommt es zu allen möglichen Missverständnissen, und dabei bekommt man auch als Hörer diesen Erkundungsprozess mit. Was ist das eigentlich, dieser Rundfunk, was macht das eigentlich. Es gibt eine Szene, da nähern sie sich dem Gebäude. Und Kasperl sagt dann, ah, hier sind dann die Leute, die Rundfunk hören müssen. Das ist seine Vorstellung von Rundfunk. Und das entwickelt, finde ich, Benjamin sehr schön an dieser Figur."
Walter Benjamin lässt den Hörer hinter die Kulissen schauen. Er zeigt, wie Rundfunk gemacht wird, worauf Rundfunk beruht oder beruhen sollte.
(Kasperl lässt langsam zunehmend Löwengebrüll ertönen)
(Die Stimmen der Verfolger) "Um Himmelswillen, er lässt den Löwen heraus! Rette sich wer kann! Zu Hilfe! Zu Hilfe!"
Nowak: "Und dieser Lärm spielt eine ganz zentrale Rolle. Da kommt Kasperl im Laufe der Geschichte immer wieder in chaotische Situationen, wo er selber einen Riesentumult auslöst. Dieser Lärm soll durchaus – nicht nur begleitend, illustrierend, sondern als eigenständige Komponente des Vortrags gehandhabt werden. Und da wird das Publikum herausgefordert, sich auszudeuten, was da grade passiert. Zumindest im Exposé ist angedeutet, dass es dann Rückmeldungen mit dem Rundfunk geben kann, was es da gehört hat."
Der Hörer soll mit einbezogen werden, meint die Herausgeberin Anja Nowak. Er soll raten und antworten. Er soll aufmerken, überlegen, urteilen, aktiv werden.
"Er stellt wie gesagt einen neuen und direkteren Bezug zum Publikum her. Und die Texte verändern sich dementsprechend. Und ich würde sogar sagen, dass Benjamin eingreift, gesellschaftlich, bis zu einem gewissen Grad. Man könnte sie als eine Übung für das Publikum lesen."
"Der Autor als Produzent" weist in die heutige Zeit
Benjamin geht es darum, den Willen auszubilden, die Welt zu verändern. Eine Absicht, die er auch in diesem Fall wieder mit Brecht verbindet, und mit seiner Geliebten Asja Lacis. Die lettische Kommunistin hat damals für und mit Kindern Theater gemacht, sie als Gleichberechtigte, als Sachverständige behandelt. Diese Querbezüge werden in dieser Kritischen Ausgabe vernachlässigt. Die Werke von Asja Lacis tauchen nicht einmal in der Bibliografie auf. Auch die Bedeutung der Rundfunkarbeiten für die weitere Entwicklung von Benjamin werden zu wenig durchleuchtet. Denn durch den Rundfunk wurde aus dem vergeistigten Intellektuellen ein Produzent. Seine Schrift "Der Autor als Produzent" verallgemeinert seinen eigenen Entwicklungsprozess und weist voraus in die heutige Zeit.
Der Autor, der für neuere Medien wie dem Rundfunk arbeitet, muss die Produktionsabläufe kennen und er gestaltet sie mit. Die Kunst selbst verändert sich. Sie verliert durch die weite Verbreitung in den Medien ihre Unnahbarkeit, ihre Einmaligkeit, oder wie Benjamin es ausdrückt, sie verliert ihre Aura. Die neue Kunst, das Radio und der Film, setzen nicht mehr den einsamen Betrachter voraus, sondern dienen der Zerstreuung der Massen. Da haben wir es das Wort der Schmach, "Zerstreuung". Benjamin benutzt es in seinem bis heute wegweisenden Aufsatz "Die Kunst im Zeitalter der Reproduzierbarkeit". Ohne seine Rundfunkarbeit hätte er diesen Text nicht schreiben können.
Beim Rundfunk durfte Benjamin über alles reden
Man muss es als großen Verdienst der beiden Herausgeber Anja Nowak und Thomas Küpper ansehen, dass sie in diesen zwei Bänden die gesamte Bandbreite der Rundfunkbeiträge von Benjamin versammelt und kommentiert haben – soweit sie auffindbar waren. Benjamin hat ja nicht nur Hörspiele für Kinder geschrieben. Er hat seinen großen Freiraum, der ihm beim Rundfunk zugestanden wurde, umfassend genutzt. Benjamin durfte über alles reden – ob es über die Arbeiter bei Borsig, über Räuber und Hexen war oder darüber, wie man seinen Chef bei der Forderung um Gehaltserhöhung über den Tisch zieht. Auch wie der politisch nicht gerade koschere Philosoph Ludwig Klages Handschriften deutete, war ihm einen Beitrag wert. Benjamin stellte schwierige Texte von Franz Kafka genauso spielerisch und kompetent vor wie Äußerungen im Berliner Dialekt, den er selbst beherrschte.
Und erst jetzt wird deutlich, dass es die Rundfunkarbeiten waren, die Benjamin zu seinen späteren Erzählbänden anregten, unter anderem zur "Berliner Chronik" und der "Berliner Kindheit".
1933 endete Walter Benjamins Arbeit für den Rundfunk. Im selben Jahr floh er ins Pariser Exil.
Benjamin, Walter: Rundfunkarbeiten. 2 Bände (650 und 944 Seiten). Herausgegeben von Thomas Küpper und Anja Nowak.
Band 9.1 und 9.2 der "Kritischen Gesamtausgabe" herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp 2017. Halbleinen. 98 Euro
Band 9.1 und 9.2 der "Kritischen Gesamtausgabe" herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp 2017. Halbleinen. 98 Euro