Christoph Schmitz: In der Reihe "Schriften des Bundesarchiv" gibt es jetzt eine Publikation mit geheimen Berichten von NS-Organisationen aus den Jahren 1933 bis 1945 über Aktivitäten und Organisationen der Juden in Deutschland, aber auch darüber, wie sich die nichtjüdische Bevölkerung gegenüber Juden und gegenüber deren Diskriminierung und Verfolgung verhält. Über 3.700 Dokumente sich auf eine CD-Rom versammelt. Für den Druck wurden über 750 Berichte ausgewählt. Herausgeber der Sammlung ist neben Otto Kulka der Historiker Eberhard Jäckel. Gab es, nach diesen Quellen zu urteilen, eine weit verbreitete Kenntnis der deutschen Bevölkerung über die Deportation und Ermordung der Juden?
Eberhard Jäckel: Die Ermordung der Juden war ja offiziell geheim, aber in diesen geheimen Stimmungsberichten finden wir immer wieder Kenntnisse, mehr von den Erschießungen als von den Vergiftungen, und was man sehr viel beobachten kann, ist Angst vor Repressalien. Die Leute sagen, als die sechste Armee in Stalingrad in Gefangenschaft geraten war, nun werden möglicherweise unsere Angehörige in sowjetischer Gefangenschaft so behandelt werden - so steht das dann wörtlich da -, wie wir die Juden behandelt haben.
Schmitz: Das heißt, die Deutschen haben vom Holocaust mehr gewusst als man bisher dachte?
Jäckel: Sie verallgemeinern mir jetzt etwas zu schnell. Die Deutschen, das können wir nicht sagen. Wir können nicht einmal sagen, wie viele. Wir können nur sagen, dass die Kenntnisse ziemlich weit verbreitet waren, und ich ziehe daraus den Schluss, sie waren verbreiteter als die Bevölkerung nach 1945 eingeräumt hat. Dann hatten sehr viele gesagt, auch hochgestellte Personen, sie hätten nie davon erfahren. Diese Legende kann man durch diese Stimmungsberichte wohl als widerlegt ansehen. Sehr viele haben sehr viel gewusst.
Schmitz: Ab wann haben denn mehr Deutsche viel gewusst, ab welchem Jahr etwa?
Jäckel: Ich rede jetzt vor allem von den Ermordungen, von dem Mord an den europäischen Juden, und der hat mit dem Beginn des Ostfeldzuges im Sommer 1941 eingesetzt. Vorher konnte man von diesen Dingen gar nicht sprechen, weil sie nicht stattgefunden hatten. Dann aber findet man schon im Juli und in weiteren Monaten des Sommers 1941 Hinweise darauf. Das ist auch verhältnismäßig leicht erklärlich, weil die ersten Ermordungen, Massenerschießungen im Freien waren, und viele deutsche Soldaten haben das gesehen. Einige haben in ihren Feldpostbriefen davon berichtet, das ist eher etwas seltener, aber sie haben bei ihren Heimaturlauben ihren Angehörigen davon erzählt und von da an hat sich die Erkenntnis in großen Teilen der Bevölkerung ausgebreitet.
Schmitz: Und was die Verfolgung und Diskriminierung der Juden in Deutschland vor 1939 angeht?
Jäckel: Ja, das war natürlich zum großen Teil öffentlich. Das war bekannt. Da gibt es eine Menge von Zustimmung in den Berichten, aber auch eine Menge von Missbilligung, zum Beispiel zu der so genannten Reichskristallnacht von 1938. Das ist eigentlich nichts Neues, das haben wir seit langem gewusst, das ist von der Bevölkerung, wie es dann so in den Berichten steht, teilweise nicht verstanden worden, zum Teil wegen der Verschwendung von Rohstoffen, aber auch mit dem Argument, Gotteshäuser verbrennt man nicht auf diese Weise.
Schmitz: Was erfährt man denn in diesen NS-Berichten vor allem über das konkrete Verhalten der nichtjüdischen Deutschen gegenüber der Verfolgung der Juden nach 1941, wie Sie es gerade beschrieben haben?
Jäckel: In den Berichten werden die Stimmungen und Meinungen wiedergegeben, nicht das konkrete Verhalten. Das konkrete Verhalten ist ja auch in einer Diktatur sehr eingeschränkt. Die konnten nicht demonstrieren. Die konnten auch nicht bei den öffentlichen Stellen protestieren. Was mir immer wieder auffällt, ist, diese Deutschen, die sich da äußern, waren nicht sehr eingeschüchtert. Sie äußern ihre Meinung, aber das ist es auch.
Schmitz: Muss denn eine bislang akzeptierte wissenschaftliche Ansicht revidiert werden oder zumindest etwas korrigiert werden?
Jäckel: Die wissenschaftliche Beschäftigung bekommt durch unser Werk - das, denke ich, darf ich in aller Bescheidenheit sagen - eine Grundlage, die sie bisher in diesem Umfang noch nicht gehabt hat. Es sind 3.744 verschiedene Berichte aus ungefähr zwölf Jahren, und die muss man nun interpretieren, die muss man auslegen. Die kann man auch übrigens mit Hilfe der beigelegten CD-Rom ziemlich leicht erschließen, indem man Stichworte eingibt usw. Professor Kulka und ich wollten der Forschung eine bessere Grundlage verschaffen, und auf dieser Grundlage müssen nun, sage ich mal, künftige Generationen von Historikern versuchen, ein besseres Bild von der Haltung der Bevölkerung in der Nazizeit zu gewinnen als es bisher da war.
Schmitz: Das heißt, diese Berichte werden jetzt zum ersten Mal publiziert?
Jäckel: Nicht alle. Ein ganz großer Teil war bisher unbekannt, zum Teil in den Archiven schon zugänglich. Wir haben aber auch ausdrücklich die schon veröffentlichten Berichte mit aufgenommen, damit ein Gesamtbestand entstehen konnte.
Schmitz: Muss denn jetzt das Verhältnis der Deutschen, sage ich trotzdem mal, zum, im und mit dem NS-Staat grundsätzlich noch einmal sorgfältiger bedacht werden?
Jäckel: Also das muss immer wieder sorgfältig bedacht werden, gerade wenn man bedenkt, welche Pauschalurteile in der Öffentlichkeit immer noch kursieren. Entweder das eine - das ist mehr bei den Älteren -, die haben nichts davon gewusst, oder das andere - das ist mehr bei den Jüngeren -, die haben doch alles genau gewusst. Jetzt kann man differenzierter, nuancierter an diese Frage herangehen.
Schmitz: Das war der Historiker Eberhard Jäckel.
Eberhard Jäckel: Die Ermordung der Juden war ja offiziell geheim, aber in diesen geheimen Stimmungsberichten finden wir immer wieder Kenntnisse, mehr von den Erschießungen als von den Vergiftungen, und was man sehr viel beobachten kann, ist Angst vor Repressalien. Die Leute sagen, als die sechste Armee in Stalingrad in Gefangenschaft geraten war, nun werden möglicherweise unsere Angehörige in sowjetischer Gefangenschaft so behandelt werden - so steht das dann wörtlich da -, wie wir die Juden behandelt haben.
Schmitz: Das heißt, die Deutschen haben vom Holocaust mehr gewusst als man bisher dachte?
Jäckel: Sie verallgemeinern mir jetzt etwas zu schnell. Die Deutschen, das können wir nicht sagen. Wir können nicht einmal sagen, wie viele. Wir können nur sagen, dass die Kenntnisse ziemlich weit verbreitet waren, und ich ziehe daraus den Schluss, sie waren verbreiteter als die Bevölkerung nach 1945 eingeräumt hat. Dann hatten sehr viele gesagt, auch hochgestellte Personen, sie hätten nie davon erfahren. Diese Legende kann man durch diese Stimmungsberichte wohl als widerlegt ansehen. Sehr viele haben sehr viel gewusst.
Schmitz: Ab wann haben denn mehr Deutsche viel gewusst, ab welchem Jahr etwa?
Jäckel: Ich rede jetzt vor allem von den Ermordungen, von dem Mord an den europäischen Juden, und der hat mit dem Beginn des Ostfeldzuges im Sommer 1941 eingesetzt. Vorher konnte man von diesen Dingen gar nicht sprechen, weil sie nicht stattgefunden hatten. Dann aber findet man schon im Juli und in weiteren Monaten des Sommers 1941 Hinweise darauf. Das ist auch verhältnismäßig leicht erklärlich, weil die ersten Ermordungen, Massenerschießungen im Freien waren, und viele deutsche Soldaten haben das gesehen. Einige haben in ihren Feldpostbriefen davon berichtet, das ist eher etwas seltener, aber sie haben bei ihren Heimaturlauben ihren Angehörigen davon erzählt und von da an hat sich die Erkenntnis in großen Teilen der Bevölkerung ausgebreitet.
Schmitz: Und was die Verfolgung und Diskriminierung der Juden in Deutschland vor 1939 angeht?
Jäckel: Ja, das war natürlich zum großen Teil öffentlich. Das war bekannt. Da gibt es eine Menge von Zustimmung in den Berichten, aber auch eine Menge von Missbilligung, zum Beispiel zu der so genannten Reichskristallnacht von 1938. Das ist eigentlich nichts Neues, das haben wir seit langem gewusst, das ist von der Bevölkerung, wie es dann so in den Berichten steht, teilweise nicht verstanden worden, zum Teil wegen der Verschwendung von Rohstoffen, aber auch mit dem Argument, Gotteshäuser verbrennt man nicht auf diese Weise.
Schmitz: Was erfährt man denn in diesen NS-Berichten vor allem über das konkrete Verhalten der nichtjüdischen Deutschen gegenüber der Verfolgung der Juden nach 1941, wie Sie es gerade beschrieben haben?
Jäckel: In den Berichten werden die Stimmungen und Meinungen wiedergegeben, nicht das konkrete Verhalten. Das konkrete Verhalten ist ja auch in einer Diktatur sehr eingeschränkt. Die konnten nicht demonstrieren. Die konnten auch nicht bei den öffentlichen Stellen protestieren. Was mir immer wieder auffällt, ist, diese Deutschen, die sich da äußern, waren nicht sehr eingeschüchtert. Sie äußern ihre Meinung, aber das ist es auch.
Schmitz: Muss denn eine bislang akzeptierte wissenschaftliche Ansicht revidiert werden oder zumindest etwas korrigiert werden?
Jäckel: Die wissenschaftliche Beschäftigung bekommt durch unser Werk - das, denke ich, darf ich in aller Bescheidenheit sagen - eine Grundlage, die sie bisher in diesem Umfang noch nicht gehabt hat. Es sind 3.744 verschiedene Berichte aus ungefähr zwölf Jahren, und die muss man nun interpretieren, die muss man auslegen. Die kann man auch übrigens mit Hilfe der beigelegten CD-Rom ziemlich leicht erschließen, indem man Stichworte eingibt usw. Professor Kulka und ich wollten der Forschung eine bessere Grundlage verschaffen, und auf dieser Grundlage müssen nun, sage ich mal, künftige Generationen von Historikern versuchen, ein besseres Bild von der Haltung der Bevölkerung in der Nazizeit zu gewinnen als es bisher da war.
Schmitz: Das heißt, diese Berichte werden jetzt zum ersten Mal publiziert?
Jäckel: Nicht alle. Ein ganz großer Teil war bisher unbekannt, zum Teil in den Archiven schon zugänglich. Wir haben aber auch ausdrücklich die schon veröffentlichten Berichte mit aufgenommen, damit ein Gesamtbestand entstehen konnte.
Schmitz: Muss denn jetzt das Verhältnis der Deutschen, sage ich trotzdem mal, zum, im und mit dem NS-Staat grundsätzlich noch einmal sorgfältiger bedacht werden?
Jäckel: Also das muss immer wieder sorgfältig bedacht werden, gerade wenn man bedenkt, welche Pauschalurteile in der Öffentlichkeit immer noch kursieren. Entweder das eine - das ist mehr bei den Älteren -, die haben nichts davon gewusst, oder das andere - das ist mehr bei den Jüngeren -, die haben doch alles genau gewusst. Jetzt kann man differenzierter, nuancierter an diese Frage herangehen.
Schmitz: Das war der Historiker Eberhard Jäckel.