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Weltbewusstsein

Der 1928 geborene mexikanische Romancier Carlos Fuentes war als Essayist bei uns bislang weniger bekannt. Jetzt erschien eine Sammlung essayistischer Bekenntnisse mit dem Titel "Woran ich glaube", 41 Texte, die nach dem spanischen Alphabet geordnet sind, von "Amistad - Freundschaft" bis "Zürich". Deshalb hat ihnen der Verlag einen Untertitel gegeben: "Alphabet des Lebens". Vor einigen Jahren erschien auf Deutsch das Projekt des italienischen Schriftstellers Goffredo Parise, es hieß "Alphabet der Gefühle". Zu Stichworten wie "Liebe", "Familie" oder "Langeweile", geordnet nach dem italienischen Alphabet, schrieb Parise gleichnishafte Erzählungen, deren Figuren und Schicksale das Leben als Ganzes einfangen. Fuentes hingegen hat sich in seinen Glaubensbekenntnissen an Montaignes berühmten Essays orientiert, jener enzyklopädischen Sammlung, in der sich Montaigne Gedanken über so unterschiedliche Dinge wie Reue und Ruhm oder Freundschaft und Frauen macht. Er untersucht Erfahrungen - die eigenen und die anderer. Ganz ähnlich geht Fuentes in seinem persönlichen Alphabet vor. Aber was ist Erfahrung überhaupt? Unter diesem Stichwort lesen wir:

Von Peter Urban-Halle |
    Die Erfahrung ist das Begehren, der Ehrgeiz oder das Vorhaben, sich in sich selbst, in der Welt, im Ich und in den anderen zu verwirklichen. Sie umfasst viel. Bringt sie deshalb wenig? Wer misst der Erfahrung nicht einen ungeheuren Wert zu, so dass sie fast zum Synonym des Lebens selbst wird: Liebe, Freundschaft, Arbeit, Schöpfung, Macht, Glück? Aber Erfahrung bedeutet auch Stolz, Scham, Ehrgeiz, Furcht. Und Lust. Und Hoffnung.

    Da sich Fuentes an Montaigne anlehnt und da mit Montaigne das Denken endgültig subjektiv geworden ist, muss natürlich - wie im Zitat schon angedeutet - auch die Frage nach dem Ich geklärt werden. Je mehr wir von diesen Bekenntnissen lesen, desto spannender und offensichtlicher werden Verwandtschaften und Korrespondenzen. Denn beim Ich kommt wieder die Welt ins Spiel. Zunächst aber muss das Ich laut Fuentes zur Person werden, sonst bleibt es ein Narziss, der in seinem Spiegelbild ertrinkt. Das Ich als Person aber ist, so Fuentes, "sich seiner selbst bewusst, weil es sich der Welt bewusst ist".

    Fuentes' Glaubensbekenntnisse bewegen sich in drei Sphären. Neben diesen philosophischen Artikeln, die unter den Stichwörtern "Erfahrung", "Ich" oder auch "Eifersucht" und "Familie" stehen, gibt es zunächst die politische Sorte, Stichwort: "Globalisierung", "Freiheit" oder "Bürgerliche Gesellschaft". Es sind ziemlich risikolose Texte, maßvoll links und derart demokratisch, dass sie - wie es in einer Kritik ganz richtig hieß - "an Anregungskraft schon wieder verlieren".

    Die dritte Sphäre ist die literarische. Schon Ende der sechziger Jahre veröffentlichte Fuentes literaturkritische Beiträge, die damals den neuen lateinamerikanischen Roman von Autoren wie Cortázar, García Márquez oder Vargas Llosa programmatisch begründeten. In dem neuen Buch schreibt er, nicht ganz überraschend, über Balzac, Faulkner oder Kafka, Dichter, die zusammen eine ideale Kunstfigur ergeben, einen Dichter-Golem, gewaltig, aber stumm. So wird man zunächst auch mit Floskeln abgespeist. Über die großen Romanciers der Welt heißt es zum Beispiel: "Was sie verbindet, ist Vorstellungskraft und Sprache" - wer hätte das gedacht? - oder über Balzac: "Er ist realistisch und zugleich phantastisch." Man muss ein wenig Geduld aufbringen, um dann endlich zu den geheimnisvolleren Reflexionen und überraschenderen Erkenntnissen zu gelangen.

    Am schönsten aber bleiben die philosophierenden Texte, da sind die Gedanken einfach freier. Wobei, sagt Fuentes, zum freien Denken und Schaffen eine Eigenschaft gehört, die man nicht unmittelbar damit verbindet, nämlich Disziplin.

    Es gibt in Bezug auf das kreative Ich keine festen Regeln. Wordsworth ist die Normalität selbst. Sein Freund Coleridge die Ausschweifung in Person. Baudelaire vereint Disziplin und Zügellosigkeit. Hugo schreibt darüber, wie man ein guter Großvater ist. Dickens ist zu seinem Bedauern ein häusliches Wesen, und Wilde bricht, vielleicht ebenfalls zu seinem Leidwesen, aus dem trauten Heim aus. Die Liste der Gegensätze ist unendlich, aber die Regel für Kreativität steht fest. Sie lautet Disziplin. Allein sein können. Das Ich in etwas zu projizieren, das die Person übersteigt.

    Dass Disziplin die Voraussetzung schöpferischer Arbeit ist, zeigt Fuentes anhand einer Szene aus Zürich, der Stadt, der ein eigener Artikel gewidmet ist. In Zürich beobachtet er 1950, gerade 21 Jahre alt, den 75jährigen Thomas Mann, der versunken einem schönen Tennisspieler nachschaut und von seiner Tochter mit sanfter Entschiedenheit zur Ordnung gerufen wird.

    ... zur Ordnung des Geistes, der Literatur, der künstlerischen Form, wo Thomas Mann der Herr und nicht nur das Spielzeug seiner Emotionen sein kann.

    Diese beiden Säulen tragen das Fuentes-Gebäude: Der kreative Mensch muss allein sein können, der soziale Mensch muss sich öffnen können, erst beide zusammen bilden den vollkommenen Menschen. Das Soziale scheint dem Dichter Fuentes sogar lebenswichtiger zu sein. Unter dem Stichwort "Frauen" stellt er nicht etwa seine Sammlung heißblütiger Geliebter vor - die finden wir unter dem Stichwort "Sex" -, sondern drei Frauen des Geistes, Opfer totalitärer Willkür, aber auch Ikonen des Widerstands: die deutsch-jüdische Philosophin und Nonne Edith Stein, die russische Dichterin Anna Achmatowa und schließlich die französisch-jüdische Philosophin Simone Weil. Deren Deutung von Homers "Ilias" hat Carlos Fuentes zu seiner entwaffnend naiven, aus lauter Negationen bestehenden Lebensmaxime gemacht: "Nichts ist vor dem Schicksal sicher. Bewundere nie die Macht, hasse den Feind nicht, und verachte nicht den Leidenden."

    Carlos Fuentes
    Woran ich glaube. Alphabet des Lebens
    Deutsche Verlags-Anstalt, 380 S., EUR 24,90